Interview
Erscheinungsdatum: 05. Februar 2025

Svenja Schulze: „Ich habe mich in Syrien richtig geschämt"

Entwicklungshilfeministerin Svenja Schulze über ihre Reise nach Syrien, das deutsche Image im Land, die Forderung, syrische Geflüchtete zeitnah wieder zurückzuschicken und den Temperatursturz, den Donald Trump im Nord-Süd-Verhältnis auslöst

Sie waren vor Kurzem in Syrien, um sich einen eigenen Eindruck über die Situation zu verschaffen. Wie ist die Lage?

Ja, wir waren dort, und es war eine sehr zwiespältige Erfahrung. Wir sind auf der einen Seite unglaublich freundlich empfangen worden, und es gab sehr konstruktive Gespräche mit der Übergangsregierung. Die Syrer waren sehr gut vorbereitet, und sie wollen kooperieren. Sowohl der Gesundheitsminister als auch der Außenminister haben sehr klar gemacht, dass sie eine Regierung bilden wollen, die alle einbezieht.

Und auf der anderen Seite?

Eine unglaubliche Zerstörung. Wir waren in einem Stadtteil von Damaskus, den das Assad-Regime hat beschießen lassen, um Regimegegner zu vertreiben. Aber nicht nur das. Dann wurde alles abgeriegelt, alles rausgeholt und geplündert. Sie haben selbst das Metall aus den Betonwänden gekratzt, auch in den Kirchen, in den Moscheen und Synagogen. Und wenn man in einer derart verwüsteten Situation steht, wo 500.000 Menschen gelebt haben..…

…haben Sie was gedacht?

An die deutsche Diskussion. An die Forderungen, dass die syrischen Flüchtlinge jetzt ja zurück können – und zwar schnell. Ich habe da gestanden und mich richtig geschämt. Weil es da einfach nichts gibt, keine Schule, kein Wasser, keine Gesundheitsversorgung, kein Strom, nichts. Wie sollen die Leute dahin zurückgehen? Deshalb: Wenn man wirklich will, dass die Menschen zurückkehren und viele von den Syrern wollen das ja auch, muss man das Schritt für Schritt tun. Dann muss es Strom geben, Wasser und Schulen für die Kinder. Ohne eine Form von Perspektive ist das alles sehr, sehr schwierig.

Erwartet denn die Regierung, dass die syrische Diaspora, die ja nicht klein ist, zurückkehrt?

Natürlich möchte diese Übergangsregierung möglichst viele Syrerinnen und Syrer zurückholen. Der Außenminister hat aber auch sehr klar gesagt, dass sie in einem ersten Schritt diejenigen holen wollen, denen es sehr schlecht geht. Das sind die, die an den Grenzen unter schwierigen Bedingungen in Camps leben.

Aber sind das die Leute, die das Land wieder aufbauen?

Er hat sehr deutlich gemacht, dass sie Schritt für Schritt vorgehen müssen, damit nicht alles zusammenbricht. Man muss sich vorstellen: In einem Staat, der so lange eine Diktatur war, wo so viele Menschen verschwunden sind, wo so viel zerstört ist, lassen sich nicht alle Probleme gleichzeitig lösen.

Wie waren Ihre Erfahrungen auf den Straßen in Damaskus?

Wir haben als Deutsche ein großartiges Standing in Syrien. Wir waren in einem Cafe, um die Chefin vom Welternährungsprogramm (WFP) zu treffen. Da wollte der Cafebesitzer unbedingt ein Foto, weil seine Schwester in Düsseldorf lebt. Oder auf der Straße haben Leute gehört, dass wir Deutsch sprechen und uns „Danke“ zugerufen.

Danke wofür?

Für die Aufnahme, aber auch für die Arbeit. Es wird schon wahrgenommen, dass wir beispielsweise im Norden, im Raum Idlib und der Erdbebenregion, im Gesundheitswesen viel gemacht haben. Man weiß, was Deutschland kann, und die Kompetenz wird sehr anerkannt. Sie wissen, auf was man sich bei einer Zusammenarbeit mit den Deutschen einlässt – auf Verlässlichkeit und Kompetenz.

