jetzt kommen die D-Days für die digitale Bildung. Die möglichen Koalitionspartner von SPD, Grünen und FDP sind zu vielem bereit – aber es beginnt mit einem Paukenschlag: Die wichtigste Frau der Sozialdemokratie in Sachen Bildung wird nicht mit am Verhandlungstisch sitzen. Das ist ein bisschen verrückt, weil Britta Ernst das Lernen für eine digitale Welt zur Priorität Nummer Eins ihrer Amtszeit als KMK-Präsidentin gemacht hat. Aber es ist vielleicht auch klug, dass die Frau des mutmaßlich künftigen Kanzlers nicht mit ihrem Mann über Digital-Milliarden verhandelt.
Wie kompliziert Koalitionsgespräche bei der digitalen Bildung werden können, zeigt sich an dem Wirbel um die mögliche Abschaffung der Schulbuchzulassung. Wir haben die digitalen Bildungsanbieter gefragt – die geradezu euphorisch sind. Sofie Czilwik berichtet darüber, wie Felicitas Thiel, die Co-Chefin der neuen Ständigen wissenschaftlichen Kommission der Kultusminister, über die Alternative denkt. Und wir werden mit dem Vorsitzenden des Verbands der Schulbuchverlage, Ilas Körner-Wellershaus, am Freitag darüber sprechen – dann ist Frankfurter Buchmesse. Endlich wieder live und mit Anfassen.
Die Kollegen Robert Schick und Enno Eidens und die Lehrerin Julia Hastädt aus Güstrow stellen Ihnen faszinierende digitale Tools vor. Viel Spaß!
Es mutet an, als hätte jemand einen Hochzeitstisch eingerichtet. Als sich die Kultusministerkonferenz (KMK) jüngst traf, tat sie nämlich etwas Überraschendes. Was sie seit zwei Jahren quasi geheim gehalten hatte, listete die KMK plötzlich auf: alle ihre bundesweiten digitalen Angebote stehen seit wenigen Tagen auf der Homepage der Kultusministerinnen und -minister. Ist das Zufall? Oder wurde hier etwa ein Schaufenster für den Bund eingerichtet – damit er sich heraussuchen kann, was er davon übernehmen will? Für die Bürger und die Lehrer hat das einen Vorteil. Sie erfahren endlich von Digital-Projekten, die zum Teil jahrelang in Schubladen schlummerten.
Dass die Koalitions-Verhandlungen zwischen SPD, Grünen und FDP zu einschneidenden Veränderungen führen, ist beinahe gewiss. Im Sondierungspapier heißt es: “Wir wollen Länder und Kommunen dauerhaft bei der Digitalisierung des Bildungswesens unterstützen (Digitalpakt 2.0).” Das bedeutet, es wird viel Geld vom Bund frei, um die Digitalisierung der Schulen weiter voranzutreiben. Es geht aber diesmal nicht nur darum, wie viele Milliarden von Berlin per Königsteiner Schlüssel über die Länder vergossen werden. Diesmal steht das föderale Gefüge insgesamt auf der Agenda.
Wenn etwa die FDP zum Leitwolf der Verhandlung wird, dann dürfte die Kulturhoheit der Länder große Verluste erleiden: Die digitale Bildung wird gewissermaßen an den Bund übergehen. “Wir fordern eine Reform des Bildungsföderalismus und eine Grundgesetzänderung”, haben die Liberalen in ihrem Wahlprogramm aufgeschrieben. “Wir leisten uns 16 verschiedene Schulsysteme, Lehrpläne und Prüfungsordnungen, stellen aber nicht sicher, dass die Schulbildung deutschlandweit die höchste Qualität hat.” So ähnlich steht das auch bei der SPD, den Grünen – und selbst die Union geht so weit wie nie. Wie berichtet, hat der Vorsitzende der Telekom-Stiftung, Thomas de Maizière, kürzlich eine große Staatsform vorgeschlagen. Er hat dabei deutlich gemacht, dass er nicht der einzige in der Union ist, der so denkt.
Das bedeutet: so nahe waren sich die Parteien noch nie in der Absicht, den Föderalismus fit für die digitale Bildung zu machen. Die Ampel und die Union könnten tatsächlich Einigung darüber erzielen, das Grundgesetz zu ändern. Der stärkste Bremser dürfte Winfried Kretschmann sein, der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg.
Die Frage ist dabei, welchen der Artikel des Grundgesetzes die Möchtegern-Koalitionäre umschreiben oder ergänzen wollen. Zur Verfügung stehen im Prinzip die Artikel 91c, 104b oder 104c. Alle drei befassen sich mit informationstechnischen Systemen beziehungsweise Bundes-Zuschüssen zu digitalen Aufgaben. “Der Bund kann den Ländern Finanzhilfen für gesamtstaatlich bedeutsame Investitionen sowie besondere, mit diesen unmittelbar verbundene, befristete Ausgaben der Länder und Gemeinden (Gemeindeverbände) zur Steigerung der Leistungsfähigkeit der kommunalen Bildungsinfrastruktur gewähren,” steht etwa in Artikel 104c. Streicht man hier “befristete” bei Ausgaben und ergänzt “insbesondere der digitalen” bei Bildungsinfrastruktur, dann hätte man schon eine passable Möglichkeit für einen dauerhaften Digitalpakt 2.0.
Aus den Reihen der Liberalen ist zu hören, dass die Möglichkeiten des Bundes, digital-verantwortliches Personal zu bezahlen, bisher nicht ausgeschöpft seien. Werde der Digitalpakt auf Dauer gestellt, würde das allerdings auch die Zurückhaltung der Schulträger lösen – und zu einem besseren Mittelabfluss führen. Wie berichtet, bewegt sich insbesondere bei den 500 Millionen Euro des Bundes für IT-Administrator:innen bislang noch kaum etwas.
Und dann gibt es noch besagten Hochzeitstisch der Länder. Auf dem liegen Aufgaben und Institutionen herum: der eduCheck digital (Siehe “Startups bejubeln“), das Portal berufliche Bildung, der digitale Schülerausweis namens “Vidis“, das länderübergreifende Portal Mundo und der dazugehörige Webcrawler Sodix, der aus dem Netz Lernmaterialien fischt und automatisiert in den virtuellen Lernmittel-“Bücherschrank” Mundo stellt. Alle diese Projekte werden vom Münchner Medieninstitut der Länder verwaltet, das damit die Hauptlast der digitalen Entwicklung stemmen soll – nur kennt bisher kaum eine Lehrkraft das Institut und seine Aufgaben. Das FWU könnte vom Bund übernommen oder so gefördert werden, dass es seine Projekte noch besser verfolgen kann. Insider fordern, dem “Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht” wenigstens zu helfen, exzellentes Personal am umkämpften Standort München bezahlen zu können.
Die Liste der Kultusminister hat aber einen Schönheitsfehler: Fast alles, was dort aufgezählt ist, bezahlt der Bund ohnehin schon. Für einen dauerhaften Digitalpakt 2.0 reicht es also nicht, Geld bereitzustellen. Es geht um Strukturen – und “dafür brauchen wir irgendwann auch die Union,” ist aus Verhandlungskreisen zu hören. Christian Füller
Es gibt auf Youtube ein Video, in dem Steve Jobs 2007 seinen Anhängern das erste iPhone präsentiert. Er steht auf der Bühne in dunkler Kleidung und schreitet vor einer riesigen Leinwand auf und ab. Darauf erscheint nach und nach: Macintosh, iPod und schließlich das iPhone. Die Genese eines Kommunikationstools, das die Welt verändern wird. Der Auftritt wirkt wie eine Zaubershow und das, was Jobs seinen Konsumenten verkaufen will, vergleicht er selbst auch mit Magie: Ein Smartphone, das seine User intuitiv verstehen, das schick aussieht und glänzt. Jeder Klick endet dort, wo der Nutzer es intendiert. Das “User-Interface”, sagt Jobs, habe er “revolutioniert”.
Felicitas Thiel beschäftigt sich 14 Jahre später mit den Auswirkungen von dem, was Jobs damals ins Rollen brachte: Einer Technik, die sofort beherrschbar ist, eine Software, die für ihre Benutzer denkt. “Beim Lernen kommt es aber nicht auf die Oberflächenstruktur an,” sagt sie, “sondern auf die Tiefenstruktur.” Sprich: Hat die eingesetzte Technik einen Lerneffekt – oder sieht sie nur gut aus? Felicitas Thiel ist Professorin an der Freien Universität Berlin. Die Erziehungswissenschaftlerin unterrichtet Pädagogik und forscht zu Schul- und Klassenmanagement. Seit Mai 2021 ist sie Vorsitzende der Ständigen wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK), die die Länder dabei berät und unterstützt, Bildung in Deutschland weiterzuentwickeln.
Die Digitalisierung ist eine der größten Herausforderungen für das Bildungssystem. Was muss in Schulen über Technik und Software gelehrt werden, aber vor allem: Wie kann Technik und Software das Lernen fördern? Das sind die zentralen Fragen, auf die bisher jede Schule, jede Lehrkraft eigene Antworten findet. Denn: Der Markt für Lernapps, Lernplattformen und Lernvideos ist so schnell gewachsen, kaum jemand hat einen Überblick, was welche Anwendung kann. Und weil die Lehrerinnen und Lehrer in Deutschland immer noch fürs Unterrichten ausgebildet und bezahlt werden, nehmen sich nur die Engagierten und Interessierten Zeit, sich in neue digitale Anwendungen einzuarbeiten und sie für ihren Unterricht zu beurteilen. Hilft mir die App bei der Vermittlung meines Lernstoffs? Und wenn ja, wie? Thiel glaubt, wenn jede Lehrkraft diese Fragen selbst beurteilen muss, sei das ein Problem.
Der Einsatz etwa von Virtual Reality klinge erstmal toll. Doch wenn es nur darum ginge, eine Erfahrung aus der materiellen Welt in die virtuelle Welt zu übersetzen, sei erstmal nichts gewonnen. “Wir müssen den Schülern Kompetenzen vermitteln, wie zu abstrahieren oder zu schlussfolgern”, sagt Felicitas Thiel. Ihrer Ansicht nach sei nicht die Virtual-Reality-Erfahrung an sich entscheidend, sondern wie eine solche Erfahrung zum verstehenden Lernen beitrage.
Damit digitale Anwendungen nicht Zweck an sich, sondern ein Mittel für kognitive Entwicklung sind, plädiert Felicitas Thiel für eine Orientierung auf dem immer unübersichtlicher werdenden Feld. Sie will Standards, die als Gütesiegel digitale Anwendungen bewerten und auszeichnen. Ein solches Siegel sollte, so Thiel, von Experten vergeben werden: von Lernpsychologen, Medienpsychologen, Pädagogen, aber auch von Produktentwicklern und Datenschützern.
“Ein Zertifizierungssystem unterstützt die Lehrenden dabei, gute Entscheidungen über den Erwerb und den Einsatz von digitalen Technologien treffen zu können,” sagt Felicitas Thiel. Und nicht nur das. Es würde auch Anreize schaffen, für Schulbuchverlage, mit Produktentwicklern an neuen digitalen Tools für den Unterricht zu kooperieren. Gerade vor dem Hintergrund des Bekenntnisses zur Fortsetzung des Digitalpakts in den gegenwärtigen Sondierungsgesprächen sollte, so Thiel, ein Zertifizierungsverfahren für digitale Tools an den Schulen debattiert werden.
Als Vorbild, findet Thiel, könnte eine Organisation aus den USA dienen. Digital Promise arbeitet seit 2011 zusammen mit Wissenschaftlern, Unternehmen und Schulen, um die Digitalisierung des Bildungssystems zu begleiten. Digital Promise hat auch ein Label, mit dem Lernanwendungen zertifiziert werden. Eine zentrale Stelle, die entscheidet, was im Klassenzimmer zum Einsatz kommt? Gefährdet das nicht den in der Verfassung festgeschriebenen Bildungsföderalismus? Eine Zertifizierungsstelle würde diesen nicht aushebeln, glaubt Felicitas Thiel, denn letzten Endes entscheide die Lehrkraft, ob sie ein zertifiziertes Tool im Unterricht einsetzen möchte oder nicht. Das System könnte auf Freiwilligkeit basieren. Entwickler dürften nicht verpflichtet werden, ihre Produkte zertifizieren zu müssen und für Lehrkräfte dürfte es keine Anweisung geben, nur zertifizierte Anwendungen zu verwenden. Die Gütesiegel dienten dazu, die Lehrerinnen und Lehrer sowie die Schulleitungen darin zu orientieren, was ein Tool kann und wozu es taugt.
