Als Bundeskanzler Olaf Scholz am 13. Dezember 2023 im Deutschen Bundestag eine Regierungserklärung zum anstehenden Europäischen Rat abgibt, passiert etwas Ungewöhnliches: In den ersten Minuten seiner Regierungserklärung wendet sich der Kanzler nicht etwa den Herausforderungen für die EU zu, sondern ausschließlich einem EU-Mitgliedsstaat. Scholz gratuliert Donald Tusk zu seiner Vereidigung als Ministerpräsident, die am gleichen Tag stattgefunden hat. Und dann holt er weit aus, um mit viel Empathie die Chancen, die sich für die bilateralen Beziehungen, aber insbesondere auch für die Europäische Union mit der neuen polnischen Regierung ergeben, hervorzuheben. Unter anderem sagt er: „Donald Tusk hat angekündigt, Polen zurück ins Herz der Europäischen Union zu führen. Und genau da gehört Polen hin: in die Mitte Europas als unverzichtbarer Teil unserer Europäischen Union.“ Und er fährt fort: „Polens Rolle in und für Europa ist heute größer denn je.“
Dass Olaf Scholz eine Regierungserklärung nutzt, um vor dem Deutschen Bundestag die neue polnische Regierung zu würdigen, zeigt, dass er sich der historischen Chance, die sich für Europa und die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Polen mit der neuen Regierung in Warschau aufgetan hat, sehr bewusst ist. Und doch stellt sich genau an dieser Stelle eine ganz entscheidende Frage, die nicht nur für Deutschland und Polen, sondern für ganz Europa von eminenter Bedeutung ist:
Inwiefern ist sich Deutschland, ist sich die Bundesregierung darüber im Klaren, dass der Sieg der demokratischen Kräfte bei den Sejm-Wahlen am 15. Oktober 2023 und die daraus hervorgegangene neue Regierung nicht nur als hoffnungsvolle Wendung der Geschichte, sondern als eine große Chance und Bewährungsprobe gleichermaßen für die Bundesrepublik Deutschland selbst begriffen werden müssen?
Die Freiheitsliebe des polnischen Volkes hat der amtierenden Bundesregierung die einmalige historische Chance eröffnet, Versäumnisse der deutschen Vorgängerregierungen aufzuarbeiten. Mit einem beherzten Eintreten für die Sicherheit Polens, einer Würdigung seines Beitrags zur Sicherung der EU-Ostgrenze und einer Aufarbeitung der blinden Flecken im deutschen historischen Bewusstsein für die unglaublichen Verbrechen, die Deutsche in Polen zwischen 1939 und 1945 begangen haben, würde Deutschland nicht nur bei vielen Menschen in Polen wieder einiges von dem Ansehen zurückerlangen, welches es mit seiner falschen und gefährlichen Russlandpolitik verspielt hat. Berlin würde darüber hinaus der neuen polnischen Regierung die Möglichkeit verschaffen, so eng wie vielleicht noch nie mit der deutschen Seite zu kooperieren.
Eine solche Zeitenwende in den deutsch-polnischen Beziehungen wäre nicht nur ein Segen für die Menschen auf beiden Seiten von Oder und Neiße. Sie ist angesichts der derzeitigen multiplen Gefährdungen für den „European Way of Life“ vielmehr eine historische Notwendigkeit, um die Freiheit in Europa gegen ihre inneren und äußeren Feinde zu verteidigen.
Deshalb muss jetzt der Bundeskanzler selbst mit viel Mut und Empathie die Initiative ergreifen und seine Richtlinienkompetenz im Sinne dieser historischen Chance in die Waagschale werfen. Die folgenden fünf Punkte sollte Olaf Scholz zur Chefsache machen und beherzt angehen:
1. Für Eure und unsere Freiheit!
Angesichts des brutalen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und der Bedrohung von Frieden und Freiheit in Europa sollte Deutschland, über das bisher schon in beachtlicher Weise Geleistete hinaus die Verteidigungsfähigkeiten der östlichen Flanke der NATO auch in Polen substanziell stärken, insbesondere im Bereich der Luftabwehr. Deutschland könnte sich hier der Unterstützung der jetzigen polnischen Regierung gewiss sein und würde mit solch einem Vorstoß (nicht nur) in Polen das Vertrauen in Deutschland wesentlich stärken. Wer einen solchen Vorstoß mit dem Hinweis auf die Kosten nicht wagt, hat immer noch nicht verstanden, dass man die Verteidigung der Freiheit nicht von der Haushaltslage abhängig machen kann.
