Kolumne
Erscheinungsdatum: 12. Juni 2024

Politische Bildung: „Lehrkräfte dürfen nicht neutral sein!“

Bei der Europawahl zeigt sich ein deutlicher Rechtsruck bei den Jungwählern. Das Wahlverhalten sollte Anlass sein, das Neutralitätsgebot von Lehrkräften zu überdenken, fordert unser Kolumnist Mark Rackles.

Bildungsberater, KMK-Kenner, Reformer: In seiner Kolumne denkt Ex-Bildungsstaatssekretär Mark Rackles jeden Monat Bildungspolitik neu. Erfahren Sie hier mehr über die Vita unseres Kolumnisten.

Die Wahlen zum Europäischen Parlament vom vergangenen Sonntag enthalten eine Vielzahl von schwierigen politischen Botschaften für unsere Demokratie und das bestehende Parteiensystem. Für die Bildungspolitik könnte man zugespitzt formulieren, dass die Wahlen der politischen Bildung in Deutschland ein verheerendes Zeugnis ausstellen: Das macht sich insbesondere an dem überraschend hohen Anteil von Jungwählerinnen und -wählern (16–24 Jahre) fest, die zu 16 Prozent für die AfD gestimmt haben.

Warum wählen deutsche Jugendliche eine Partei, die in relevanten Teilen als „gesichert rechtsextrem“ eingestuft wird, mit Spitzenpersonal, das man im Fall von Björn Höcke nach gerichtlicher Prüfung als Faschisten bezeichnen darf? Ich bin zu einer Zeit aufgewachsen und politisiert, da galt die Jugend als „gesichert links“. Damals durfte man sich als 16-Jähriger den altersweisen Spruch anhören: „Wer mit 18 nicht links ist, hat kein Herz. Wer mit 30 noch links ist, hat kein Hirn“.

Heute wählt die Jugend bei Europawahlen in Deutschland zu einem Drittel stramm konservativ bis rechtsextrem, vor allem junge Männer. „Enkel wählen rechts“ schreibt die Süddeutsche ernüchtert. SPD, Grüne und Die Linke, die in früheren Zeiten eine hohe Jugendaffinität hatten, kommen zusammen auf 26 Prozent. Ein weiteres Drittel der Jungwählenden verteilt sich über sonstige Parteien, bei denen die Wagenknecht-Partei BSW, die Satirepartei und die Tierschutzpartei mit Prozentanteilen von drei bis sechs Prozent herausragen.

Zwei Botschaften stecken in diesem Wahlverhalten: Die Jugend hat aktuell kein dominantes Leitthema, das sich wie 2019 an einer Partei festmachen lässt. Vor fünf Jahren war das noch die Klimafrage. Die Grünen waren damals mit 33 Prozent Stimmenanteil bei den Jugendlichen der unangefochtene Platzhirsch. Der Absturz der Grünen sowie die starke Streuung der jugendlichen Stimmen auf eine Vielzahl von Parteien liefert die zweite Botschaft: „Die Jugend“ ist bindungsunwilliger und folgt eher der Logik sozialer Medien als die der politischen Bildung.

Parteien wie Volt, Die Partei und die Tierschutzpartei weisen neben der AfD die höchste Präsenz in den sozialen Medien auf. Jugendliches Profil, junges Spitzenpersonal und junge Kommunikationswege sowie der Nimbus von Protest tragen erheblich zur erfolgreichen Ansprache der europäischen Jugend von rechts bei. Schon vor den Wahlen sprach die Jugendstudie 2024 von einem „Rechtsruck“ der Jugend, der unter anderem auch auf eine rechte Dominanz in den sozialen Medien zurückzuführen sei. Über 75 Prozent der Jugendlichen nutzen die sozialen Medien regelmäßig, knapp 60 Prozent der Jugendlichen und jungen Erwachsenen informieren sich über Nachrichten und Politik auf diese Weise. In diese offenen digitalen Räume ballern die Populisten und Extremisten dann erfolgreich ihre schlichten Botschaften im eingängigen Staccato : „Migration – Stopp. Gender – Stopp. Krieg – Stopp. Soros – Stopp. Brüssel – Stopp“ (der ungarische Rechtspopulist Viktor Orbán am Wahltag).