Zumindest, das glaubt Felicitas Thiel, würde sich eine Debatte darüber lohnen, ob die nächste Bundesregierung solch ein Zertifizierungssystem einführen sollte. Was sind die Vor- und Nachteile? Wer soll zertifizieren? Eine an die Ministerien angedockte Stelle? Das Bildungsministerium selbst? Eine unabhängige Organisation? Eine lose Initiative? Es wäre eine Debatte, die sich nicht nur um Technik dreht oder darüber, wie viele Laptops welche Schule bekommt und ob die Updates auf den Tablets funktionieren. Sondern eine, die inhaltlich geführt wird, über den Sinn und Zweck von digitalen Tools für die Schule und für die Gesellschaft.
Den Anfang macht Felicitas Thiel. Sie schlägt vor, dass ein Zertifizierungsverfahren drei Kategorien abdecken soll: Entspricht das Tool erstens unseren Bildungsstandards? Gibt es zweitens Daten darüber, die evaluieren, wie das Tool wirkt? Und drittens: Erfüllt es das, was Steve Jobs für sich beansprucht revolutioniert zu haben – hat es ein verständliches User-Interface? Also, ist es nutzerfreundlich? Sofie Czilwik
Die Reaktion auf das von Thomas de Maizière ausgerufene Ende der Schulbuchzulassung ist unter Bildungsdigitalisten einhellig: Endlich spricht es einer aus, so kann es nicht weitergehen mit der Schulbuchzulassung. Das ist der Tenor bei Startups und Bildungsinstitutionen. Selbst Michael Frost, Geschäftsführer des FWU-Medieninstituts der Bundesländer, stimmt zu. “Die klassische Begutachtung der Lernmittel wird man nicht durchhalten können,” so der heimliche Star unter den Bildungsdigitalisierern. “Ob es für jedes Lernmittel oder Lernwerkzeug im digitalen Zeitalter überhaupt logistisch möglich ist, alle Lernmittelangebote und Tools zu prüfen, ist zu bezweifeln.”
Der Streit, um den es geht, bezieht sich allerdings nicht nur auf die Menge von Lernmaterial. Es geht um Marktanteile. Bislang profitieren die analogen Inhalteanbieter, weil sie über die Schulbuchzulassung von der Lernmittelfreiheit profitieren. Der Staat nimmt einer Handvoll Schulbuchverlagen ihre Produkte ab. Die Schulbuchzulassung organisiert also de facto ein Monopol gedruckter Lehr- und Lernwerke. Digitale Bildungsanbieter berichten, dass sie von diesem Markt seit Jahren künstlich ferngehalten werden.
Aus den Reihen der Startups war denn auch durchgehend Erleichterung zu hören. “Die jetzigen Zulassungsprozesse für traditionelle Bildungsmedien in einigen Bundesländern sind in ihrer derzeitigen Form für digitale Bildungsmedien unpassend,” sagte Arndt Kwiatkowski, der Gründer von Bettermarks.
Geradezu euphorisch äußerte sich Daniel Bialecki, ehemals Geschäftsführer von Scoyo und heute Berater. “Ich bin überrascht und begeistert. Denn diese Forderung weist endlich in eine moderne und konstruktive Zukunft,” schrieb Bialecki über de Mazières Abgesang auf das Schulbuch. Die Aufhebung der Schulbuchzulassung werde das System völlig verändern. “Diese Praxis quasi vom Kopf auf die Füße zu stellen, indem wir den Schulen die Entscheidungsbefugnis und -autonomie geben, halte ich für einen zentralen Schlüssel zu echter Bewegung und Entwicklung.” Jacob Chammon, Leiter des Forum Bildung Digitalisierung, hat dafür ein Beispiel – Dänemark: “Dort gibt es keine staatliche Prüfung oder Zertifizierung von Lehrmaterial von Seiten des Staates. Hier sind die Schulen und den Kommunen für die Einkäufe zuständig – und damit auch die Qualitätssicherung.”
Kritische Stimmen kamen, wie zu erwarten, vor allem aus den Reihen der Schulbuchverleger. Sie wollen an der Schulbuchzulassung festhalten. Christoph Pienkoß vom Verband der Bildungsmedien sagte, worum es dabei geht. Schulbuchzulassungen seien wichtig – “sie liefern Transparenz, welche Medien aus öffentlichen Budgets finanziert werden können.” David Klett hingegen, der einen Teil des großen Klett-Verlags leitet, warf de Maizière vor, die Zulassungsrealität in Deutschland falsch zu beschreiben. Er habe “großen Quatsch” erzählt: “An Zulassungsverfahren kann man sich stören, aber sie zum Hemmschuh für die Digitalisierung aufzubauschen, lenkt nur ab von den eigentlichen Problemen.”
Freilich bestätigt die Praxis der wichtigsten Bildungsländer de Maizière’s Aussagen. “Das Monopol staatlicher Zulassung von Lehrmitteln und Bildungsinhalten ist gefallen”, hatte der Vorsitzende der Telekom-Stiftung gesagt. Das habe mit der Flut an digitalen Bildungsangeboten zu tun. “Die Bildungsverwaltungen werden das akzeptieren müssen”, sagte de Maizière. Sonst drohe eine “endlose Bürokratie“.
Dass das stimmt, zeigt eine Umfrage von Bildung.Table zur aktuellen Praxis. Bayern und Nordrhein-Westfalen, die für circa ein Drittel der deutschen Schülerschaft stehen, insistieren, alle wichtigen Inhalte für die Schule behördlich zu genehmigen. “In Bayern werden nur solche Schulbücher sowie dazugehörige Arbeitshefte und Arbeitsblätter für den Unterricht zugelassen, die Konformität zu den geltenden Lehrplänen aufweisen”, sagte ein Sprecher des Bayerischen Bildungsministers, Michael Piazolo (Freie Wähler). Ein Sprecher der NRW-Bildungsministerin Yvonne Gebauer (FDP) verwies auf die Vorschrift: “Der Erlass besagt, dass Lernmittel an Schulen dann eingeführt werden dürfen, wenn sie zugelassen sind.”
Die Zulassung ist in der Bundesrepublik nicht einheitlich geregelt. Eine Handvoll Länder verzichtet inzwischen darauf, aber die große Mehrheit besteht auf der Genehmigung durch die Kultus-Bürokratie. Zu behaupten, das sei eine vernachlässigbare Praxis, ist falsch. Daran ändert sich auch nichts durch die Haltung einzelner Länder. Aus Sachsen war zu hören, dass das Bundesland darauf verzichtet, Schulbücher zuzulassen. “Es ist sinnvoll, eine große Eigenverantwortung in die Schulen zu geben,” sagte eine Sprecherin. Lehrer seien so gut ausgebildet, dass sie selbst entscheiden könnten, welches Lehrwerk sie benutzen wollten. Im Übrigen sei es gar nicht möglich, alle digitalen Inhaltsträger aus dem Netz zu bewerten, die pädagogischen Zwecken dienten. “Bei dieser Frage geht es doch schon los: Wo ziehe ich die Grenze? Was im Netz ist kein Lernmaterial? Ich halte es nicht für leistbar, das alles zu prüfen.”
Lena Spak, Mit-Gründerin des Lernmanagementsystems Scobees, freute sich über die Ermächtigung für die Schulen. “Nutzer:innen und Expert:innen wie Lehrer:innen oder Schulleiter:innen können am besten beurteilen, ob es sich um gutes, zukunftsweisendes Material handelt oder nicht.” Eine Überreglementierung helfe niemanden.
Auch Max Maendler, der Gründer von Eduki, dem früheren Lehrermarktplatz, erkennt einen Sinn darin, die Schulbuchzulassung abzuschaffen – im Kleinen wie im Großen. “Im Kleinen, weil die Lehrer ja schon heute millionenfach Lernmittel jenseits der offiziell sanktionierten Werke einsetzen. Und im Großen, weil es ein Schritt in Richtung eines Schulsystems ist, in dem mehr Freiheit vor Ort und weniger ängstliche Kontrolle in Schulaufsicht und Kultusministerien herrschen.”
Freilich würde auch eine Abschaffung der Schulbuchzulassung nicht dafür sorgen, dass alle Kontrollen wegfallen. Beispiel Sachsen: Dort wurde die Abteilung für Schulbuchzulassung im “Landesamt für Schule und Bildung” in Radebeul nicht etwa aufgelöst. Jeder, der Anstoß an einem Schulbuch nimmt, könne sich an die zuständige Stelle wenden. Sie unterziehe analoge wie digitale Bildungsinhalte dann einer Kontrolle – auf Antrag und ex post.
Selbst in der Digitalszene will man auf eine Überprüfung nicht ganz verzichten. Digitale Medien sollten künftig “einer angepassten Qualitätssicherung unterliegen: Zum einen in einer technischen Dimension, wie z.B. der DSGVO-Konformität”, sagte Gründer Arndt Kwiatkowski. “Zum anderen bezüglich der Wirksamkeit zur Verbesserung des Unterrichts in den jeweiligen Fächern, Klassenstufen und Schultypen.”
Auch Michael Frost vom FWU findet, dass es “rechtliche und technische Kriterien geben muss, wie Bildungsmedien (datenschutz-)rechtskonform und technisch standardisiert eingesetzt werden können.” Und Frost hat dafür auch bereits einen neuen Auftrag in der Tasche. Die Länder haben die FWU mit dem Projekt “educheck digital” beauftragt. In dem Projekt, das auf drei Jahre angelegt ist, soll ein gemeinsames Prüfverfahren für digitale Bildungsmedien entwickelt werden.
Filme über die Schule gibt es in Deutschland viele, meist sind es Karikaturen. Der verlängerte Arm des Stammtischs reicht diese Schulklamotten bis in die Filmtheater und Wohnzimmer durch. Kassengold im Kino, Katzengold für die Gesellschaft.
Anders in anderen europäischen Ländern. In Frankreich locken Filme wie das Meisterwerk “Sein und Haben”, “Die Klasse” oder “Die Schüler der Madame Anne” die Menschen in die Kinos. Auch in der dänischen Serie “Rita” (Netflix) geht man der Schule mit ernsthafter Leichtigkeit auf den Grund. “Herr Bachmann und seine Klasse” gehört in diese Reihe, es ist ein Film, der nicht nur den Deutschen Filmpreis gewonnen hat, sondern auch mich, einen kritischen Schulleiter.
Regisseurin Maria Speth bringt uns nach Stadtallendorf, eine hessische Kleinstadt in der Nähe von Marburg mit 21.000 Einwohnern. Hier formt der ehemalige Steinmetz Bachmann junge Menschen, ein Prometheus in der Provinz. Speth reißt für uns die Dunstdecke über Stadtallendorf auf. Ein Melting-Pot von Menschen verschiedenster Herkunft, aus Kasachstan, Rumänien und Marokko. Die Gesamtschule ist in Wahrheit die Unterschichtsfabrik der nordhessischen Industriestadt. So, wie es viele Regelschulen in unserem geteilten Schulwesen sind. Dieter Bachmann, Lehrer an der Georg-Büchner-Gesamtschule, ist kein klassischer Unterrichtsbeamter. Ein Typ, der jeden Schulleiter zur Verzweiflung bringt. Unter den strengen Augen des Fachleiters eines Landesinstituts für schulische Qualitätsentwicklung wäre er mit den gezeigten Stunden wohl durchgefallen. Irrelevant darüber zu spekulieren, da es nichts bedeutet.
Einst war er selbst losgezogen, als “Knabe, der Disteln köpft“, hatte Soziologie studiert, dann aber doch auf Lehramt umgeschwenkt, sich als Gymnasiallehrer verdingt, um seine Familie zu ernähren. Dann zehn Jahre als Steinmetz und Bildhauer. Er schlug Figuren aus Holz und Stein, jetzt aus Fleisch und Blut. Warum es ihn als Endvierziger vor 17 Jahren nach Stadtallendorf verschlägt, bleibt unaufgeklärt. Was er im NDR-Interview sagt, ist, dass er sich in diese unvollendete Stadt und ihre Menschen verliebt hat.
Wir werden regelrecht hineingesogen in nur scheinbar lang anmutende 217 Kinominuten. In seinen Fragen an die Schülerinnen und Schüler entdeckt Bachmann immer Neues – auch an sich selbst. Er schenkt ihnen Wertschätzung bei völligem Abhandensein von, pädagogisch gesprochen, Defizitorientierung. Er gibt alles, selbst seine geliebte Gitarre. “Die Kinder haben mich vor dem Tod gerettet”, sagt er.