Spielt auch eine Rolle, dass wir – wie etwa in Koblenz – auch syrische Straftäter aburteilen?

Es wird wahrgenommen, dass wir mithelfen wollen bei der Aufarbeitung. Es sind über 100.000 Menschen verschwunden, in jeder Familie ist mindestens ein Angehöriger spurlos verschwunden. Solange man aber nicht weiß, ob sie wirklich tot sind, hofft man immer noch, dass sie doch irgendwo noch auftauchen. Wenn es einen Friedensprozess in dieser Gesellschaft geben soll, dann ist ganz zentral, dass die Verbrechen aufgearbeitet werden, in welcher Form auch immer.

Außenministerin Annalena Baerbock hat ja angekündigt, bei der Aufarbeitung zu unterstützen.

Absolut. Das ist das eine. Einen anderen Hebel haben wir bei uns im Ministerium. Es sind ja unglaublich viele Menschen enteignet worden. In dem Stadtteil, von dem ich sprach, hat man allein 500.000 Menschen ihre Wohnung genommen. Und zudem alle Nachweise zerstört, wem die Wohnungen einmal gehört haben. Wir haben zusammen mit der syrischen Zivilgesellschaft so viele Katasterdaten wie irgend möglich gerettet und der IOM, der Internationalen Organisation für Migration, übergeben. Dort wurden sie digitalisiert und können jetzt zur Verfügung gestellt werden. Als Nachweise für die zwangsweise Enteignung.

Welche Erwartungen hat die neue Regierung an Deutschland?

Der Außenminister hat sehr darum gebeten, dass wir helfen, das Gesundheitssystem aufzubauen und dabei, dass die Kinder in die Schule gehen können. Im Moment, sagt Unicef, besteht die Gefahr, dass die Hälfte der syrischen Kinder ohne Schulbildung aufwächst. Das ist eine furchtbare Vorstellung für ein Land, das mal ziemlich reich war und ein wirklich gutes Bildungssystem hatte. Das merken wir ja auch an den vielen sehr gut ausgebildeten Syrerinnen und Syrer bei uns.

Wie sieht also die Zusammenarbeit aus?

Wir können nicht offiziell kooperieren, erst einmal muss eine richtige Regierung ins Amt kommen. Wir haben aber lange Erfahrung aus der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit. Da wollen wir anknüpfen und zum Beispiel Klinikpartnerschaften aufbauen. Und das hilft dann, dass die Syrerinnen und Syrer in Deutschland, die im Gesundheitssystem arbeiten, dazu beitragen, das Gesundheitssystem dort aufzubauen. Durch Trainings, durch unmittelbare Beratung, dadurch, dass man die Kliniken auch wieder mit den richtigen Materialien ausstattet.

Wann soll es damit losgehen?

Dazu veranstalten wir kommende Woche einen Kongress in Berlin mit deutschen Klinikchefs, der Diaspora, und über 300 syrischen Ärztinnen und Ärzten, um diese deutsch-syrische Klinikpartnerschaft ins Leben zu rufen.

Gibt es auch überzogene Erwartungen auf syrischer Seite?

Es gab eine gewisse Irritation über das Bildungssystem. Wir haben ganz klar gesagt: Wenn wir helfen, Schulen aufzubauen, müssen das Schulen für alle Kinder sein. Keine ideologischen Schulen, sondern Schulen für alle Religionsgemeinschaften, für alle Menschen aus der Region. Es gab erste Dekrete vom Bildungsminister, die in eine andere Richtung gingen. Das ist inzwischen korrigiert. Die Übergangsregierung ist gerade noch in einem Findungsprozess.

Können und sollen wir uns in die Curricula anderer Länder einmischen?

