Table.Standpunkt
Erscheinungsdatum: 22. April 2025

Aufbruch durch Verlässlichkeit

Die neue Koalition braucht nicht die eine neue Fortschritts-Großerzählung, sondern muss Verlässlichkeit, Sicherheit und Orientierung bieten, schreibt Julia Reuschenbach in ihrem Gastbeitrag.

Klar, neue Bündnisse brauchen gemeinsame Überzeugungen und Perspektiven, sie müssen gemeinsame in eine Richtung schauen. Aber braucht die neue Koalition nun eine große neue Erzählung, dieses eine große Narrativ? Die einst als „Fortschrittskoalition“ gestartete Ampel hat gezeigt was passieren kann, wenn Erzählungen von den Beteiligten nicht überzeugend getragen und verkörpert werden. „Fortschritt“ klingt für viele schon länger nicht mehr nach einer verheißungsvollen Zukunft. Im Gegenteil: In Teilen der Gesellschaft hat sich eine regelrechte Fortschrittsaversion entwickelt. Der Soziologe Steffen Mau diagnostiziert für weite Teile der Gesellschaft Ostdeutschlands eine starke Veränderungserschöpfung. Und die verbliebenen Fortschritts-Fans befürchten angesichts dessen einen – so der vielfach verwendete Begriff – „Backlash“ mit Blick auf die erreichten Fortschritte in den gut drei Ampel-Jahren.

Braucht es nun also eine neue weitere Großerzählung, um dies alles zusammenzubinden? Eher nein – zumindest nicht im klassischen Verständnis neuartiger Narrative. Stattdessen braucht es Aufbruch durch Verlässlichkeit, also eine neue Sicherheitserzählung in einer Welt, in der so viele Gewissheiten und Sicherheiten aufgekündigt, infragestellt und angezweifelt werden. Die Erosion der Verlässlichkeit während der Ampel-Jahre war Gift für den gesellschaftlichen Zusammenhalt – daran hatte die Regierung, aber auch die Opposition ihren Anteil. Wenn nahezu nichts mehr sicher ist, ist sich schnell jeder selbst der Nächste. Die Erosion ist dabei nicht in erster Linie auf den politischen Streit zurückzuführen. Bürgerinnen und Bürger sind klug genug zu wissen, dass bei drei so unterschiedlichen Partnern Streit dazugehört. Das Kernproblem war vielmehr, dass in nächtelangen Sitzungen mühsam errungene Kompromisse und Lösungen nicht nachhaltig galten. Via Stoppuhr konnte man oft binnen kürzester Zeit den Moment abpassen, in dem ein Koalitionär die erreichte Einigung wieder infragestellte.

Das zu ändern, müsste der erste von fünf Bausteinen in der Verlässlichkeits-Erzählung der neuen Koalition sein. Der Blick auf die jüngsten öffentlichen Debatten um den Koalitionsvertrag verheißen für diesen ersten Punkt indes bislang nichts Gutes: Mindestlohnerhöhung, Zurückweisungen an den Grenzen, Steuersenkungen – wichtige gemeinsam verabredete Vorhaben sind schon jetzt zum Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzung geworden. Einigkeit mit der Halbwertzeit einer Kugel Eis an heißen Sommertagen.

Ein zweiter Baustein sollte darin bestehen als Koalition nicht nur Leuchtturmprojekte zu fördern, sondern in erster Linie selbst Leuchtturm zu sein. Leuchttürme verhindern keinen schweren Seegang, aber sie geben Orientierung, auch wenn die Wellen hochschlagen. Es geht dabei nicht darum Eigenverantwortung zu minimieren – im Gegenteil. Gerade wer mehr Eigenverantwortung und damit auch (wieder) mehr Risikobereitschaft einfordert, muss dafür einen verlässlichen Rahmen und Orientierung bieten. Um Orientierung geben zu können und zu wollen, braucht es Mut.

Mut, wo nötig auch Zumutungen zu kommunizieren, aber auch Mut die Politik der letzten Jahre nicht nur als „links-woke“ abzutun, sondern Erfolge – etwa beim Ausbau erneuerbarer Energien – als Erfolge gelten zu lassen und eigene Politik darauf aufzubauen. „Jünne künne“ („gönnen können“) wie man in Köln sagen würde. Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich hat jede Regierung das gute Recht unter der Überschrift eines „Politikwechsels“ politische Entscheidungen der Vorgängerregierungen einer Revision zu unterziehen. Bedeutsam ist dabei aber – wie vor einigen Tagen schon Katharina Riehl in der SZ schrieb – die Halbwertszeit politischer Entscheidungen. Zurückdrehen und Abschaffen – klar, kann man machen. Darunter leidet jedoch genau die hier eingeforderte Verlässlichkeit.

