Table.Standpunkt
Erscheinungsdatum: 20. Juni 2024

Zwei EM-Spiele wie eine Befreiung: Die emotionale Wende der deutschen Mannschaft

Es hat nur zwei Spiele bei der Europameisterschaft gedauert, dass Fußball-Deutschland ein Gefühl genießt, das dem Land seit dem Triumph bei der Weltmeisterschaft 2014 abhandengekommen ist: Die Nationalmannschaft ist wieder eine Mannschaft, mit der sich die Deutschen identifizieren. Sie ist wieder ihre Lieblingsmannschaft.

Von Michael Horeni

Die neu entflammte Begeisterung, die sich nach dem 5:1-Auftaktsieg von München aus nun mit dem 2:0 gegen Ungarn in Stuttgart über das ganze Land verbreitet hat, ist schon jetzt der große Gewinn bei dieser Europameisterschaft. Eine emotionale Wende, die auch deswegen so erfrischend ist, weil sie alleine auf dem Fußballplatz entstanden ist, aus dem schönen Spiel einer Mannschaft, die die Kraft hat, dem Fußball-Land wieder gemeinsame Stunden zu schenken, womöglich sogar einen ganzen Sommer. Die beiden EM-Spielen waren wie eine Befreiung. Neues beginnt.

Auch der jahrelange Spuk um „Die Mannschaft“ ist mit dieser Europameisterschaft endgültig vorbei. Die Instrumentalisierung zu einem Elitenprodukt aus rein kommerziellen Interessen. Dass die Fans in München und Stuttgart die emotionale Rückkehr mit einem scheinbar aus der Zeit gefallenen altdeutschen Schlager „Oh, wie ist es schön“ intonieren, ist auch als sehnsuchtsvoller Ausdruck nach Anknüpfung an alten, erfolgreichen (Fußball-) Zeiten zu verstehen. Auf dem Rasen ist es mit Weltmeister Toni Kroos, der auf seine letzten Tage als Fußballprofi, dieses Bedürfnis wie kein anderer personifiziert. Und der erfolgreichste deutsche Spieler seiner Zeit hat nach dem 2:0 gegen Ungarn schon in den Katakomben von Stuttgart ganz richtig erkannt, dass diese Nationalmannschaft wieder in der Lage ist, das Land für den Moment auf eine gute Weise „anzuzünden“.

Die Mannschaft von Bundestrainer Nagelsmann hat nicht zuletzt dank Kroos wieder eine sportliche Identität, die sie auch über die Jahre vollständig verloren hatte. Und sie hat Zukunft. Auch das spüren die Anhänger. Endlich können sich die Spieler wieder entfalten, in einem festen Rahmen, den Nagelsmann von der Seitenlinie und Kroos auf dem Rasen schaffen.

Doch das Bedürfnis, den Fußball und die Nationalmannschaft nicht einfach Selbstzweck sein zu lassen, sondern für eigene Interessen zu instrumentalisieren, ist auch im Jahr 2024 nicht verschwunden. Nach dem Erfolg gegen Ungarn war es am Mittwochabend Bundestagsvizepräsidentin Karin Göring-Eckardt, die in den sozialen Medien dem Erfolg der Nationalmannschaft einen gesellschaftspolitischen Spin im Sinne ihrer Partei gegeben hat. „Stellt euch vor, da wären nur weiße deutsche Spieler“, schrieb die Grünen-Politikerin auf dem Kurznachrichtendienst X kurz nach dem 2:0-Sieg. Und versah ihre Botschaft, die sie einige Stunden später nach zahlreichen Protesten löschte, mit Regenbogensymbolen.

Es ist schon erstaunlich, nicht zu verstehen oder zu ignorieren, dass solche politischen Instrumentalisierungen Gift sind für die Nationalmannschaft, für den Fußball, für den Sport. Spätestens seit der Weltmeisterschaft in Katar und dem Desaster um die Regenbogenbinde hätte klar sein dürfen, dass solche Aktionen vor allem eins bewirken: gesellschaftliche Polarisierung und Spaltung. Zudem hat der Tweet die gesellschaftspolitische Debatte mit Blick inhaltlich auf den Nationalmannschaftsstand von vor mindestens zehn Jahre zurückkatapultiert: Damals beklagten Nationalspieler wie Boateng oder Özil (und noch früher Asamoah), dass sie in diesem Land nur Deutsche wären, wenn sie gut spielen. Und Ausländer, wenn sie schlecht spielen. Im Jahr 2024 immer noch auf Deutsche mit Migrationshintergrund in der Nationalelf hinzuweisen, wenn sie schön und erfolgreich Fußball spielen, macht aus deutschen Nationalspielern wieder Deutsche mit Migrationshintergrund.

Es wäre bei dieser Europameisterschaft viel gewonnen, wenn die Politik nun begreifen würde, dass es besser ist, sich auf die Tribüne zu setzen und in den kommenden Wochen zu staunen. Für den Rest kann diese Nationalmannschaft schon alleine sorgen. Für den Rest kann diese Nationalmannschaft schon alleine sorgen.

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Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025

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