Bachmann wird zum Lernermöglicher. Er gibt seinen Schülerinnen und Schülern Zeit für ihre Entwicklung. So chaotisch und komplex wie unsere Welt ist sein Klassenraum, wo er jeder und jedem Raum finden lässt. Ihnen eine Stimme verleiht, egal, ob sie nun zehn Monate oder zehn Jahre in Deutschland leben. Und wo Worte nicht helfen, schafft es die Musik. Er ist ihnen nah, manchmal sehr nah in Umarmungen. Vielleicht versucht Bachmann, etwas zu kompensieren. Bei der Weihnachtsfeier kreuzen nicht viele Eltern auf. Man kann nicht einfach weg aus der Schicht im Stahlwerk. In dieser Welt gibt es kein früher Schluss, kein Homeoffice.
“Herr Bachmann und seine Klasse” ist der richtige Titel. Lehrer Bachmann ist zu Hause in seiner Klasse. In Habitus, Sprache und Herzlichkeit gehört er zu den Menschen. Da wird mit Dönern in Mathematik gerechnet, im Deutschunterricht darf Til Eulenspiegel “Arschlecken” fluchen. In radikaler Offenheit erzählt er den Kindern vom eigenen Scheitern, seiner Kindheit mit trinkenden Eltern. In einfacher Sprache erklärt er ihnen Leben. Dazu braucht er keine Lehrpläne, Lehrbücher, digitalen Firlefanz oder Tafelbilder. Er weckt die inneren Bilder der Kinder. Bachmann kennt die Ängste und Sorgen dieser Familien, deren Arbeitswelt so weit weg ist von New Work, wie Stadtallendorf von New York. Diese Welt ist hart, eine fast undurchdringbare Stahldecke. Klassischer Klassismus.
Klassismus ist wie Gift. Er ist das Glyphosat, das Wachstum verhindert und unser gesellschaftliches Ökosystem zerstört. Dieses alte System der Gleichförmigkeit, das uns Regisseurin Speth am Fließband in den Fritz-Winter-Werken Stadtallendorfs zeigt. Auch Biontechgründer Uğur Şahin hatte eine Hauptschulempfehlung, nur eines von millionenfachen Fehlurteilen und Vergehen an unserer Gesellschaft. Sobo Swobodniks gleichzeitig angelaufener Film “Klassenkampf” zeigt es auf andere Art, aber es geht immer um das gleiche: Unterteilen, Sortieren und Bewerten – sei es durch Noten oder die Schullaufbahnempfehlung. Die Regie verzichtet bewusst auf das Zeigen von Schulkonferenzen, man benötigt aber keine Fantasie, um zu wissen, wie Bachmann dort argumentieren wird. “Zeugnisse und Noten sind nur Momentaufnahmen“, beschwört er seine Schützlinge. “Sie sagen gar nichts über Euch aus.”
Nicht nur bildlich gibt Bachmann den Kindern Hammer und Meißel in die Hand. Mit Dialogen meißeln sie an ihrer Formfindung. Die Worte lassen harte Jungs verletzlich und unsichere Mädchen selbstbewusst werden. Rabia will Innenarchitektin werden – und ist es bei sich selbst bereits. Ihre Mutter wird Bachmann am Ende folgen, die er anfleht, Rabia den Realschulabschluss machen zu lassen. Die Mutter traute es ihr nicht zu.
Es wird die Gretchenfrage genauso gestellt, genau wie immer wieder nach den Lebensplänen der Kinder, auch wenn Stefi ungläubig fragt: “Zukunft, was ist das?” Es gibt auch irritierende Momente, etwa die Diskussionen über Sex und Homosexualität. Bachmann ist da ganz klar. Aber auch er setzt den Meißel schon mal zu schräg an, wenn er die religiöse Ferhan dazu zwingt, in ihrer Familie nachzufragen, was der Koran zur gleichgeschlechtlichen Liebe sagt. Ein Dilemma für das Mädchen, das ihm vertraut. Prometheus ist eben auch nur ein Halbgott. Und die Halbgötter der Beziehung haben manchmal öfter ein Problem mit Nähe und Distanz. Wer den Sortiercharakter von Schule durch Zugewandtheit bekämpfen will, gerät leicht in die Zwickmühle.
Das Feuilleton und die Kritik haben Maria Speths Film gefeiert. Es ist ein Lehrstück über den guten Menschen Bachmann. Er ist Symbol für Schule als Hoffnungsort. Der Rückschluss aber, für sich selbst oder die eigenen Kinder so einen Lehrer zu wünschen, zeigt den Kitsch von uns Mittelschichtselbstgerechten. Statt Tränen der Rührung über Herrn “Bachmann und seine Klasse” zu vergießen; anstatt darauf zu hoffen, dass diese ehrlichen Kinder unsere Gesellschaft retten, sollten wir, die Bürger endlich politisch werden. Den Prometheus in uns entdecken – und endlich viele gute Schulen bauen. Gert Mengel
Kialo ist eine Plattform, die Schülerinnen und Schülern weltweit die Möglichkeit geben soll, sich online friedlich an Diskussionen zu beteiligen. Die Nutzer sollen lernen, konstruktiv zu diskutieren und zwischen Pro- und Contra-Argumenten abzuwägen. Auf der seit 2012 bestehenden Website kann man sowohl eigene Debatten starten als auch bereits aktiven Diskussionen beitreten und weitere Argumente hinzufügen. Man kann auch bereits veröffentlichte Aspekte kommentieren.
Da Lehrkräfte einige für den Unterricht ungeeignete Tools an der Website Kialo kritisierten, ergänzten die Macher Kialo um die Variante Kialo Edu. Bei der für Lehrende konzipierten Plattform gibt es verschiedene Möglichkeiten, diese sinnvoll zu nutzen. Schriftliche Aufgaben wie Analysen oder Essays lassen sich über Kialo Edu gut anordnen. Es wird ein grundlegendes Format angeboten, um vor dem Verfassen von Texten eine Struktur und einen Schreibplan zu erstellen. Auch kleine Vorträge können mit kurzen inhaltlichen Zusammenfassungen digital unterlegt werden. Bei allen angebotenen Tools können nur diejenigen auf die Inhalte zugreifen, denen der Ersteller die Erlaubnis erteilte. Dadurch kann die Lehrkraft die Diskussion in kleinere Teilgruppen aufteilen, um jeden Schüler mit einzubeziehen. Die Darstellung der Argumente erfolgt wie auf Kialo.com mithilfe eines Baumdiagramms, das die Darstellung übersichtlicher machen soll.
Das Prinzip der Website ist klar und einleuchtend. Doch bei Betrachtung der Baumdiagramme und Teilnahme an den Diskussionen fällt schnell auf, dass noch einiges am Design aufzuholen ist. Im öffentlichen Diskussionstool finden sich teilweise Tausende von Kommentaren, weshalb es sich für neue User schwierig gestalten kann, die Überblick zu behalten. Auch das Verbreiten von Fakenews kann nicht verhindert werden, wenn jeder die Möglichkeit hat, seine Argumente zu formulieren. Dies sei jedoch gleichzeitig förderlich für eine Diskussion, an der vielen Menschen teilnehmen, sagte Errikos Pitsos, der Gründer von Kialo, gegenüber Bildung.Table. “So beginnen die anderen Teilnehmer, auf diese News einzugehen, und vielleicht findet ein Umdenken beim Verfasser statt”, hofft Pitsos. Außerdem sei diese Problematik bei Kialo Edu nicht mehr vorhanden, da das öffentliche Debattieren wegfalle, und die Lehrkräfte sehen können, von wem welches Argument kommt.
Das oftmals kritisierte Auslassen und Verkürzen von Informationen bleibt jedoch auch auf Kialo Edu ein Kritikpunkt. Durch die digitalen Diskussionen wird zumeist versucht, sich kurz und schlagfertig auszudrücken. Das mag von Vorteil sein, um die anderen Teilnehmer:innen zu überzeugen. Es löst aber nicht das häufig in den sozialen Netzwerken auftretende Problem der Polarisierung durch kurze, knappe Kommentare. Dadurch ist es anfällig für den in den sozialen Netzwerken erkennbaren Trend zu Extremen, bei denen es nur ein richtig oder falsch gibt. Dass dies auch bei Kialo zum Problem wird, hält Pitsos jedoch für unrealistisch, da mehrheitlich auf einer sachlichen und informativen Ebene diskutiert werde.
Dennoch liefert Kialo Edu einige für Lehrkräfte sinnvolle Tools und Möglichkeiten, vor allem, wenn es darum geht, den Schülerinnen und Schülern das kritische Denken und Diskutieren beizubringen. Robert Schick
Spielerisch in der Arbeitszeit Digitalkompetenzen erwerben – das will Talent Digital mit der gleichnamigen Software ermöglichen. Die Spielenden klicken sich durch eine Büro-Simulation, müssen einfache und komplexe Aufgaben erledigen und bekommen am Ende eine personalisierte Auswertung. Die bekommt der Chef nie zu sehen! Auf Organisationsebene (dem Dashboard) wird allerdings tiefgreifend ausgewertet, wie es in der ganzen Firma um Digitalkompetenzen steht. Auf diesen Erkenntnissen basierend bietet die Software dann weiterführende Ressourcen an. Ein Algorithmus erkennt, welche Inhalte für welche Wissenslücke oder welchen Fortbildungsbedarf passen. So können gezielt Digitalkompetenzen nach DigComp entwickelt werden. Denn darum geht es in dem Serious Game wirklich. “Digitales Empowerment” heißt das bei Talent Digital.
Das Lernspiel für Erwachsene ist ansprechend umgesetzt und funktioniert tadellos. Die Spielenden tauchen in den Arbeitsalltag eines Projektmitarbeiters ein. Sie machen Termine, verschicken Dokumente, wählen Software aus und so weiter. Die Aufgaben werden immer anspruchsvoller. Dabei lernen sie Nützliches, zum Beispiel über Datensicherheit und kooperatives Arbeiten mit moderner Software. In den späteren Kapiteln werden die Themen deutlich anspruchsvoller. Wer die stets lachenden Kollegen-Avatare aushalten kann, erlebt eine gute Simulation, die nah am modernen Arbeitsalltag mit digitalen Werkzeugen ist. Besonders spannend ist die objektive Auswertung aller Spielenden. Der CEO von Talent Digital, Roman Rüdiger, sagt, dass eine Organisation nach sechs absolvierten Kapiteln einen sehr guten Einblick in die digitalen Kompetenzen seiner Teams hat. Hier setzen dann die weiterführenden Qualifikationen ein, die tiefergehendes Schulen der Mitarbeitenden ermöglichen.
Gegenwärtig benutzen das Spiel unter anderem Jobcenter und Firmen für die digitale Fortbildung ihrer Mitarbeitenden. Grundsätzlich kann das Serious-Game-Konzept von Talent Digital auch auf schulische Ausbildungsformen und anderen Lerninhalt angewandt werden. Roman Rüdiger stört an der Schule besonders, dass die Beurteilung von Leistung hier individuell – ein Lehrer beurteilt seine Schüler – stattfindet. Er findet objektive Leistungsmessungen großartig und würde diese gerne automatisiert erhoben sehen. Die spannende Frage wäre: Könnte man mit Serious Games auch Kompetenzen von Schüler:innen in Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen messen? Besonders interessant findet Roman Rüdiger den datenanalytischen Ansatz, der trotz Anonymisierung wertvolle Erkenntnisse über Bedürfnisse von Schülern liefert. So können Lehrer beispielsweise herausfinden, welche Zusammenhänge es zwischen Standort, Geschlecht, Alter und dem Leistungsstand gibt. Rüdiger wünscht sich, dass generell mehr datenanalytische Verfahren im Bildungsbereich eingesetzt werden. Enno Eidens
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Digitaler Fernunterricht, Schulschließungen und Maskenpflicht für kleine Kinder – Corona belastet Schulkinder immens. Der Leiter der “Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie” der Ludwig-Maximilians-Universität in München, Gerd Schulte-Körne, berichtete dem Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverband (BLLV) von Jugendlichen, die der digitale Fernunterricht unter Stress setzte – und von Schülern, die von Schulschließungen sogar profitierten. Eine neue Art Patienten werde in den Kliniken vorstellig.