Nein, das müssen wir auch nicht. Aber wir müssen schon sagen, was für uns wichtig ist. Ich will keine Koranschulen finanzieren. Man darf da nicht naiv rangehen, und da sind wir uns auch mit Unicef sehr einig. Es ist alles im Moment noch sehr auf der Kippe und nicht klar, in welche Richtung das Land geht.

Haben Sie auch über Abschiebe- und Rückkehrflüge gesprochen? Ist die syrische Regierung bereit, Landsleute, die wir nicht mehr haben wollen, zurückzunehmen?

Darüber haben wir noch nicht gesprochen. Die Regierung ist ja gerade erst im Amt und fängt erst einmal an zu funktionieren. Alles vor dem Hintergrund von 50 Jahren Terrorregime und 14 Jahren Bürgerkrieg. Selbst wenn ein neuer Minister ins Amt kommt, ist ja kein neues Personal da, sondern er muss ja erst mal gucken, mit wem er zusammenarbeiten, wem er vertrauen kann. Deswegen sind Verhandlungen darüber noch schwierig.

Und dennoch: Der Druck in Deutschland ist groß. Es geht ja vor allem um die, die sich nicht an die Regeln halten.

Wie soll man das organisieren? Es gibt noch keine Flüge, keine funktionierenden Flughäfen. Alle, die das so leichtfertig fordern, sollen dann auch sagen, wie das geht. Dass Straftäter hier ihr Aufenthaltsrecht verwirkt haben, ist doch selbstverständlich. Aber es muss auch organisiert werden können. Und das geht nur schrittweise und mit Zusammenarbeit.

In Deutschland arbeiten 5.000 bis 6.000 syrische Ärzte. Sollen die jetzt alle zurückkehren?

Das sind nur die mit syrischer Staatsangehörigkeit. Wenn wir die mit syrischen Wurzeln dazu zählen, sind es noch mal deutlich mehr. Wenn alle Mediziner und außerdem alle Pflegerinnen und Pfleger gleichzeitig gehen würden, wäre das eine Riesenherausforderung für unser System. Das können wir nicht wollen, und deswegen ist es wichtig, Brücken zu bauen. Also etwa die Möglichkeit, sich von Deutschland aus für den Neuanfang in Syrien zu engagieren.

Sie wurden bei Ihrer Reise von einem syrischen Arzt aus dem Ruhrgebiet begleitet. Wollen die syrischen Mediziner denn überhaupt zurück?

Das war sehr interessant. Als wir in diesem zerstörten Stadtteil waren, haben ihn die Dorfchefs gefragt, wie die Syrer denn in Deutschland behandelt werden. Und dann hat er ehrlich erzählt, dass es in Deutschland nicht ganz einfach ist ohne Ausbildung auf dem Arbeitsmarkt. Aus seinem Umfeld würden viele zurückgehen wollen – aber wohin, wenn alles zerstört ist? Viele wissen auch nicht, ob es noch Familienangehörige gibt. Und nach 20 Jahren in Deutschland nimmt man ja nicht einfach die Kinder aus der Schule und geht irgendwo hin, wo es keine Bildung gibt.

Und der Arzt, der Sie begleitet hat – will er zurück?

Er sagt, je länger man in Syrien gelebt hat, desto eher will man auch wieder zurück. Er selbst hat 20 Jahre in Aleppo verbracht, dann 20 Jahre in Deutschland, hat hier studiert, geheiratet. Also: Die, die lange in Syrien gelebt haben und erst vor kurzem gekommen sind, wollen auch eher wieder zurück.

Kann sich Syrien selbst versorgen? Die explodierenden Brotpreise in Syrien waren einmal Anlass für den Arabischen Frühling.

Ich habe wie gesagt auch die Chefin des Welternährungsprogramm getroffen. Was sie erzählt hat, klang sehr bedrohlich. Das Assad-Regime hatte die Brotpreise subventioniert. Das macht das neue Regime nicht mehr – weil sie gar kein Geld dafür haben. Und jetzt bricht im Grunde eine ganze Kette zusammen, die mit dem Brot zu tun hat. Das ist totaler Sprengstoff.

