In den vergangenen Jahren hat man in der Nationalelf nach dem Schlusspfiff bei Europa- und Weltmeisterschaften oft nur hängende deutsche Köpfe gesehen. Oder martialische Jubelszenen, wenn es in einem Spiel mal etwas besser lief – und man glaubte, es nun allen mal wieder gezeigt zu haben. Nach dem 5:1 umwehte jedoch eine lange vermisste Leichtigkeit die Münchner Nacht. Der neue Kapitän Gündoğan, auch eine der Symbolfiguren des jahrelang Niedergangs seit den Erdoğan-Fotos, lächelte wie ein Kind, das sich über unerwartetes Geschenk freut. Die Spieler bejubelten ihre Tore auf eine gemeinschaftliche und vergleichsweise zurückhaltende Weise, die zeigte, dass man zusammen noch etwas gewinnen will und sich nicht sofort wieder für die Größten hält. Da hilft es natürlich auch, wenn man einen Toni Kroos in der Mannschaft hat, dem erfolgreichsten deutschen Spieler seiner Zeit, dessen Begeisterungsgrenze nach einem Auftaktsieg schon erreicht ist, wenn er zweimal in die Hände klatscht. Und wenn dann Zehntausende deutsche Fans im Stadion mehrfach den altdeutschen Gassenhauer „So ein Tag, so wunderschön wie heute“ anstimmen, kehrt im Fußballjahr 2024 auch ein scheinbar lange versunkenes Deutschland-Gefühl zurück.
Aus einem perfekten Start in ein großes Turnier lässt sich aber leider nichts über den weiteren Verlauf vorhersagen. Im Gegensatz allerdings zu den Aussichten nach einem schlechten Start. Wenn es schlecht los ging, ist Deutschland nicht mehr auf die Beine gekommen. Aus dieser Perspektive, die Deutschland in den vergangenen Jahren nur zu gut kennengelernt, ist das 5:1 vermutlich die beste Nachricht seit dem Titelgewinn 2014.
Die Europameisterschaft hätte für Bundestrainer Nagelsmann und sein runderneuertes Team nicht besser beginnen können, als sie an diesem Abend in München begonnen hat. In neunzig Minuten war nach freudlosen Jahren mit immer neuer Enttäuschungen nicht mehr zu gewinnen, als die personal und emotional neu formierte Nationalmannschaft in München gewonnen hat. Das war von Ergebnis und Gefühl das Maximum, was der Moment hergeben konnte.
Klar, was aus dem Momentum für den Turnierverlauf 2024 folgt, bleibt vor den schwierigen Spielen gegen Ungarn und zum Gruppenabschluss gegen die Schweiz nicht mehr als Spekulation. 5:1-Party-Sieg hin oder her. Das Spiel gegen Schottland ist so perfekt gelaufen, wie Spiele bei großen Turnieren nur ganz selten laufen. Die ersten Schüsse von Wirtz und Musiala waren sofort Treffer – nachdem vor knapp zwei Wochen gegen die Ukraine nach 25 Torschüssen nach neunzig Minuten noch ein 0:0 gestanden hatte. Und nach dem Elfmeter zum 3:0 war Deutschland nach einem Platzverweis für die Schotten zudem eine Halbzeit in Überzahl. Auch da gilt der alte deutsche Schlager: Das gibt's nur einmal, das kommt nicht wieder.
In diesem Spiel gab es allerdings auch spielerisch Dinge von einer deutschen Nationalmannschaft zu sehen, die man seit vielen Jahren nicht mehr kannte. Und von denen man hoffen darf, dass sie bei dieser Europameisterschaft noch öfter zu sehen sind: Die hervorragende Abstimmung im Mittelfeld zwischen Defensive und Offensive. Die stabile und agile Grundordnung, für die maßgeblich Toni Kroos sorgte, der oft weit in der eigenen Hälfte wie ein Quarterback das Spiel der deutschen Mannschaft organisierte und dabei so ruhig Regie führte, dass Mitspieler und Gegner spürten: Ein Weltklassespieler, der alles im Griff hat. Am Ende standen über hundert Pässe von Kroos, nur einer kam nicht an. Eine Erfolgsquote von über 99 Prozent. Das passte zu einem Spiel, in dem fast alles passte.
Im deutschen Mittelfeld konzentriert sich auf dem Papier schon lange so viel spielerisch Qualität, dass man jedoch auf dem Platz mitunter fürchten muss, dass sich Kroos, Gündoğan, Wirtz und Musiala und der als etwas zurückhängenden Spitze agierende Havertz selbst den Raum nehmen, den sie eigentlich erobern wollen. Doch gegen die Schotten fanden vor allem Kroos und Gündoğan genau die räumliche Abstimmung, die es braucht, damit beide ihre Stärken vollständig ins deutsche Spiel einbringen können – und damit auch Wirtz und Musiala die Möglichkeit haben, ihre Dribbelstärke und Unberechenbarkeit in vorderer Rolle ausspielen zu können. Dieses Manöver ist nicht zuletzt auch ein Erfolg für den Bundestrainer.
Der im Mittelfeld etwas weiter aufgerückte Gündoğan war gegen die Schotten immer wieder genau dort anspielbar, wo er anspielbar sein muss, um zwischen den Linien den letzten Pass in die Spitze spielen zu können, in die Tiefe. An den ersten drei Toren war Gündoğan maßgeblich beteiligt. Der Kapitän machte an diesem Abend eines seiner besten Spiele für die Nationalmannschaft. Auch das passte ganz gut: Denn die Nationalmannschaft machte ebenso eines ihrer besten Spiele seit Jahren, vielleicht das beste Turnierspiel seit dem EM-Viertelfinale gegen Italien 2016. Das war, wie sich im Rückblick zeigen sollte, das Ende einer großen Ära. Das 5:1 gegen Schottland könnte ein Anfang sein.