Die hohe Zahl der Kinder und Jugendlichen, deren Zustand sich verschlechterte, führt Schulte-Körne vor allem auf eins zurück: Es gibt einen Zuwachs an Patienten, die sich normalerweise “sicherlich nie an uns gewandt” hätten. Damit sind Jugendliche aus Familien gemeint, die über “relativ viele Ressourcen” verfügen, wie Gerd Schulte-Körne es nennt. Es handelt sich also nicht um Kinder aus Haushalten, die bereits mit anderen Herausforderungen konfrontiert sind – sei es die Muttersprache der Eltern oder deren geringes Einkommen. Nicht alle von diesen Neuzugängen seien erkrankt. Aber, so mahnt der Psychologe: Es müsse nun geschaut werden, dass sich aus Belastungen keine Krankheiten entwickeln. Als besonders schlimm empfindet der Psychologe, dass Erkrankte teilweise abgewiesen werden mussten, da die Klinik “schon in der normalen Versorgung immer bei 100 Prozent Auslastung” war.
Schulte-Körne sprach auf Einladung des BLLV mit Lehrer:innen. Der Psychologe sagte, das Problem für die Jugendlichen sei, dass die Pandemie so lange gedauert habe und sie mehrere Phasen hatte – “und die totale Unsicherheit über die Situation.” Das habe erkennbar dazu beigetragen, dass die Zahl der belasteten Schülerinnen und Schüler von 20 auf 30 Prozent gestiegen sei. Es litten aber nicht alle Schüler:innen unter Schulschließungen und digitalem Fernunterricht. Es gebe auch Jugendliche, die Angst vor sozialen Interaktionen hätten und sich zu Hause wohlgefühlt hätten. Der Direktor der Kinderpsychiatrie der LMU warnte davor, jetzt zu viel Augenmerk auf das Schließen von Lernlücken zu richten. Auf die Frage, was die Kinder und Jugendlichen jetzt brauchten, sagte Gerd Schulte-Körne: “weniger Leistungsforderungen und mehr Zeit zur Entwicklung.” Robert Saar
Das “Bundesweite Bündnis für Luftfilter” (BBL), ein Zusammenschluss mehrerer Initiativen, kritisiert die Beschlüsse der Kultusminister von Potsdam scharf. Das Bündnis fordert einen Bildungsgipfel mit Bund, Ländern und Kommunen, der ein “realistisches Konzept für Pandemiesicherheit” beschließen soll. Dazu gehöre unbedingt auch der flächendeckende Einsatz von Luftfiltern in Schulen und Kitas. Die Situation des Kyffhäuserkreis in Thüringen scheint ihnen recht zu geben. Dort gehen die Inzidenzen durch die Decke.
Das Bündnis gründete sich vergangene Woche und setzt sich aus mehreren Gruppierungen zusammen: die Initiativen “Bildungsgerechtigkeit und Gesundheitsschutz in der Pandemie“, #ProtectTheKids und “Luftfilter in alle Klassenzimmer”; die Elterninitiativen Raumluftfilter NRW und Sichere Schule MTK; der Regionalelternbeirat Trier. Gemeinsam hat das Bündnis laut eigenen Angaben knapp 107.000 Unterschriften gesammelt. Neben Eltern und Lehrkräften vertritt das BBL auch andere Professionen, die Bildungsarbeit leisten.
Ende September trafen sich Vertreter jetziger BBL-Mitglieder mit KMK-Generalsekretär Udo Michallik (CDU), überreichten Unterschriften – und bekamen die Zusicherung, das Thema Luftfilter stehe bei der KMK-Tagung auf der Agenda. Bereits im Sommer hatten Initiativen mit dem Sammeln von Unterschriften begonnen. Die sorglose Rückkehr vom digital gestützten Fernunterricht in die Präsenz hat einen Teil der Eltern aufgebracht. Getan habe sich seitdem wenig, beklagt die Initiative. Stefan Hemler, Organisator und Lehrer, sagte Bildung.Table: “Es ist ein bedauerlicher Zustand, wie die KMK mit Covid-19 umgeht. Das entspricht dem allgemeinen Narrativ, dass Covid für Kinder ungefährlich wäre. Wir vertreten die Ansicht, dass es wichtig ist, Neuinfektionen zu verhindern.” Angesichts der Spätfolgen und den, wenn auch seltenen, schweren Verläufen bei Kindern eine Sorge, die viele Eltern teilen.
Wie ein Beleg für die These, die Kultusminister behandelten das Thema Corona nicht angemessen, wirkt die Situation in Thüringen. Im Kyffhäuserkreis liegt die Inzidenz der 10- bis 19-Jährigen derzeit bei über 1000. Kreisdirektor Ulrich Thiele berichtet von drei Superspreader-Ereignissen, die alle von Kindern in Schulen oder außerhalb von Schulen begannen – und sich dann über die Klassen weiter verbreiteten. Im Kyffhäuserkreis gab es an Schulen zeitweise weder Test- noch Maskenpflicht und es sind nur wenige Schulkinder geimpft – ein Viertel der 12- bis 17-Jährigen in Thüringen, das auch bei den Erwachsenen nur eine 50-Prozent-Impfquote erreicht. Im betroffenen Kreis, wo Schüler:innen die Infektionen in zahlreiche Haushalte trugen, wurde an den Schulen nun wieder eine Maskenpflicht eingeführt. Von Luftfiltern ist dort keine Rede – genauso wenig, wie im Beschluss der letzten KMK. Robert Saar
Den Vorteil sehe ich vor allem darin, dass ich mit Tweedback meine gesamte Klasse, alle Schülerinnen und Schüler, in sehr kurzer Zeit zunächst anonym mit ihren Positionen und Statements in den Unterricht einbeziehen kann – auch in Debatten. Würde man gleich offen mit Handabstimmung arbeiten, würde einige Schüler:innen ihre Meinung nicht äußern. Beispiel: Soll das Tempolimit von 130 km/h eingeführt werden, ja oder nein? Eine kurze Abstimmung digital und anonym über das Quiz-Tool von Tweedback – und wir haben das Ergebnis sofort. Schnell kann man darüber sprechen, was die Schüler:innen bewegt hat, dieses oder jenes anzukreuzen. Würde man mit einem offenen Votum arbeiten, hätte man bei vielen Themen das Phänomen des Konformitätsdrucks: Wer meldet sich als erstes, wer gehört zu der Clique dazu, traue ich mich eine andere Position einzunehmen? Mit anonymen Voten hingegen öffnet man die Gruppe – und hat sehr schnell gute Gespräche.
Eine weitere Funktion ist die sogenannte Chatwall. Die nutze ich vor allem, um inhaltliche Statements, Thesen, Argumente, Positionierungen in schriftlichem Kontext in kurzen Zeilen sozusagen zu erfassen. Das bedeutet, auch dort kann man sammeln und hat ganz viele Argumente von Schülerinnen und Schülern. ALLE bringen sich ein mit ihren Positionen und nicht nur die vier oder fünf Schüler:innen, die sich aktiv immer selbst melden oder andere, die man anspricht und die sich vielleicht sonst gar nicht trauen, etwas zu sagen. Und so kann man dann aus einer Vielfalt von Argumenten verschiedene Sachen als Lehrkraft aufgreifen, die man diskutiert – und zwar ohne dass die Schülerinnen und Schüler, ohne dass die Lehrkraft weiß, wer diesen Impuls eigentlich gegeben hat.
Das Instrument ist webbasiert und datenschutzkonform. Das heißt, die einzige Voraussetzung besteht im Grunde im Internetzugang und darin, ob die Schüler:innen ein digitales Endgerät haben, egal ob Smartphone, Tablet oder Laptop. Man kann allerdings zur Unterrichtsvorbereitung ein, zwei Tage vorher den Link einer Umfrage zur Abstimmung freigeben. Dann können die Schüler:innen von zu Hause aus antworten – und man kann mit dem Ergebnis die Stunde beginnen.
Tweedback lässt sich in Präsenz, aber auch im Distanzunterricht verwenden, um anonym Debatten anzustoßen. Ich habe zum Beispiel als Sozialkundelehrerin in Vorbereitung auf die Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern mit nicht wahlberechtigten Schülerinnen und Schülern eine Probewahl veranstaltet. Über die entsprechende Quiz-Funktion hat die Klasse die Erst- und Zweitstimme abgegeben. Dann haben wir geschaut, wer würde als Direktkandidat gewählt, wie viele Prozente erringen die jeweiligen Parteien bei den Zweitstimmen usw. Das heißt, mit dem Instrument kann man sehr gut eine praktische Ausgangslage herstellen, um dann vertieft in die fachwissenschaftliche Auseinandersetzung zu gehen.
Digitale Medien sollten nur eingesetzt werden, wenn es didaktisch und pädagogisch sinnvoll ist. An diesem Tool kann man sehen, wie vielfältig die Möglichkeiten sein können – und wie viel sich erreichen lässt, wenn man eine Methode genauer kennenlernt. Ein Beispiel aus dem Sozialkundeunterricht: Wir haben Ferdinand von Schirachs “Terror – Ihr Urteil” als Grundlage genommen, um in der Klasse zu diskutieren, ob man 164 Menschen töten darf, um 70.000 zu retten. Die Schüler:innen waren überrascht von dem Ergebnis. Dann hat die Klasse versucht, sich dazu zu positionieren. Im weiteren Verlauf haben sich die Lernenden mit den einschlägigen Paragrafen auseinandergesetzt. Wir haben auch mit Szenen aus dem Film gearbeitet. Am Ende unserer Diskussion hat die Klasse noch einmal anonym über die Frage abgestimmt. – Man kann mit dem Instrument aber auch ganz viel basteln. Wir haben darüber zum Beispiel in Zeiten von Corona eine datenschutzkonforme Anmeldung für eine Zeugnisausgabe organisiert – mit allen nötigen Informationen.
Es gibt eine Funktion von Tweedback, die man kritisch sehen kann. Um an einer Umfrage teilzunehmen, füllt man eine vierstellige ID aus. Vertippt man sich bei diesen vier Zeichen, kann es sein, dass man in einer Session in einem ganz anderen Teil Deutschlands landet. Dennoch bin ich überzeugt: Tweedback ist ein unterschätztes digitales Instrument für anonyme Debatten im Unterricht.
Julia Hastädt unterrichtet Sozialkunde und Geschichte am John-Brinckman-Gymnasium in Güstrow und twittert als @Medien_Lehrerin
21. Oktober, 12:45 bis 13:30 Uhr
Forum: Digitale Bildungsmedien
Vom 20. bis 24. Oktober findet das Forum Bildung statt, bei dem Expert:innen Antworten auf zentrale Fragen der Bildungspolitik geben wollen. Dr. Lutz Hasse, der Thüringer Landesbeauftragten für Datenschutz und die Informationsfreiheit und Frank Thalhofer, Vorstandsmitglied des Verbandes Bildungsmedien. Infos & Anmeldung
22. Oktober, 14:30 bis 15:15 Uhr
Podium: DigitalPakt Schule und (k)ein Ende?
Im Forum Bildung diskutiert Dr. Ilas Körner-Wellershaus, der Vorsitzende des Verbandes Bildungsmedien, mit Bildung.Table-Redaktionsleiter Christian Füller über den beschlossenen Digitalpakt und dessen Bedeutung für die Zukunft. Infos & Anmeldung
04. – 05. November
Online-Messe: educon 2021
In verschiedenen Workshops und anderen Formaten können sich Bildungsprofis über zukünftige Veränderungen und Konzepte zur Digitalisierung austauschen. Dazu werden unter anderem Expert:innen und Entscheider:innen befragt und Debatten geöffnet. Infos & Anmeldung
06. November, 10:00 bis 17:00 Uhr
Tagung: Initiative Neues Lernen Event
Bei dem von der Initiative Neues Lernen organisierten Workshop soll das Schulsystem verbessert und weiterentwickelt werden. Das Event ist in Präsenz in Berlin geplant. Infos & Anmeldung
9. November 17:00 bis 18:15 Uhr
Talk: eTwinning – Das Netzwerk für Schulen in Europa
Falko Stolp, Schulleiter und aktiv auf der Plattform und Anna Goudinoudi stellen “eTwinning”, ein Netzwerk zur digitalen Gestaltung des Unterrichts vor. Dieses soll sowohl Lehrkäfte fortbilden können als auch die Motivation der Schüler:innen steigern. Infos & Anmeldung
jetzt kommen die D-Days für die digitale Bildung. Die möglichen Koalitionspartner von SPD, Grünen und FDP sind zu vielem bereit – aber es beginnt mit einem Paukenschlag: Die wichtigste Frau der Sozialdemokratie in Sachen Bildung wird nicht mit am Verhandlungstisch sitzen. Das ist ein bisschen verrückt, weil Britta Ernst das Lernen für eine digitale Welt zur Priorität Nummer Eins ihrer Amtszeit als KMK-Präsidentin gemacht hat. Aber es ist vielleicht auch klug, dass die Frau des mutmaßlich künftigen Kanzlers nicht mit ihrem Mann über Digital-Milliarden verhandelt.
