Die Bundesregierung hat sich nach langem Ringen auf einen Kompromiss beim Bau neuer Kraftwerke verständigt. Insgesamt sollen neue Erdgas-Kraftwerke mit zunächst zehn Gigawatt Leistung errichtet werden, wie Kanzleramt, Wirtschafts- und Finanzministerium mitteilten. Das entspricht etwa 20 Kraftwerken. Das Wirtschaftsressort sagte aber, es würden Gespräche geführt, ob weitere Anlagen gebraucht würden. 2032 soll festgelegt werden, wann ab 2035 die Anlagen vollständig auf Wasserstoff umgestellt werden. Damit ist absehbar, dass ein vor allem von den Grünen bis 2035 angepeilter CO₂-freier Energiesektor kaum zu erreichen sein dürfte. Zu den Kosten äußerte sich das Wirtschaftsressort nicht näher. In einem Papier des Finanzministeriums hieß es, diese würde aber weit unter den vom Wirtschaftsressort zunächst geplanten Ausgaben liegen.
Energiebranche und Wirtschaft reagierten erleichtert, dass endlich eine erste Einigung vorliege. „Dies ist ein entscheidender Baustein für einen erfolgreichen Weg in Richtung Klimaneutralität bei gleichzeitiger Wahrung der Versorgungs- und Systemsicherheit “, sagte Kerstin Andreae, Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbandes der Energiewirtschaft (BDEW). „Nun muss dringend Klarheit für die Investoren geschaffen werden. Die Finanzierungsfrage muss ebenso schnell geklärt werden wie die beihilferechtliche Sicherheit sowie die Standortfrage.“
Der Energie-Konzern Uniper erklärte, er gehe davon aus, dass er einen Teil der neuen Kapazitäten für Deutschland bauen werde. „Sobald wir die Details prüfen konnten, werden wir entscheiden, ob und mit welchen Investitionen wir uns beteiligen“, sagte Vorstandschef Michael Lewis. Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) kritisierte die Einigung scharf: Der Schwerpunkt liege auf dem Neubau fossiler Kraftwerke. Die Umrüstung sei unklar, die Anlagen müssten wohl auch nicht mit klimaneutral erzeugtem Wasserstoff betrieben werden. Es sei ein Konjunkturprogramm für die Erdgas-Lobby.
Finanzminister Christian Lindner und die FDP konnten sich auch bei anderen Fragen durchsetzen: So wurde vereinbart, dass bis 2028 ein sogenannter Kapazitätsmechanismus greifen soll. Dabei wird nicht nach Kilowattstunde abgerechnet, sondern auch eine bereitgestellte Leistung vergütet, selbst wenn sie nicht gebraucht wird. „Eine politische Einigung darüber soll innerhalb der Bundesregierung bis spätestens Sommer 2024 erzielt werden“, teilte die Regierung mit. Auch die Fraktionen im Bundestag sollen in die Debatte um das Strommarktdesign einbezogen werden. Ein solches System muss allerdings von der EU genehmigt werden, was erfahrungsgemäß sehr lange dauert. Belgien benötigte beispielsweise mehr als zwei Jahre.
Offen bleibt zudem die Option, auch Wasserstoff einzusetzen, bei dessen Erzeugung mit Strom etwa aus Gas vorher das Kohlendioxid abgetrennt und gespeichert wird (CCS). Diese CCS-Option vertritt die FDP vehement, auch Habeck war hier zuletzt eingelenkt, was den Einsatz in der Industrie angeht. Jetzt soll die Möglichkeit auch bei Erdgaskraftwerken direkt bestehen. Dies trifft nicht nur bei Grünen, sondern auch in der SPD auf Skepsis.
Vorgesehen sind Ausschreibungen für die Anlagen: Wer die geringsten Subventionen verlangt, erhält den Zuschlag. Ein Betrieb ohne Förderung gilt als unwirtschaftlich, da die Anlagen über die Jahre voraussichtlich nur wenig laufen werden. Der überwiegende Anteil des Stroms wird aus Wind- und Solarenergie kommen. Die Kostenschätzungen aus der Branche beliefen sich zuletzt auf bis zu 40 Milliarden Euro bis Mitte der 30er Jahre, wobei aber rund 30 Gigawatt an Leistung (etwa 60 Kraftwerke) angenommen wurde.
Im Papier des Finanzministeriums heißt es, das Ausschreibungsvolumen sei im Vergleich zu ursprünglichen Plänen von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) klein. Die nun vorgesehenen Ausgaben für die öffentliche Förderung von neuen Anlagen werden weit unter den ursprünglichen Plänen des Wirtschaftsministeriums bleiben. So spielten die teuersten Kraftwerkstypen, die von Anfang an zu 100 Prozent mit Wasserstoff laufen sollten, keine große Rolle mehr.
Zudem werde moderne Kraftwerkstechnologie verstärkt in der Forschung gefördert, heißt es im Regierungspapier. Dies soll auch die Kernfusion einschließen. Das Wirtschaftsministerium erklärte jedoch, die Kernfusion spiele in den Überlegungen für eine klimaneutrale Zukunft bis 2045 keine Rolle. Hemmnisse beim Bau von Elektrolyse-Anlagen zur Herstellung von Wasserstoff sollen beseitigt, Doppelbelastungen auf Strom zur Speicherung und Elektrolyse vermieden werden. Planung und Genehmigung der Anlagen sollen beschleunigt und die Vorhaben mit der EU-Kommission abgestimmt werden.
Die Regierung hatte über Monate um eine Verständigung gerungen. Im Kern geht es bei der geplanten Strategie um den Bau von Gaskraftwerken, die die wachsende, aber schwankende Einspeisung von Wind- und Solarstrom ausgleichen sollen. Zug um Zug sollen die Anlagen auf klimafreundlichen Wasserstoff umgestellt werden, der aber für lange Zeit deutlich teurer als Erdgas sein dürfte. An der Umsetzung der Strategie hängt auch, ob Deutschland wie vor allem von den Grünen gefordert bis 2030 das letzte Kohlekraftwerk abschalten kann. rtr