Warum lieben wir Fußball? Dafür gibt es viele Gründe, aber einer darf nicht fehlen: Weil der Fußball so unberechenbar ist. Weil im Fußball alles passieren kann, von einer auf die andere Sekunde, wie im richtigen Leben. Wer hätte im Frühjahr geahnt, dass Deutschland nach sieben dürren Jahren wieder seine Nationalmannschaft feiert, dass deutsche Fans in einer gut zwanzigminütigen Blitz-und-Donner-Pause auf dem Weg ins Viertelfinale im Wolkenbruch singen: „So ein Tag, so wunderschön wie heute.“
Genau, fast niemand. Wunderbar. Achtelfinale, Viertelfinale – und was jetzt noch alles kommen kann…
Diese Unvorhersehbarkeit, dieser unwiderstehliche Reiz des Fußballs, hat in einem packenden und jetzt schon legendären K.o.-Spiel gegen Dänemark auch für Momente gesorgt, die für die deutsche Nationalelf vorteilhaft waren – aber die überhaupt nicht gut sind für den Fußball. Für das unberechenbare Spiel, für dass wir uns entschieden haben.
Es waren die beiden Momente in der 50. und 51. Minute, als der Video-Assistent ins Spiel eingriff. Als er die Macht über den Moment an sich riss. Erst wurde von oben das Tor für die Dänen zum 1:0 von Andersen aberkannt – und beim anschließenden deutschen Angriff zeigte ein Sensor im Ball nach einer Flanke von Raum ein Handspiel desselben dänischen Spielers an, das mit einem Handelfmeter zum 1:0 durch Havertz bestraft wurde. Die beiden Entscheidungen waren formal korrekt. Aber sie fußen auf der irrigen Überzeugung, dass technische Entscheidungsinstrumente den Zufall im Fußball eliminieren könnten, dass sie ihn „gerechter“ machen.
Der Ärger der Dänen und ihre Trainers Hjulmand sind nur zu verständlich. Bei dem aberkannten Führungstreffer zeigt das Standbild, dass es sich wegen der Fußspitze von Delany um eine Abseitsstellung gehandelt haben soll, um einen Zentimeter, vielleicht um zwei. Das Bild suggeriert eine Gewissheit, die es nicht gibt. Denn der Moment, in dem der Ball den Fuß des Passgebers verlässt, lässt sich nicht absolut exakt bestimmen, wie es die Aufnahme im Ergebnis erscheinen lässt. Das behaupten nicht einmal UEFA und FIFA. Sie sagen bloß, dass sich der Moment der Ballabgabe durch verschiedene Kameras durch die halbautomatische Abseitserkennung „genauer“ als bisher ermittelt lasse. Genauer. Aber nicht genau.
So eindeutig wie bei der Torlinientechnologie ist die Sache eben nicht. Klar ist nur: Fehlertoleranz existiert bei dieser Abseitsentscheidung in der Praxis nicht. Der Zufall und selbst geringstmögliche Fehlerhaftigkeiten werden nicht akzeptiert. Um es mit dem dänischen Trainer zu sagen: „Kann das wirklich die zweifelsfreie Wahrheit sein?“
Und ganz grundsätzlich lässt sich fragen, ob es überhaupt sinnvoll ist, Dinge im Fußball zu ahnden, die man überhaupt nur mit technischen Hilfsmitteln erfassen kann.
Messen ohne technisches Gerät konnte man in diesem Viertelfinale allerdings ganz andere Dinge. Solche, die die Faszination des Fußballs ausmachen. Dass in der Startformation gegen Dänemark acht Spieler standen, die auch bei der 1:2-Niederlage gegen Japan bei der WM 2022 zur deutschen Startelf zählten (Neuer, Rüdiger, Schlotterbeck, Raum, Kimmich, Gündogan, Musiala und Havertz). Und das trotzdem eine ganze andere Mannschaft auf dem Platz stand. Dass man also sehen kann, welche Unterschiede ein Trainer ausmacht, der einen neuen Spirit schafft. Einer, der es zu versteht, zu coachen. Vor dem Spiel und während des Spiels. Und wie es gelingt, dass in solchen Spielen – die von Wind und Wetter, von Zufall und Wille bestimmt werden – auch fröhliche und freundschaftliche Momente innerhalb einer Mannschaft entstehen zu lassen werden, wie bei Antonio Rüdiger, der auf dem Hosenboden sitzend mit seinem Lachen geradezu ansteckend wirkte. Aber auch zwischen Deutschen und Dänen im Kabinengang, als man gemeinsam im Regen auf die Fortsetzung wartete.
Strikte Regelungen, die einem Schiedsrichter keinen Handlungsspielraum mehr zugestehen, wirken in solch besonderen Nächten besonders fehl am Platz. In diesem Fall die fragwürdige Handspiel-Regel, die nun den Dänen in Dortmund zum Verhängnis wurde. Wenn einem Spieler wie Andersen bei natürlicher Körperbewegung der Ball aus kurzer Entfernung bloß die Hand streift und sich die Flugbahn des Balles nur unmerklich verändert, und solche absolut bedeutungslosen Strafraumszenen dann trotzdem mit Handelfmeter bestraft werden, weil am Ende auch da vielleicht nur noch ein Sensor im Ball das Handspiel registriert, wird Fußball auf den Kopf gestellt. Ein solcher Moment ohne erkennbare Einfluss auf das Spielgeschehen ist mit dem Wesen des Fußballspiels nicht mehr in Einklang zu bringen. Er bekommt eine Bedeutung, die ihm nicht zusteht. Eine Führung in einem K.o.-Spiel ist richtungsweisend, ein einziges Tor sorgt oft für den entscheidenden Unterschied. Ein solcher Handelfmeter steht in keinem Verhältnis zum Spiel.
Wer den Fußball liebt, hatte Mitleid mit den Dänen. Und jeder, der in dieser Nacht Mitleid mit den Dänen hatte, weiß nur zu gut: Im nächsten Spiel kann es die eigene Mannschaft treffen.