Wie kompliziert Koalitionsgespräche bei der digitalen Bildung werden können, zeigt sich an dem Wirbel um die mögliche Abschaffung der Schulbuchzulassung. Wir haben die digitalen Bildungsanbieter gefragt – die geradezu euphorisch sind. Sofie Czilwik berichtet darüber, wie Felicitas Thiel, die Co-Chefin der neuen Ständigen wissenschaftlichen Kommission der Kultusminister, über die Alternative denkt. Und wir werden mit dem Vorsitzenden des Verbands der Schulbuchverlage, Ilas Körner-Wellershaus, am Freitag darüber sprechen – dann ist Frankfurter Buchmesse. Endlich wieder live und mit Anfassen.
Die Kollegen Robert Schick und Enno Eidens und die Lehrerin Julia Hastädt aus Güstrow stellen Ihnen faszinierende digitale Tools vor. Viel Spaß!
Es mutet an, als hätte jemand einen Hochzeitstisch eingerichtet. Als sich die Kultusministerkonferenz (KMK) jüngst traf, tat sie nämlich etwas Überraschendes. Was sie seit zwei Jahren quasi geheim gehalten hatte, listete die KMK plötzlich auf: alle ihre bundesweiten digitalen Angebote stehen seit wenigen Tagen auf der Homepage der Kultusministerinnen und -minister. Ist das Zufall? Oder wurde hier etwa ein Schaufenster für den Bund eingerichtet – damit er sich heraussuchen kann, was er davon übernehmen will? Für die Bürger und die Lehrer hat das einen Vorteil. Sie erfahren endlich von Digital-Projekten, die zum Teil jahrelang in Schubladen schlummerten.
Dass die Koalitions-Verhandlungen zwischen SPD, Grünen und FDP zu einschneidenden Veränderungen führen, ist beinahe gewiss. Im Sondierungspapier heißt es: “Wir wollen Länder und Kommunen dauerhaft bei der Digitalisierung des Bildungswesens unterstützen (Digitalpakt 2.0).” Das bedeutet, es wird viel Geld vom Bund frei, um die Digitalisierung der Schulen weiter voranzutreiben. Es geht aber diesmal nicht nur darum, wie viele Milliarden von Berlin per Königsteiner Schlüssel über die Länder vergossen werden. Diesmal steht das föderale Gefüge insgesamt auf der Agenda.
Wenn etwa die FDP zum Leitwolf der Verhandlung wird, dann dürfte die Kulturhoheit der Länder große Verluste erleiden: Die digitale Bildung wird gewissermaßen an den Bund übergehen. “Wir fordern eine Reform des Bildungsföderalismus und eine Grundgesetzänderung”, haben die Liberalen in ihrem Wahlprogramm aufgeschrieben. “Wir leisten uns 16 verschiedene Schulsysteme, Lehrpläne und Prüfungsordnungen, stellen aber nicht sicher, dass die Schulbildung deutschlandweit die höchste Qualität hat.” So ähnlich steht das auch bei der SPD, den Grünen – und selbst die Union geht so weit wie nie. Wie berichtet, hat der Vorsitzende der Telekom-Stiftung, Thomas de Maizière, kürzlich eine große Staatsform vorgeschlagen. Er hat dabei deutlich gemacht, dass er nicht der einzige in der Union ist, der so denkt.
Das bedeutet: so nahe waren sich die Parteien noch nie in der Absicht, den Föderalismus fit für die digitale Bildung zu machen. Die Ampel und die Union könnten tatsächlich Einigung darüber erzielen, das Grundgesetz zu ändern. Der stärkste Bremser dürfte Winfried Kretschmann sein, der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg.
Die Frage ist dabei, welchen der Artikel des Grundgesetzes die Möchtegern-Koalitionäre umschreiben oder ergänzen wollen. Zur Verfügung stehen im Prinzip die Artikel 91c, 104b oder 104c. Alle drei befassen sich mit informationstechnischen Systemen beziehungsweise Bundes-Zuschüssen zu digitalen Aufgaben. “Der Bund kann den Ländern Finanzhilfen für gesamtstaatlich bedeutsame Investitionen sowie besondere, mit diesen unmittelbar verbundene, befristete Ausgaben der Länder und Gemeinden (Gemeindeverbände) zur Steigerung der Leistungsfähigkeit der kommunalen Bildungsinfrastruktur gewähren,” steht etwa in Artikel 104c. Streicht man hier “befristete” bei Ausgaben und ergänzt “insbesondere der digitalen” bei Bildungsinfrastruktur, dann hätte man schon eine passable Möglichkeit für einen dauerhaften Digitalpakt 2.0.
Aus den Reihen der Liberalen ist zu hören, dass die Möglichkeiten des Bundes, digital-verantwortliches Personal zu bezahlen, bisher nicht ausgeschöpft seien. Werde der Digitalpakt auf Dauer gestellt, würde das allerdings auch die Zurückhaltung der Schulträger lösen – und zu einem besseren Mittelabfluss führen. Wie berichtet, bewegt sich insbesondere bei den 500 Millionen Euro des Bundes für IT-Administrator:innen bislang noch kaum etwas.
Und dann gibt es noch besagten Hochzeitstisch der Länder. Auf dem liegen Aufgaben und Institutionen herum: der eduCheck digital (Siehe “Startups bejubeln“), das Portal berufliche Bildung, der digitale Schülerausweis namens “Vidis“, das länderübergreifende Portal Mundo und der dazugehörige Webcrawler Sodix, der aus dem Netz Lernmaterialien fischt und automatisiert in den virtuellen Lernmittel-“Bücherschrank” Mundo stellt. Alle diese Projekte werden vom Münchner Medieninstitut der Länder verwaltet, das damit die Hauptlast der digitalen Entwicklung stemmen soll – nur kennt bisher kaum eine Lehrkraft das Institut und seine Aufgaben. Das FWU könnte vom Bund übernommen oder so gefördert werden, dass es seine Projekte noch besser verfolgen kann. Insider fordern, dem “Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht” wenigstens zu helfen, exzellentes Personal am umkämpften Standort München bezahlen zu können.
Die Liste der Kultusminister hat aber einen Schönheitsfehler: Fast alles, was dort aufgezählt ist, bezahlt der Bund ohnehin schon. Für einen dauerhaften Digitalpakt 2.0 reicht es also nicht, Geld bereitzustellen. Es geht um Strukturen – und “dafür brauchen wir irgendwann auch die Union,” ist aus Verhandlungskreisen zu hören. Christian Füller
Es gibt auf Youtube ein Video, in dem Steve Jobs 2007 seinen Anhängern das erste iPhone präsentiert. Er steht auf der Bühne in dunkler Kleidung und schreitet vor einer riesigen Leinwand auf und ab. Darauf erscheint nach und nach: Macintosh, iPod und schließlich das iPhone. Die Genese eines Kommunikationstools, das die Welt verändern wird. Der Auftritt wirkt wie eine Zaubershow und das, was Jobs seinen Konsumenten verkaufen will, vergleicht er selbst auch mit Magie: Ein Smartphone, das seine User intuitiv verstehen, das schick aussieht und glänzt. Jeder Klick endet dort, wo der Nutzer es intendiert. Das “User-Interface”, sagt Jobs, habe er “revolutioniert”.
Felicitas Thiel beschäftigt sich 14 Jahre später mit den Auswirkungen von dem, was Jobs damals ins Rollen brachte: Einer Technik, die sofort beherrschbar ist, eine Software, die für ihre Benutzer denkt. “Beim Lernen kommt es aber nicht auf die Oberflächenstruktur an,” sagt sie, “sondern auf die Tiefenstruktur.” Sprich: Hat die eingesetzte Technik einen Lerneffekt – oder sieht sie nur gut aus? Felicitas Thiel ist Professorin an der Freien Universität Berlin. Die Erziehungswissenschaftlerin unterrichtet Pädagogik und forscht zu Schul- und Klassenmanagement. Seit Mai 2021 ist sie Vorsitzende der Ständigen wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK), die die Länder dabei berät und unterstützt, Bildung in Deutschland weiterzuentwickeln.
Die Digitalisierung ist eine der größten Herausforderungen für das Bildungssystem. Was muss in Schulen über Technik und Software gelehrt werden, aber vor allem: Wie kann Technik und Software das Lernen fördern? Das sind die zentralen Fragen, auf die bisher jede Schule, jede Lehrkraft eigene Antworten findet. Denn: Der Markt für Lernapps, Lernplattformen und Lernvideos ist so schnell gewachsen, kaum jemand hat einen Überblick, was welche Anwendung kann. Und weil die Lehrerinnen und Lehrer in Deutschland immer noch fürs Unterrichten ausgebildet und bezahlt werden, nehmen sich nur die Engagierten und Interessierten Zeit, sich in neue digitale Anwendungen einzuarbeiten und sie für ihren Unterricht zu beurteilen. Hilft mir die App bei der Vermittlung meines Lernstoffs? Und wenn ja, wie? Thiel glaubt, wenn jede Lehrkraft diese Fragen selbst beurteilen muss, sei das ein Problem.
Der Einsatz etwa von Virtual Reality klinge erstmal toll. Doch wenn es nur darum ginge, eine Erfahrung aus der materiellen Welt in die virtuelle Welt zu übersetzen, sei erstmal nichts gewonnen. “Wir müssen den Schülern Kompetenzen vermitteln, wie zu abstrahieren oder zu schlussfolgern”, sagt Felicitas Thiel. Ihrer Ansicht nach sei nicht die Virtual-Reality-Erfahrung an sich entscheidend, sondern wie eine solche Erfahrung zum verstehenden Lernen beitrage.
Damit digitale Anwendungen nicht Zweck an sich, sondern ein Mittel für kognitive Entwicklung sind, plädiert Felicitas Thiel für eine Orientierung auf dem immer unübersichtlicher werdenden Feld. Sie will Standards, die als Gütesiegel digitale Anwendungen bewerten und auszeichnen. Ein solches Siegel sollte, so Thiel, von Experten vergeben werden: von Lernpsychologen, Medienpsychologen, Pädagogen, aber auch von Produktentwicklern und Datenschützern.
“Ein Zertifizierungssystem unterstützt die Lehrenden dabei, gute Entscheidungen über den Erwerb und den Einsatz von digitalen Technologien treffen zu können,” sagt Felicitas Thiel. Und nicht nur das. Es würde auch Anreize schaffen, für Schulbuchverlage, mit Produktentwicklern an neuen digitalen Tools für den Unterricht zu kooperieren. Gerade vor dem Hintergrund des Bekenntnisses zur Fortsetzung des Digitalpakts in den gegenwärtigen Sondierungsgesprächen sollte, so Thiel, ein Zertifizierungsverfahren für digitale Tools an den Schulen debattiert werden.
Als Vorbild, findet Thiel, könnte eine Organisation aus den USA dienen. Digital Promise arbeitet seit 2011 zusammen mit Wissenschaftlern, Unternehmen und Schulen, um die Digitalisierung des Bildungssystems zu begleiten. Digital Promise hat auch ein Label, mit dem Lernanwendungen zertifiziert werden. Eine zentrale Stelle, die entscheidet, was im Klassenzimmer zum Einsatz kommt? Gefährdet das nicht den in der Verfassung festgeschriebenen Bildungsföderalismus? Eine Zertifizierungsstelle würde diesen nicht aushebeln, glaubt Felicitas Thiel, denn letzten Endes entscheide die Lehrkraft, ob sie ein zertifiziertes Tool im Unterricht einsetzen möchte oder nicht. Das System könnte auf Freiwilligkeit basieren. Entwickler dürften nicht verpflichtet werden, ihre Produkte zertifizieren zu müssen und für Lehrkräfte dürfte es keine Anweisung geben, nur zertifizierte Anwendungen zu verwenden. Die Gütesiegel dienten dazu, die Lehrerinnen und Lehrer sowie die Schulleitungen darin zu orientieren, was ein Tool kann und wozu es taugt.