2. Für eine echte humanitäre Geste
Die Bundesregierung hat Vorschläge entwickelt, wie eine angemessene humanitäre Geste gegenüber den in Polen noch lebenden Opfern der verbrecherischen deutschen Besatzung zwischen 1939 und 1945 aussehen könnte. Solch eine Geste sollte im Sinne der Wiedergutmachung, auch wenn diese mit keinem Geld der Welt erreicht werden kann, schnell auf den Weg gebracht werden. Und sie sollte mehr als nur symbolischer Art sein, sondern die noch lebenden Menschen materiell deutlich spürbar entlasten.
3. Für eine Aufarbeitung der blinden Flecken der Vergangenheit
Es ist die Aufgabe der heute Verantwortung tragenden politischen Generation, die deutschen Verbrechen in Polen in das Bewusstsein der deutschen Gesellschaft zu rücken. Das sind wir den polnischen Opfern schuldig, und das dürfen die heute lebenden Polinnen und Polen zurecht von uns erwarten. Deshalb sollte die Bundesregierung gemeinsam mit dem Deutschen Bundestag schnell die Voraussetzungen dafür schaffen, dass nicht nur das sogenannte Deutsch-Polnische Haus, sondern insbesondere ein Denkmal, welches der polnischen Opfer der unbeschreiblichen Verbrechen während der deutschen Besatzung zwischen 1939 und 1945 gedenkt, konsequent und zügig realisiert werden.
4. Für mehr Unterstützung der zivilgesellschaftlichen Akteure
Als sich die deutsche und die polnische Regierung erstmals nach sechs Jahren am 2. Juli in Warschau wieder zur Regierungskonsultation trafen, wurde ein Aktionsplan verabschiedet, der gerade auch zivilgesellschaftlichen Akteuren eine große Bedeutung zumisst. Allerdings findet sich dieses Bekenntnis im Haushaltsentwurf 2025 der Bundesregierung in keinster Weise wieder. Deutsch-polnische Akteure, wie der Bundesverband der Deutsch-Polnischen Gesellschaften, das Deutsche Polen-Institut, das Deutsch-Polnische Jugendwerk oder gerade auch die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit sollten im Bundeshaushalt jetzt mit mehr Mittel ausgestattet werden, die diese dann auch ohne die üblichen bürokratischen Hürden zielgerichtet einsetzen können.
5. Für einen neuen deutsch-polnischen Vertrag
Mit dem Vertrag von Aachen haben Deutschland und Frankreich ein neues Kapitel ihrer Beziehungen aufgeschlagen. Dieser Vertrag stellt eine Weiterentwicklung des Élysée-Vertrages dar, die den neuen Realitäten Rechnung trägt und auch die parlamentarischen Beziehungen zwischen beiden Ländern auf eine höhere Ebene bringt. Deutschland und Polen sollten aber nicht erst warten, bis der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag so alt wie der damalige Élysée-Vertrag geworden ist, bevor sie sich ans Werk machen und einen neuen deutsch-polnischen Vertrag miteinander entwickeln. Mit einem solchen neuen Vertrag könnten Polen und Deutschland dringend notwendige Impulse zur Verteidigung von Frieden und Freiheit auf unserem Kontinent gegen die inneren und äußeren Feinde der offenen Gesellschaft setzen.
In diesen Zeiten der Bedrohung von Frieden und Freiheit in Europa nicht mit Worten, sondern mit Taten auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, ist das Gebot der Stunde. Mit dem polnischen Premierminister Donald Tusk hat Olaf Scholz jetzt den Partner an seiner Seite, dessen es bedarf, um das historisch Notwendige zu tun – jetzt oder nie!
Dietmar Nietan, 60, ist SPD-Bundestagsabgeordneter aus dem Wahlkreis Düren und Polen-Beauftragter der Bundesregierung