Bestes Beispiel: das Gebäudeenergiegesetz. Einst von einer GroKo aus Union und SPD verabschiedet, durch die Ampel und maßgeblich Robert Habeck weiterentwickelt und von „Heizhammer-Kampagnen“ (auch aus Reihen der Union sekundiert), soll jetzt laut Koalitionsvertrag ein „neues Gebäudeenergiegesetz“ entstehen und ein „Heizungsgesetz“ abgeschafft werden, das es nie gegeben hat. Auf der Strecke bleiben bei der nunmehr fast zweijährigen Debatte vor allem Verlässlichkeit und Sicherheit für Bürgerinnen und Bürger. Zahlen im ARD-Deutschlandtrend mahnten schon im Sommer 2023, dass die Anhängerschaften aller Parteien (Regierung wie Opposition) die politische Debatte vor allem als parteitaktische Spielereien bewerteten und über sich selbst sagten, leider nicht zu wissen, was das GEG denn nun für sie konkret bedeute.

Vom privaten Heizungsbesitzer, über die Wärmepumpenhersteller bis zum kleinen Handwerksbetrieb, in dem man Verbrenner fährt – Menschen brauchen Verlässlichkeit. Kein Unternehmer oder Behördenchef könnte seinen Leuten erklären, dass man mühsam getroffene Entscheidungen nicht erst einmal einer Prüfung in der Praxis aussetzt, bevor man bewertet, modifiziert oder Regelungen schlicht wieder abschafft. Es ist zu vermuten, dass große Teile der Bevölkerung nicht gleich auf die Barrikaden gehen, wenn eine politische Entscheidung in der Praxis erprobt werden soll, solange sie klar und eindeutig wissen, woran sie sind und was sie erwartet. Staatsmodernisierung sollte in dieser Erzählung daher auch heißen: Verlässliche und effiziente Evaluationsstrukturen zu schaffen, damit eine bessere Fehlerkultur zu etablieren, um langfristige resilientere Politik machen zu können.

Unsere Gegenwart verlangt von Politik eine herausfordernde Mischung aus Agilität und Stabilität. Wer verlässlich ist, gilt als vertrauenswürdig. Entscheidungen von Donald Trump, der Krieg in der Ukraine und anderes werden auch in den nächsten Jahren ad-hoc Erfordernisse erzeugen und agiles politisches Handeln erfordern. Hier lohnt – für einen dritten Baustein – der Blick in den Duden. Er listet für „Verlässlichkeit“ die Synonyme „Authentizität, Gründlichkeit, Sicherheit, Sorgfalt“ auf. Die Liste verdeutlicht, was kur- und langfristige politische Entscheidungen der Koalition auszeichnen muss. Schnellschüsse, nicht zu Ende Gedachtes und öffentliche Streitereien mit dem verführerischen Ziel kurzfristiger parteipolitischer Geländegewinne, sollten bestenfalls aus dem Koalitions-Kanon verschwinden.

Der vierte Baustein: Das gemeinsame Werben für ein neues Kompromiss-Verständnis. Es ist ein weitverbreitetes Missverständnis, dass Kompromisse der Aufgabe der eigenen Prinzipien gleichkommen und die Unterscheidbarkeit zwischen Beteiligten minieren. Denn anders als bei einem Konsens, ist der Kompromiss gerade nicht darauf aus. Mit ihm sollen die unterschiedlichen Positionen erhalten werden und sichtbar bleiben, während man in der Sache selbst durch wechselseitige Zugeständnisse eine Lösung erzielt, statt im Stillstand oder Streit zu enden. Kompromisse wertzuschätzen, sie nicht per se als Mittelmaß oder als unerwünscht zu kennzeichnen, ist ebenfalls Ausweis von Verlässlichkeit. Denn Bürgerinnen und Bürger erleben tagtäglich im Beruf und Privaten die Kompromiss-Notwendigkeiten einer individualisierten, heterogenen und vielfältigen Gesellschaft. Sie müssen sich darauf verlassen können, dass Politik immer wieder aufs Neue den Interessenausgleich sucht und nicht im Sinne der gefährlichen Verlockung vermeintlich schneller und einfacher Lösungen, Gruppen übergeht oder „kompromisslos“ eigene Interessen durchsetzt.

„Kompromisslos“ erinnert an die Abstimmung in der letzten Plenarwoche Ende Januar dieses Jahres. „Keine Kompromisse“ hatte der Kanzler in spe in Sachen Migration ausgerufen und eine Abstimmungsmehrheit mit der AfD in Kauf genommen. Fünftens heißt Verlässlichkeit daher in diesem Punkt: Klarheit. Die Abgrenzung zur AfD ist für die Koalition essenziell und sie wird von überragenden Mehrheiten ihrer Wählerschaften unterstützt. Auch in der Gesamtbevölkerung hat die Angst vor einem Erstarken der AfD in den letzten Jahren deutlich zugenommen, so eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung. Der neurechte Vordenker der AfD, Götz Kubitschek, schrieb schon 2006: „Unser Ziel ist nicht die Beteiligung am Diskurs, sondern sein Ende als Konsensform, nicht ein Mitreden, sondern eine andere Sprache, nicht der Stehplatz im Salon, sondern die Beendigung der Party“. Darauf, dass mit den Anhängern solchen Gedankenguts politisch keine Mehrheiten gefunden und kein „normaler Umgang“ gepflegt wird, sollten sich die Menschen verlassen können.

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Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025

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