Zumindest, das glaubt Felicitas Thiel, würde sich eine Debatte darüber lohnen, ob die nächste Bundesregierung solch ein Zertifizierungssystem einführen sollte. Was sind die Vor- und Nachteile? Wer soll zertifizieren? Eine an die Ministerien angedockte Stelle? Das Bildungsministerium selbst? Eine unabhängige Organisation? Eine lose Initiative? Es wäre eine Debatte, die sich nicht nur um Technik dreht oder darüber, wie viele Laptops welche Schule bekommt und ob die Updates auf den Tablets funktionieren. Sondern eine, die inhaltlich geführt wird, über den Sinn und Zweck von digitalen Tools für die Schule und für die Gesellschaft.
Den Anfang macht Felicitas Thiel. Sie schlägt vor, dass ein Zertifizierungsverfahren drei Kategorien abdecken soll: Entspricht das Tool erstens unseren Bildungsstandards? Gibt es zweitens Daten darüber, die evaluieren, wie das Tool wirkt? Und drittens: Erfüllt es das, was Steve Jobs für sich beansprucht revolutioniert zu haben – hat es ein verständliches User-Interface? Also, ist es nutzerfreundlich? Sofie Czilwik
Die Reaktion auf das von Thomas de Maizière ausgerufene Ende der Schulbuchzulassung ist unter Bildungsdigitalisten einhellig: Endlich spricht es einer aus, so kann es nicht weitergehen mit der Schulbuchzulassung. Das ist der Tenor bei Startups und Bildungsinstitutionen. Selbst Michael Frost, Geschäftsführer des FWU-Medieninstituts der Bundesländer, stimmt zu. “Die klassische Begutachtung der Lernmittel wird man nicht durchhalten können,” so der heimliche Star unter den Bildungsdigitalisierern. “Ob es für jedes Lernmittel oder Lernwerkzeug im digitalen Zeitalter überhaupt logistisch möglich ist, alle Lernmittelangebote und Tools zu prüfen, ist zu bezweifeln.”
Der Streit, um den es geht, bezieht sich allerdings nicht nur auf die Menge von Lernmaterial. Es geht um Marktanteile. Bislang profitieren die analogen Inhalteanbieter, weil sie über die Schulbuchzulassung von der Lernmittelfreiheit profitieren. Der Staat nimmt einer Handvoll Schulbuchverlagen ihre Produkte ab. Die Schulbuchzulassung organisiert also de facto ein Monopol gedruckter Lehr- und Lernwerke. Digitale Bildungsanbieter berichten, dass sie von diesem Markt seit Jahren künstlich ferngehalten werden.
Aus den Reihen der Startups war denn auch durchgehend Erleichterung zu hören. “Die jetzigen Zulassungsprozesse für traditionelle Bildungsmedien in einigen Bundesländern sind in ihrer derzeitigen Form für digitale Bildungsmedien unpassend,” sagte Arndt Kwiatkowski, der Gründer von Bettermarks.
Geradezu euphorisch äußerte sich Daniel Bialecki, ehemals Geschäftsführer von Scoyo und heute Berater. “Ich bin überrascht und begeistert. Denn diese Forderung weist endlich in eine moderne und konstruktive Zukunft,” schrieb Bialecki über de Mazières Abgesang auf das Schulbuch. Die Aufhebung der Schulbuchzulassung werde das System völlig verändern. “Diese Praxis quasi vom Kopf auf die Füße zu stellen, indem wir den Schulen die Entscheidungsbefugnis und -autonomie geben, halte ich für einen zentralen Schlüssel zu echter Bewegung und Entwicklung.” Jacob Chammon, Leiter des Forum Bildung Digitalisierung, hat dafür ein Beispiel – Dänemark: “Dort gibt es keine staatliche Prüfung oder Zertifizierung von Lehrmaterial von Seiten des Staates. Hier sind die Schulen und den Kommunen für die Einkäufe zuständig – und damit auch die Qualitätssicherung.”
Kritische Stimmen kamen, wie zu erwarten, vor allem aus den Reihen der Schulbuchverleger. Sie wollen an der Schulbuchzulassung festhalten. Christoph Pienkoß vom Verband der Bildungsmedien sagte, worum es dabei geht. Schulbuchzulassungen seien wichtig – “sie liefern Transparenz, welche Medien aus öffentlichen Budgets finanziert werden können.” David Klett hingegen, der einen Teil des großen Klett-Verlags leitet, warf de Maizière vor, die Zulassungsrealität in Deutschland falsch zu beschreiben. Er habe “großen Quatsch” erzählt: “An Zulassungsverfahren kann man sich stören, aber sie zum Hemmschuh für die Digitalisierung aufzubauschen, lenkt nur ab von den eigentlichen Problemen.”
Freilich bestätigt die Praxis der wichtigsten Bildungsländer de Maizière’s Aussagen. “Das Monopol staatlicher Zulassung von Lehrmitteln und Bildungsinhalten ist gefallen”, hatte der Vorsitzende der Telekom-Stiftung gesagt. Das habe mit der Flut an digitalen Bildungsangeboten zu tun. “Die Bildungsverwaltungen werden das akzeptieren müssen”, sagte de Maizière. Sonst drohe eine “endlose Bürokratie“.
Dass das stimmt, zeigt eine Umfrage von Bildung.Table zur aktuellen Praxis. Bayern und Nordrhein-Westfalen, die für circa ein Drittel der deutschen Schülerschaft stehen, insistieren, alle wichtigen Inhalte für die Schule behördlich zu genehmigen. “In Bayern werden nur solche Schulbücher sowie dazugehörige Arbeitshefte und Arbeitsblätter für den Unterricht zugelassen, die Konformität zu den geltenden Lehrplänen aufweisen”, sagte ein Sprecher des Bayerischen Bildungsministers, Michael Piazolo (Freie Wähler). Ein Sprecher der NRW-Bildungsministerin Yvonne Gebauer (FDP) verwies auf die Vorschrift: “Der Erlass besagt, dass Lernmittel an Schulen dann eingeführt werden dürfen, wenn sie zugelassen sind.”
Die Zulassung ist in der Bundesrepublik nicht einheitlich geregelt. Eine Handvoll Länder verzichtet inzwischen darauf, aber die große Mehrheit besteht auf der Genehmigung durch die Kultus-Bürokratie. Zu behaupten, das sei eine vernachlässigbare Praxis, ist falsch. Daran ändert sich auch nichts durch die Haltung einzelner Länder. Aus Sachsen war zu hören, dass das Bundesland darauf verzichtet, Schulbücher zuzulassen. “Es ist sinnvoll, eine große Eigenverantwortung in die Schulen zu geben,” sagte eine Sprecherin. Lehrer seien so gut ausgebildet, dass sie selbst entscheiden könnten, welches Lehrwerk sie benutzen wollten. Im Übrigen sei es gar nicht möglich, alle digitalen Inhaltsträger aus dem Netz zu bewerten, die pädagogischen Zwecken dienten. “Bei dieser Frage geht es doch schon los: Wo ziehe ich die Grenze? Was im Netz ist kein Lernmaterial? Ich halte es nicht für leistbar, das alles zu prüfen.”
Lena Spak, Mit-Gründerin des Lernmanagementsystems Scobees, freute sich über die Ermächtigung für die Schulen. “Nutzer:innen und Expert:innen wie Lehrer:innen oder Schulleiter:innen können am besten beurteilen, ob es sich um gutes, zukunftsweisendes Material handelt oder nicht.” Eine Überreglementierung helfe niemanden.
Auch Max Maendler, der Gründer von Eduki, dem früheren Lehrermarktplatz, erkennt einen Sinn darin, die Schulbuchzulassung abzuschaffen – im Kleinen wie im Großen. “Im Kleinen, weil die Lehrer ja schon heute millionenfach Lernmittel jenseits der offiziell sanktionierten Werke einsetzen. Und im Großen, weil es ein Schritt in Richtung eines Schulsystems ist, in dem mehr Freiheit vor Ort und weniger ängstliche Kontrolle in Schulaufsicht und Kultusministerien herrschen.”
Freilich würde auch eine Abschaffung der Schulbuchzulassung nicht dafür sorgen, dass alle Kontrollen wegfallen. Beispiel Sachsen: Dort wurde die Abteilung für Schulbuchzulassung im “Landesamt für Schule und Bildung” in Radebeul nicht etwa aufgelöst. Jeder, der Anstoß an einem Schulbuch nimmt, könne sich an die zuständige Stelle wenden. Sie unterziehe analoge wie digitale Bildungsinhalte dann einer Kontrolle – auf Antrag und ex post.
Selbst in der Digitalszene will man auf eine Überprüfung nicht ganz verzichten. Digitale Medien sollten künftig “einer angepassten Qualitätssicherung unterliegen: Zum einen in einer technischen Dimension, wie z.B. der DSGVO-Konformität”, sagte Gründer Arndt Kwiatkowski. “Zum anderen bezüglich der Wirksamkeit zur Verbesserung des Unterrichts in den jeweiligen Fächern, Klassenstufen und Schultypen.”
Auch Michael Frost vom FWU findet, dass es “rechtliche und technische Kriterien geben muss, wie Bildungsmedien (datenschutz-)rechtskonform und technisch standardisiert eingesetzt werden können.” Und Frost hat dafür auch bereits einen neuen Auftrag in der Tasche. Die Länder haben die FWU mit dem Projekt “educheck digital” beauftragt. In dem Projekt, das auf drei Jahre angelegt ist, soll ein gemeinsames Prüfverfahren für digitale Bildungsmedien entwickelt werden.
Filme über die Schule gibt es in Deutschland viele, meist sind es Karikaturen. Der verlängerte Arm des Stammtischs reicht diese Schulklamotten bis in die Filmtheater und Wohnzimmer durch. Kassengold im Kino, Katzengold für die Gesellschaft.
Anders in anderen europäischen Ländern. In Frankreich locken Filme wie das Meisterwerk “Sein und Haben”, “Die Klasse” oder “Die Schüler der Madame Anne” die Menschen in die Kinos. Auch in der dänischen Serie “Rita” (Netflix) geht man der Schule mit ernsthafter Leichtigkeit auf den Grund. “Herr Bachmann und seine Klasse” gehört in diese Reihe, es ist ein Film, der nicht nur den Deutschen Filmpreis gewonnen hat, sondern auch mich, einen kritischen Schulleiter.
Regisseurin Maria Speth bringt uns nach Stadtallendorf, eine hessische Kleinstadt in der Nähe von Marburg mit 21.000 Einwohnern. Hier formt der ehemalige Steinmetz Bachmann junge Menschen, ein Prometheus in der Provinz. Speth reißt für uns die Dunstdecke über Stadtallendorf auf. Ein Melting-Pot von Menschen verschiedenster Herkunft, aus Kasachstan, Rumänien und Marokko. Die Gesamtschule ist in Wahrheit die Unterschichtsfabrik der nordhessischen Industriestadt. So, wie es viele Regelschulen in unserem geteilten Schulwesen sind. Dieter Bachmann, Lehrer an der Georg-Büchner-Gesamtschule, ist kein klassischer Unterrichtsbeamter. Ein Typ, der jeden Schulleiter zur Verzweiflung bringt. Unter den strengen Augen des Fachleiters eines Landesinstituts für schulische Qualitätsentwicklung wäre er mit den gezeigten Stunden wohl durchgefallen. Irrelevant darüber zu spekulieren, da es nichts bedeutet.
Einst war er selbst losgezogen, als “Knabe, der Disteln köpft“, hatte Soziologie studiert, dann aber doch auf Lehramt umgeschwenkt, sich als Gymnasiallehrer verdingt, um seine Familie zu ernähren. Dann zehn Jahre als Steinmetz und Bildhauer. Er schlug Figuren aus Holz und Stein, jetzt aus Fleisch und Blut. Warum es ihn als Endvierziger vor 17 Jahren nach Stadtallendorf verschlägt, bleibt unaufgeklärt. Was er im NDR-Interview sagt, ist, dass er sich in diese unvollendete Stadt und ihre Menschen verliebt hat.
Wir werden regelrecht hineingesogen in nur scheinbar lang anmutende 217 Kinominuten. In seinen Fragen an die Schülerinnen und Schüler entdeckt Bachmann immer Neues – auch an sich selbst. Er schenkt ihnen Wertschätzung bei völligem Abhandensein von, pädagogisch gesprochen, Defizitorientierung. Er gibt alles, selbst seine geliebte Gitarre. “Die Kinder haben mich vor dem Tod gerettet”, sagt er.
