In fast allen Demokratien haben die guten Demokraten den Populismus als den Hauptfeind ausgemacht. Eine Antwort auf die Frage, was gegen ihn zu tun sei, haben sie freilich nicht. Hat das vielleicht auch mit den Begrifflichkeiten zu tun, mit denen wir in dieser Sache operieren?
Der Begriff Populismus ist schon seiner Ambivalenz wegen wenig geeignet, die Rolle zu spielen, die man ihm derzeit zuweist. Populismus, wie immer man ihn definiert, ist ein demokratieimmanentes Phänomen. Eine Demokratie ist ohne Populismus nicht zu haben. Das versteht sich von selbst, wenn dem Populismus-Begriff, wie es in der Geschichte der Demokratie, auch in der wissenschaftlichen Debatte über den Populismus immer wieder geschehen ist, eine positive Bedeutung gegeben wird.
Aber es gilt auch, wenn der Begriff mit eindeutig negativer Konnotation gebraucht wird. Auch dann sind Populismus und Demokratie nicht zu trennen. Ein Populist sei, so eine der vorgeschlagenen kritischen Begriffsbestimmungen, wer für sich in Anspruch nehme, er spreche im Gegensatz zu seinen Konkurrenten für „das Volk“. Oder umgekehrt: Populismus sei es, den Wählern, um die man wirbt, einzureden, „Ihr seid das Volk“, obwohl sie doch nur ein Teil des Ganzen sind. Populismus sei es, lautet eine andere Begriffsversion, den Wählern Versprechungen ohne Rücksicht auf das Mögliche zu machen. Oder ähnlich: Populismus sei es, den Wählern nur zu sagen, was sie hören wollen. Alle diese Definitionsversuche zeigen: Welche Antwort man auf die Frage, was Populismus sei, auch gibt, immer wird sichtbar, dass Populismus im demokratischen politischen Prozess gang und gäbe ist, mit oder ohne pathologische Übertreibungen.
Es gibt Politikfelder, bei denen die populistische Versuchung zum politischen Alltag gehört, beispielsweise die Sozialpolitik. Hilft es, angesichts dieser Sachlage zwischen demokratiekonformem und demokratiewidrigem Populismus unterscheiden? Kaum. Die demokratische Wirklichkeit lässt eine trennscharfe Unterscheidung nicht zu.
So ist auch zu beobachten, wenn gegen den Populismus zu Felde gezogen wird: Meist ist nicht einfach vom Populismus, sondern vom Rechts-Populismus die Rede. Dieser Doppelbegriff legt die Vermutung nahe, dass nicht das Phänomen Populismus im Vordergrund steht, sondern das „Rechte“ am Rechts-Populismus. Man meint in Wahrheit den Extremismus am rechten Rand des politischen Spektrums, wenn man vom Populismus spricht – vorausgesetzt der politische Anstand und die politische Einsicht reichen noch aus, zwischen „rechts“ und „rechtsextrem“ zu unterscheiden.
Erst wenn das klargestellt ist, kann man sich der Frage zuzuwenden, auf die es doch eigentlich ankommt: der Frage nach den Gründen der Wahlerfolge der sogenannten populistischen Bewegungen. Sobald man die Erklärung nicht mehr hinter dem Begriff Populismus sucht, drängt sie sich, auch im internationalen Vergleich, mit einer erstaunlichen Klarheit auf.
Bei allen offenkundigen Unterschieden zwischen den USA und Ungarn, Frankreich und Deutschland, Skandinavien und Spanien stellen sich alle diese Bewegungen im Kern als Erscheinungsformen eines neuen, sehr plötzlich virulent gewordenen Ethnozentrismus dar – „America first“, „Deutschland den Deutschen“. Diese ethnozentrische Welle, die die Demokratien in Unruhe versetzt, ist ganz unzweideutig eine Reaktion auf die Wahrnehmung der Menschen in den betroffenen Ländern, dass die Kontrolle über die eigenen Grenzen verloren gegangen ist. Aus den Elends-, Unsicherheits- und Kriegsregionen in Afrika, Teilen von Asien und Lateinamerika drängen die Menschen in die Wohlstands- und Sicherheitsregionen Europa und Nordamerika. Und die Zielländer dieser Migrationsbewegungen haben sich im Umgang mit der Herausforderung als hilflos erwiesen. Eine ethnozentrische Reaktion beachtlicher Teile der einheimischen Bevölkerung auf diese Erfahrung ist eine natürliche Reaktion. Inzwischen begreift man langsam, dass unkontrollierte Migration Demokratien zerstören kann. Aber damit ist die Frage „Was tun?“ noch nicht beantwortet. Sie ist schwer zu beantworten. Und sie ist vor allem nicht so zu beantworten, dass wir optimistisch in die Zukunft blicken können.
Zum einen ist verloren gegangenes Vertrauen, in die Fähigkeit der Regierenden, Sorgen, Nöte und Ängste der Bürger, wahrzunehmen und ernst zu nehmen, nicht leicht und schnell wieder aufzubauen. Zum anderen und das wiegt schwerer: Es gibt für die globale Migration keine Lösung, die zu einer raschen Entspannung in den betroffenen Demokratien führen könnte.
Ein erster Schritt wäre es, das Flüchtlings-Hilfswerk der Vereinten Nationen als gemeinsame Antwort der Staatengemeinschaft auf eine globale Herausforderung neu aufzustellen und auszustatten sowie das geltende Asyl- und Flüchtlingsrecht, das von völlig anderen Verhältnissen ausgeht, grundlegend zu reformieren. Das gilt insbesondere für die Europäische Gemeinschaft. Das Asylrecht, so wie es derzeit verstanden und praktiziert wird, ist zu einem schlichten Türöffner für jeden Migranten geworden, der die Grenzen seines Ziellandes erreicht. Das kann nicht so bleiben. Aber weder auf dem einen noch auf dem anderen Feld zeichnen sich trotz eines wachsenden Krisendruckes auch nur die ersten Schritte einer Veränderung ab, die aus dem gegenwärtigen Dilemma herausführen könnte.
Das bedeutet für die betroffenen Demokratien nichts Gutes. Ein sich in Parteien formierender Ethnozentrismus wird als Reaktion auf den anhaltenden Migrationsdruck ein starker Faktor im politischen Prozess der Zielländer bleiben. Man mag Strategien, die diese Reaktion anzufachen und auszubeuten suchen, populistisch nennen. Doch damit ist nichts erreicht, denn ein Etikett ist noch kein Argument. Es geht darum zu zeigen, warum die Antworten der sogenannten Populisten die falschen sind.
Prof. Dr. Peter Graf Kielmansegg ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität Mannheim.
Lesen Sie hier alle bisher erschienen Beiträge der Serie „Hacking Populism“.