Und wer hilft?

Das Welternährungsprogramm versucht, die Mühlen und Bäckereien wieder zu stabilisieren, so dass die wieder Brot backen und verkaufen können. Da werden wir jetzt auch mithelfen.

Sind das die zehn Millionen Euro, die Sie angekündigt haben? Ist das nicht ein bisschen homöopathisch?

Stimmt, das ist nicht viel. Aber dem WFP hilft das sehr. Denn die WFP-Chefin kann damit zu den anderen gehen und sagen, schau, Deutschland hat auch zehn Millionen gegeben, gib doch wenigstens fünf oder acht Millionen. Das anzustoßen helfe ihr enorm beim Einsammeln des Geldes. Einer muss nun mal anfangen. Insofern war das WFP sehr dankbar für unseren Beitrag.

Ein anderes Thema: Der neue US-Präsident verschafft sich gerade mit seinem ruppigen Vorgehen viele Gegner in den Ländern des globalen Südens. Wie wird sich das auf das Nord-Süd-Verhältnis auswirken, in dem Deutschland ja durchaus eine Rolle spielt?

Wenn man die gesamte Entwicklungszusammenarbeit erst mal auf Null stellt, USAID, die größte staatliche Entwicklungseinrichtung der Welt, auflöst, und internationale Organisationen verlassen will, hat das natürlich massive Folgen.

Und der Austritt aus der Weltgesundheitsorganisation?

Da sieht man schon jetzt, dass sich das gar nicht durchhalten lässt. Wenn man alle Impfprogramme stoppt, wohl wissend, dass die nächste Pandemie schnell wieder da sein kann, macht das wenig Sinn. Die ersten Entscheidungen sind ja auch schon wieder aufgehoben worden.

Aber es verschiebt sich etwas im Nord-Süd-Dialog – oder ist der Eindruck falsch?

Natürlich verschiebt sich etwas, wenn in einem so großen Land jemand drankommt, der nicht mehr auf gemeinsame Arbeit setzt, sondern „America first“ zum Prinzip erhebt. Die Antwort von uns kann nur sein: Europe United. Wir müssen die Stärken, die Europa hat, Trump sehr selbstbewusst deutlich machen. Wir haben schließlich eine Menge anzubieten, Dinge, die auch für die USA wichtig sind.

Im Verhältnis USA-Lateinamerika ist offenbar schon etwas passiert.

Ja, weil für Trump jeder, der die US-Grenze ohne Papiere übertritt, ein Straftäter ist. Aber die Regierungen in Lateinamerika müssen ja nicht mit ihm zusammen arbeiten. Präsident Trump glaubt ja, „America first“ heißt, alle tun, was Amerika sagt. Da irrt er sich, es gibt durchaus Alternativen und eine ist eben auch Europa.

Machen Sie schon Angebote?

Diese Bundesregierung hat enge Kontakte nach Lateinamerika geknüpft, gerade auch zu Lula in Brasilien. Wir brauchen die Verbindungen nicht nur nach Afrika, sondern eben auch nach Lateinamerika.

Auch China wartet nur darauf, in die Lücke zu springen.

Das ist so. Und wenn sie Projekte finanzieren können, wird ihre Rolle noch wichtiger werden.

Wie hält Europa dagegen?

Wir haben allen Grund, sehr selbstbewusst zu sagen, wir wollen auch international eine Rolle spielen. Wir werden nicht monetär alles ersetzen können, was die USA aufgeben. Aber ich habe mit der Weltbank-Reform gemeinsam mit Mitstreitern neue, innovative Wege ermöglicht, mit begrenzten öffentlichen Mitteln deutlich mehr Geld für globale Zusammenarbeit zu organisieren. Das müssen wir intensivieren. Auch Olaf Scholz arbeitet seit drei Jahren erfolgreich daran, neue Partnerschaften aufzubauen. Das ist leadership, und das müssen wir weiter tun.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
Teilen
Kopiert!