Bachmann wird zum Lernermöglicher. Er gibt seinen Schülerinnen und Schülern Zeit für ihre Entwicklung. So chaotisch und komplex wie unsere Welt ist sein Klassenraum, wo er jeder und jedem Raum finden lässt. Ihnen eine Stimme verleiht, egal, ob sie nun zehn Monate oder zehn Jahre in Deutschland leben. Und wo Worte nicht helfen, schafft es die Musik. Er ist ihnen nah, manchmal sehr nah in Umarmungen. Vielleicht versucht Bachmann, etwas zu kompensieren. Bei der Weihnachtsfeier kreuzen nicht viele Eltern auf. Man kann nicht einfach weg aus der Schicht im Stahlwerk. In dieser Welt gibt es kein früher Schluss, kein Homeoffice.
“Herr Bachmann und seine Klasse” ist der richtige Titel. Lehrer Bachmann ist zu Hause in seiner Klasse. In Habitus, Sprache und Herzlichkeit gehört er zu den Menschen. Da wird mit Dönern in Mathematik gerechnet, im Deutschunterricht darf Til Eulenspiegel “Arschlecken” fluchen. In radikaler Offenheit erzählt er den Kindern vom eigenen Scheitern, seiner Kindheit mit trinkenden Eltern. In einfacher Sprache erklärt er ihnen Leben. Dazu braucht er keine Lehrpläne, Lehrbücher, digitalen Firlefanz oder Tafelbilder. Er weckt die inneren Bilder der Kinder. Bachmann kennt die Ängste und Sorgen dieser Familien, deren Arbeitswelt so weit weg ist von New Work, wie Stadtallendorf von New York. Diese Welt ist hart, eine fast undurchdringbare Stahldecke. Klassischer Klassismus.
Klassismus ist wie Gift. Er ist das Glyphosat, das Wachstum verhindert und unser gesellschaftliches Ökosystem zerstört. Dieses alte System der Gleichförmigkeit, das uns Regisseurin Speth am Fließband in den Fritz-Winter-Werken Stadtallendorfs zeigt. Auch Biontechgründer Uğur Şahin hatte eine Hauptschulempfehlung, nur eines von millionenfachen Fehlurteilen und Vergehen an unserer Gesellschaft. Sobo Swobodniks gleichzeitig angelaufener Film “Klassenkampf” zeigt es auf andere Art, aber es geht immer um das gleiche: Unterteilen, Sortieren und Bewerten – sei es durch Noten oder die Schullaufbahnempfehlung. Die Regie verzichtet bewusst auf das Zeigen von Schulkonferenzen, man benötigt aber keine Fantasie, um zu wissen, wie Bachmann dort argumentieren wird. “Zeugnisse und Noten sind nur Momentaufnahmen“, beschwört er seine Schützlinge. “Sie sagen gar nichts über Euch aus.”
Nicht nur bildlich gibt Bachmann den Kindern Hammer und Meißel in die Hand. Mit Dialogen meißeln sie an ihrer Formfindung. Die Worte lassen harte Jungs verletzlich und unsichere Mädchen selbstbewusst werden. Rabia will Innenarchitektin werden – und ist es bei sich selbst bereits. Ihre Mutter wird Bachmann am Ende folgen, die er anfleht, Rabia den Realschulabschluss machen zu lassen. Die Mutter traute es ihr nicht zu.
Es wird die Gretchenfrage genauso gestellt, genau wie immer wieder nach den Lebensplänen der Kinder, auch wenn Stefi ungläubig fragt: “Zukunft, was ist das?” Es gibt auch irritierende Momente, etwa die Diskussionen über Sex und Homosexualität. Bachmann ist da ganz klar. Aber auch er setzt den Meißel schon mal zu schräg an, wenn er die religiöse Ferhan dazu zwingt, in ihrer Familie nachzufragen, was der Koran zur gleichgeschlechtlichen Liebe sagt. Ein Dilemma für das Mädchen, das ihm vertraut. Prometheus ist eben auch nur ein Halbgott. Und die Halbgötter der Beziehung haben manchmal öfter ein Problem mit Nähe und Distanz. Wer den Sortiercharakter von Schule durch Zugewandtheit bekämpfen will, gerät leicht in die Zwickmühle.
Das Feuilleton und die Kritik haben Maria Speths Film gefeiert. Es ist ein Lehrstück über den guten Menschen Bachmann. Er ist Symbol für Schule als Hoffnungsort. Der Rückschluss aber, für sich selbst oder die eigenen Kinder so einen Lehrer zu wünschen, zeigt den Kitsch von uns Mittelschichtselbstgerechten. Statt Tränen der Rührung über Herrn “Bachmann und seine Klasse” zu vergießen; anstatt darauf zu hoffen, dass diese ehrlichen Kinder unsere Gesellschaft retten, sollten wir, die Bürger endlich politisch werden. Den Prometheus in uns entdecken – und endlich viele gute Schulen bauen. Gert Mengel
Kialo ist eine Plattform, die Schülerinnen und Schülern weltweit die Möglichkeit geben soll, sich online friedlich an Diskussionen zu beteiligen. Die Nutzer sollen lernen, konstruktiv zu diskutieren und zwischen Pro- und Contra-Argumenten abzuwägen. Auf der seit 2012 bestehenden Website kann man sowohl eigene Debatten starten als auch bereits aktiven Diskussionen beitreten und weitere Argumente hinzufügen. Man kann auch bereits veröffentlichte Aspekte kommentieren.
Da Lehrkräfte einige für den Unterricht ungeeignete Tools an der Website Kialo kritisierten, ergänzten die Macher Kialo um die Variante Kialo Edu. Bei der für Lehrende konzipierten Plattform gibt es verschiedene Möglichkeiten, diese sinnvoll zu nutzen. Schriftliche Aufgaben wie Analysen oder Essays lassen sich über Kialo Edu gut anordnen. Es wird ein grundlegendes Format angeboten, um vor dem Verfassen von Texten eine Struktur und einen Schreibplan zu erstellen. Auch kleine Vorträge können mit kurzen inhaltlichen Zusammenfassungen digital unterlegt werden. Bei allen angebotenen Tools können nur diejenigen auf die Inhalte zugreifen, denen der Ersteller die Erlaubnis erteilte. Dadurch kann die Lehrkraft die Diskussion in kleinere Teilgruppen aufteilen, um jeden Schüler mit einzubeziehen. Die Darstellung der Argumente erfolgt wie auf Kialo.com mithilfe eines Baumdiagramms, das die Darstellung übersichtlicher machen soll.
Das Prinzip der Website ist klar und einleuchtend. Doch bei Betrachtung der Baumdiagramme und Teilnahme an den Diskussionen fällt schnell auf, dass noch einiges am Design aufzuholen ist. Im öffentlichen Diskussionstool finden sich teilweise Tausende von Kommentaren, weshalb es sich für neue User schwierig gestalten kann, die Überblick zu behalten. Auch das Verbreiten von Fakenews kann nicht verhindert werden, wenn jeder die Möglichkeit hat, seine Argumente zu formulieren. Dies sei jedoch gleichzeitig förderlich für eine Diskussion, an der vielen Menschen teilnehmen, sagte Errikos Pitsos, der Gründer von Kialo, gegenüber Bildung.Table. “So beginnen die anderen Teilnehmer, auf diese News einzugehen, und vielleicht findet ein Umdenken beim Verfasser statt”, hofft Pitsos. Außerdem sei diese Problematik bei Kialo Edu nicht mehr vorhanden, da das öffentliche Debattieren wegfalle, und die Lehrkräfte sehen können, von wem welches Argument kommt.
Das oftmals kritisierte Auslassen und Verkürzen von Informationen bleibt jedoch auch auf Kialo Edu ein Kritikpunkt. Durch die digitalen Diskussionen wird zumeist versucht, sich kurz und schlagfertig auszudrücken. Das mag von Vorteil sein, um die anderen Teilnehmer:innen zu überzeugen. Es löst aber nicht das häufig in den sozialen Netzwerken auftretende Problem der Polarisierung durch kurze, knappe Kommentare. Dadurch ist es anfällig für den in den sozialen Netzwerken erkennbaren Trend zu Extremen, bei denen es nur ein richtig oder falsch gibt. Dass dies auch bei Kialo zum Problem wird, hält Pitsos jedoch für unrealistisch, da mehrheitlich auf einer sachlichen und informativen Ebene diskutiert werde.
Dennoch liefert Kialo Edu einige für Lehrkräfte sinnvolle Tools und Möglichkeiten, vor allem, wenn es darum geht, den Schülerinnen und Schülern das kritische Denken und Diskutieren beizubringen. Robert Schick
Spielerisch in der Arbeitszeit Digitalkompetenzen erwerben – das will Talent Digital mit der gleichnamigen Software ermöglichen. Die Spielenden klicken sich durch eine Büro-Simulation, müssen einfache und komplexe Aufgaben erledigen und bekommen am Ende eine personalisierte Auswertung. Die bekommt der Chef nie zu sehen! Auf Organisationsebene (dem Dashboard) wird allerdings tiefgreifend ausgewertet, wie es in der ganzen Firma um Digitalkompetenzen steht. Auf diesen Erkenntnissen basierend bietet die Software dann weiterführende Ressourcen an. Ein Algorithmus erkennt, welche Inhalte für welche Wissenslücke oder welchen Fortbildungsbedarf passen. So können gezielt Digitalkompetenzen nach DigComp entwickelt werden. Denn darum geht es in dem Serious Game wirklich. “Digitales Empowerment” heißt das bei Talent Digital.
Das Lernspiel für Erwachsene ist ansprechend umgesetzt und funktioniert tadellos. Die Spielenden tauchen in den Arbeitsalltag eines Projektmitarbeiters ein. Sie machen Termine, verschicken Dokumente, wählen Software aus und so weiter. Die Aufgaben werden immer anspruchsvoller. Dabei lernen sie Nützliches, zum Beispiel über Datensicherheit und kooperatives Arbeiten mit moderner Software. In den späteren Kapiteln werden die Themen deutlich anspruchsvoller. Wer die stets lachenden Kollegen-Avatare aushalten kann, erlebt eine gute Simulation, die nah am modernen Arbeitsalltag mit digitalen Werkzeugen ist. Besonders spannend ist die objektive Auswertung aller Spielenden. Der CEO von Talent Digital, Roman Rüdiger, sagt, dass eine Organisation nach sechs absolvierten Kapiteln einen sehr guten Einblick in die digitalen Kompetenzen seiner Teams hat. Hier setzen dann die weiterführenden Qualifikationen ein, die tiefergehendes Schulen der Mitarbeitenden ermöglichen.
Gegenwärtig benutzen das Spiel unter anderem Jobcenter und Firmen für die digitale Fortbildung ihrer Mitarbeitenden. Grundsätzlich kann das Serious-Game-Konzept von Talent Digital auch auf schulische Ausbildungsformen und anderen Lerninhalt angewandt werden. Roman Rüdiger stört an der Schule besonders, dass die Beurteilung von Leistung hier individuell – ein Lehrer beurteilt seine Schüler – stattfindet. Er findet objektive Leistungsmessungen großartig und würde diese gerne automatisiert erhoben sehen. Die spannende Frage wäre: Könnte man mit Serious Games auch Kompetenzen von Schüler:innen in Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen messen? Besonders interessant findet Roman Rüdiger den datenanalytischen Ansatz, der trotz Anonymisierung wertvolle Erkenntnisse über Bedürfnisse von Schülern liefert. So können Lehrer beispielsweise herausfinden, welche Zusammenhänge es zwischen Standort, Geschlecht, Alter und dem Leistungsstand gibt. Rüdiger wünscht sich, dass generell mehr datenanalytische Verfahren im Bildungsbereich eingesetzt werden. Enno Eidens
Interessierte können die Demoversion von talent::digital kostenlos im Browser anspielen. Die Software funktioniert am besten auf einem angemessen großen Bildschirm.
Digitaler Fernunterricht, Schulschließungen und Maskenpflicht für kleine Kinder – Corona belastet Schulkinder immens. Der Leiter der “Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie” der Ludwig-Maximilians-Universität in München, Gerd Schulte-Körne, berichtete dem Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverband (BLLV) von Jugendlichen, die der digitale Fernunterricht unter Stress setzte – und von Schülern, die von Schulschließungen sogar profitierten. Eine neue Art Patienten werde in den Kliniken vorstellig.