Wenn die Jugend einer Gesellschaft etwas mit der Zukunft einer Gesellschaft zu tun haben soll, dann kann es sich unser demokratisches Gemeinwesen nicht erlauben, dass 21 Prozent der jungen Männer unter 25 Jahren eine in weiten Teilen rechtsextreme Partei wählen. Und damit eine hohe Affinität zu Extremismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit offenbaren. Für die politische Bildung in unserer Gesellschaft sind diese Daten eine unmittelbare Herausforderung.

Vor dem Hintergrund der Wahlergebnisse von Sonntag kann es nicht nur darum gehen, in den bestehenden Strukturen und Logiken mehr Geld für die politische Bildung im schulischen und außerschulischen Bereich zu fordern. Die politische Bildung muss aus ihrer westdeutschen Behäbigkeit der 1970er-Jahre raus. Sie muss sich von bisherigen Ansätzen (60-Jährige erklären 16-Jährigen, wie die Welt funktioniert) und analogen Formaten (Bücher, Kurse, Flipcharts) lösen. Sie muss die Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Fragen durch Nutzung der altersaffinen Peers, Kommunikationswege und Sprache anregen und vorantreiben.

Vor allem muss sie endgültig mit einem Mythos aufräumen, der sich hartnäckig insbesondere in Lehrerzimmern hält: der Mythos der politischen Neutralität. Der Grundkonsens der politischen Bildung in Deutschland ist im westdeutschen „ Beutelsbacher Konsens “ von 1976 formuliert. Das dort verankerte „Überwältigungsverbot“ wird gerne auch als „Neutralitätsgebot“ (fehl-) interpretiert und nicht zufällig vorwiegend von der AfD (in Teilen aber auch von der CDU und CSU, wie etwa bei der Genderdebatte) eingefordert. Um den Druck auf Lehrkräfte zu erhöhen, wurden und werden auch aktuell von AfD-Fraktionen und Landesverbänden Melde- beziehungsweise Prangerportale unter der Bezeichnung „Neutrale Schule“ betrieben, die Verstöße gegen die vermeintlichen Neutralitätspflichten ahnden sollen.

Dass die Annahme, Lehrkräfte müssten sich in Unterricht und Öffentlichkeit neutral verhalten, nicht nur falsch, sondern gefährlich ist, darauf hat der „Netzlehrer“ Bob Blume anlässlich der Großdemonstrationen gegen den Rechtsextremismus Anfang des Jahres hingewiesen. Er forderte von den Kultusministerien ein klares Signal der Unterstützung, wenn sich Lehrkräfte aktiv hinter die Demokratie stellen.

Die KMK- Empfehlungen zur Demokratiebildung von 2018 betonen, dass es „Grundrechtsklarheit und ein entsprechendes Selbstbewusstsein der Lehrkräfte“ brauche und dass „Respekt vor Freiheit und Meinung des Andersdenkenden […] jedoch nicht Beliebigkeit und Neutralität [bedeutet]“. Die KMK sollte angesichts der politischen Entwicklungen dringend ihre Empfehlungen zur Demokratiebildung präzisieren und eine aktive Rolle der Lehrkraft im Ringen um demokratische Werte und Positionen herausarbeiten. Die Länder sollten die spezialisierten Projektträger, die über langjährige Erfahrungen im Kampf gegen Extremismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit verfügen, in der Fläche stärken. Und sie sollten sie in eine Regelfinanzierung übernehmen (statt – wie aktuell durch die CDU-geführte Jugendverwaltung in Berlin – ihnen Knüppel zwischen die Beine zu werfen, Programme aufzuhalten und handverlesene Vergaben zu praktizieren).

Demokratie braucht aktive und streitbare Demokratinnen und Demokraten und keine falsch verstandene Neutralität. Lehrkräfte dürfen nicht neutral sein! Schulgesetze und Grundgesetz verpflichten sie, für Menschenrechte und Demokratie einzutreten. Das gilt nicht erst seit Sonntag, aber seit Sonntag leider mehr denn je.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025

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