Die hohe Zahl der Kinder und Jugendlichen, deren Zustand sich verschlechterte, führt Schulte-Körne vor allem auf eins zurück: Es gibt einen Zuwachs an Patienten, die sich normalerweise “sicherlich nie an uns gewandt” hätten. Damit sind Jugendliche aus Familien gemeint, die über “relativ viele Ressourcen” verfügen, wie Gerd Schulte-Körne es nennt. Es handelt sich also nicht um Kinder aus Haushalten, die bereits mit anderen Herausforderungen konfrontiert sind – sei es die Muttersprache der Eltern oder deren geringes Einkommen. Nicht alle von diesen Neuzugängen seien erkrankt. Aber, so mahnt der Psychologe: Es müsse nun geschaut werden, dass sich aus Belastungen keine Krankheiten entwickeln. Als besonders schlimm empfindet der Psychologe, dass Erkrankte teilweise abgewiesen werden mussten, da die Klinik “schon in der normalen Versorgung immer bei 100 Prozent Auslastung” war.
Schulte-Körne sprach auf Einladung des BLLV mit Lehrer:innen. Der Psychologe sagte, das Problem für die Jugendlichen sei, dass die Pandemie so lange gedauert habe und sie mehrere Phasen hatte – “und die totale Unsicherheit über die Situation.” Das habe erkennbar dazu beigetragen, dass die Zahl der belasteten Schülerinnen und Schüler von 20 auf 30 Prozent gestiegen sei. Es litten aber nicht alle Schüler:innen unter Schulschließungen und digitalem Fernunterricht. Es gebe auch Jugendliche, die Angst vor sozialen Interaktionen hätten und sich zu Hause wohlgefühlt hätten. Der Direktor der Kinderpsychiatrie der LMU warnte davor, jetzt zu viel Augenmerk auf das Schließen von Lernlücken zu richten. Auf die Frage, was die Kinder und Jugendlichen jetzt brauchten, sagte Gerd Schulte-Körne: “weniger Leistungsforderungen und mehr Zeit zur Entwicklung.” Robert Saar
Das “Bundesweite Bündnis für Luftfilter” (BBL), ein Zusammenschluss mehrerer Initiativen, kritisiert die Beschlüsse der Kultusminister von Potsdam scharf. Das Bündnis fordert einen Bildungsgipfel mit Bund, Ländern und Kommunen, der ein “realistisches Konzept für Pandemiesicherheit” beschließen soll. Dazu gehöre unbedingt auch der flächendeckende Einsatz von Luftfiltern in Schulen und Kitas. Die Situation des Kyffhäuserkreis in Thüringen scheint ihnen recht zu geben. Dort gehen die Inzidenzen durch die Decke.
Das Bündnis gründete sich vergangene Woche und setzt sich aus mehreren Gruppierungen zusammen: die Initiativen “Bildungsgerechtigkeit und Gesundheitsschutz in der Pandemie“, #ProtectTheKids und “Luftfilter in alle Klassenzimmer”; die Elterninitiativen Raumluftfilter NRW und Sichere Schule MTK; der Regionalelternbeirat Trier. Gemeinsam hat das Bündnis laut eigenen Angaben knapp 107.000 Unterschriften gesammelt. Neben Eltern und Lehrkräften vertritt das BBL auch andere Professionen, die Bildungsarbeit leisten.
Ende September trafen sich Vertreter jetziger BBL-Mitglieder mit KMK-Generalsekretär Udo Michallik (CDU), überreichten Unterschriften – und bekamen die Zusicherung, das Thema Luftfilter stehe bei der KMK-Tagung auf der Agenda. Bereits im Sommer hatten Initiativen mit dem Sammeln von Unterschriften begonnen. Die sorglose Rückkehr vom digital gestützten Fernunterricht in die Präsenz hat einen Teil der Eltern aufgebracht. Getan habe sich seitdem wenig, beklagt die Initiative. Stefan Hemler, Organisator und Lehrer, sagte Bildung.Table: “Es ist ein bedauerlicher Zustand, wie die KMK mit Covid-19 umgeht. Das entspricht dem allgemeinen Narrativ, dass Covid für Kinder ungefährlich wäre. Wir vertreten die Ansicht, dass es wichtig ist, Neuinfektionen zu verhindern.” Angesichts der Spätfolgen und den, wenn auch seltenen, schweren Verläufen bei Kindern eine Sorge, die viele Eltern teilen.
Wie ein Beleg für die These, die Kultusminister behandelten das Thema Corona nicht angemessen, wirkt die Situation in Thüringen. Im Kyffhäuserkreis liegt die Inzidenz der 10- bis 19-Jährigen derzeit bei über 1000. Kreisdirektor Ulrich Thiele berichtet von drei Superspreader-Ereignissen, die alle von Kindern in Schulen oder außerhalb von Schulen begannen – und sich dann über die Klassen weiter verbreiteten. Im Kyffhäuserkreis gab es an Schulen zeitweise weder Test- noch Maskenpflicht und es sind nur wenige Schulkinder geimpft – ein Viertel der 12- bis 17-Jährigen in Thüringen, das auch bei den Erwachsenen nur eine 50-Prozent-Impfquote erreicht. Im betroffenen Kreis, wo Schüler:innen die Infektionen in zahlreiche Haushalte trugen, wurde an den Schulen nun wieder eine Maskenpflicht eingeführt. Von Luftfiltern ist dort keine Rede – genauso wenig, wie im Beschluss der letzten KMK. Robert Saar
Den Vorteil sehe ich vor allem darin, dass ich mit Tweedback meine gesamte Klasse, alle Schülerinnen und Schüler, in sehr kurzer Zeit zunächst anonym mit ihren Positionen und Statements in den Unterricht einbeziehen kann – auch in Debatten. Würde man gleich offen mit Handabstimmung arbeiten, würde einige Schüler:innen ihre Meinung nicht äußern. Beispiel: Soll das Tempolimit von 130 km/h eingeführt werden, ja oder nein? Eine kurze Abstimmung digital und anonym über das Quiz-Tool von Tweedback – und wir haben das Ergebnis sofort. Schnell kann man darüber sprechen, was die Schüler:innen bewegt hat, dieses oder jenes anzukreuzen. Würde man mit einem offenen Votum arbeiten, hätte man bei vielen Themen das Phänomen des Konformitätsdrucks: Wer meldet sich als erstes, wer gehört zu der Clique dazu, traue ich mich eine andere Position einzunehmen? Mit anonymen Voten hingegen öffnet man die Gruppe – und hat sehr schnell gute Gespräche.
Eine weitere Funktion ist die sogenannte Chatwall. Die nutze ich vor allem, um inhaltliche Statements, Thesen, Argumente, Positionierungen in schriftlichem Kontext in kurzen Zeilen sozusagen zu erfassen. Das bedeutet, auch dort kann man sammeln und hat ganz viele Argumente von Schülerinnen und Schülern. ALLE bringen sich ein mit ihren Positionen und nicht nur die vier oder fünf Schüler:innen, die sich aktiv immer selbst melden oder andere, die man anspricht und die sich vielleicht sonst gar nicht trauen, etwas zu sagen. Und so kann man dann aus einer Vielfalt von Argumenten verschiedene Sachen als Lehrkraft aufgreifen, die man diskutiert – und zwar ohne dass die Schülerinnen und Schüler, ohne dass die Lehrkraft weiß, wer diesen Impuls eigentlich gegeben hat.
Das Instrument ist webbasiert und datenschutzkonform. Das heißt, die einzige Voraussetzung besteht im Grunde im Internetzugang und darin, ob die Schüler:innen ein digitales Endgerät haben, egal ob Smartphone, Tablet oder Laptop. Man kann allerdings zur Unterrichtsvorbereitung ein, zwei Tage vorher den Link einer Umfrage zur Abstimmung freigeben. Dann können die Schüler:innen von zu Hause aus antworten – und man kann mit dem Ergebnis die Stunde beginnen.
Tweedback lässt sich in Präsenz, aber auch im Distanzunterricht verwenden, um anonym Debatten anzustoßen. Ich habe zum Beispiel als Sozialkundelehrerin in Vorbereitung auf die Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern mit nicht wahlberechtigten Schülerinnen und Schülern eine Probewahl veranstaltet. Über die entsprechende Quiz-Funktion hat die Klasse die Erst- und Zweitstimme abgegeben. Dann haben wir geschaut, wer würde als Direktkandidat gewählt, wie viele Prozente erringen die jeweiligen Parteien bei den Zweitstimmen usw. Das heißt, mit dem Instrument kann man sehr gut eine praktische Ausgangslage herstellen, um dann vertieft in die fachwissenschaftliche Auseinandersetzung zu gehen.
Digitale Medien sollten nur eingesetzt werden, wenn es didaktisch und pädagogisch sinnvoll ist. An diesem Tool kann man sehen, wie vielfältig die Möglichkeiten sein können – und wie viel sich erreichen lässt, wenn man eine Methode genauer kennenlernt. Ein Beispiel aus dem Sozialkundeunterricht: Wir haben Ferdinand von Schirachs “Terror – Ihr Urteil” als Grundlage genommen, um in der Klasse zu diskutieren, ob man 164 Menschen töten darf, um 70.000 zu retten. Die Schüler:innen waren überrascht von dem Ergebnis. Dann hat die Klasse versucht, sich dazu zu positionieren. Im weiteren Verlauf haben sich die Lernenden mit den einschlägigen Paragrafen auseinandergesetzt. Wir haben auch mit Szenen aus dem Film gearbeitet. Am Ende unserer Diskussion hat die Klasse noch einmal anonym über die Frage abgestimmt. – Man kann mit dem Instrument aber auch ganz viel basteln. Wir haben darüber zum Beispiel in Zeiten von Corona eine datenschutzkonforme Anmeldung für eine Zeugnisausgabe organisiert – mit allen nötigen Informationen.
Es gibt eine Funktion von Tweedback, die man kritisch sehen kann. Um an einer Umfrage teilzunehmen, füllt man eine vierstellige ID aus. Vertippt man sich bei diesen vier Zeichen, kann es sein, dass man in einer Session in einem ganz anderen Teil Deutschlands landet. Dennoch bin ich überzeugt: Tweedback ist ein unterschätztes digitales Instrument für anonyme Debatten im Unterricht.
Julia Hastädt unterrichtet Sozialkunde und Geschichte am John-Brinckman-Gymnasium in Güstrow und twittert als @Medien_Lehrerin
21. Oktober, 12:45 bis 13:30 Uhr
Forum: Digitale Bildungsmedien
Vom 20. bis 24. Oktober findet das Forum Bildung statt, bei dem Expert:innen Antworten auf zentrale Fragen der Bildungspolitik geben wollen. Dr. Lutz Hasse, der Thüringer Landesbeauftragten für Datenschutz und die Informationsfreiheit und Frank Thalhofer, Vorstandsmitglied des Verbandes Bildungsmedien. Infos & Anmeldung
22. Oktober, 14:30 bis 15:15 Uhr
Podium: DigitalPakt Schule und (k)ein Ende?
Im Forum Bildung diskutiert Dr. Ilas Körner-Wellershaus, der Vorsitzende des Verbandes Bildungsmedien, mit Bildung.Table-Redaktionsleiter Christian Füller über den beschlossenen Digitalpakt und dessen Bedeutung für die Zukunft. Infos & Anmeldung
04. – 05. November
Online-Messe: educon 2021
In verschiedenen Workshops und anderen Formaten können sich Bildungsprofis über zukünftige Veränderungen und Konzepte zur Digitalisierung austauschen. Dazu werden unter anderem Expert:innen und Entscheider:innen befragt und Debatten geöffnet. Infos & Anmeldung
06. November, 10:00 bis 17:00 Uhr
Tagung: Initiative Neues Lernen Event
Bei dem von der Initiative Neues Lernen organisierten Workshop soll das Schulsystem verbessert und weiterentwickelt werden. Das Event ist in Präsenz in Berlin geplant. Infos & Anmeldung
9. November 17:00 bis 18:15 Uhr
Talk: eTwinning – Das Netzwerk für Schulen in Europa
Falko Stolp, Schulleiter und aktiv auf der Plattform und Anna Goudinoudi stellen “eTwinning”, ein Netzwerk zur digitalen Gestaltung des Unterrichts vor. Dieses soll sowohl Lehrkäfte fortbilden können als auch die Motivation der Schüler:innen steigern. Infos & Anmeldung