Herr Gassen, wie froh sind Sie, dass die Ampel zerbrochen ist?
Ich glaube, so froh wie fast jeder in diesem Land. Es war eine Regierung, die von vielen – ich eingeschlossen – durchaus mit Hoffnungen auf die Reise geschickt wurde. Es war eine neue Konstellation, von der man dachte, vielleicht kann da was draus entstehen, gerade aus der Spannung unterschiedlicher Positionen, dass man da eine vernünftige Lösung hinkriegt. Aber leider ist genau das Gegenteil eingetreten. Es ist nicht wirklich was passiert. Sie haben viel gestritten. Führung in der Ampel gab's gar nicht. Insofern war das jetzt überfällig.
Die Ampel hat sich auf den letzten Metern vor der Wahl noch auf die Entbudgetierung der Hausärzte geeinigt, was Sie lange gefordert hatten. Das müsste doch noch Pluspunkte auf Ihre Ampel-Bilanz einzahlen, oder nicht?
Für Pluspunkte reicht es nicht aus. Sie haben ein paar Minuspunkte verhindert. Es ist richtig und längst überfällig, dass die Entbudgetierung der Hausärzte nun doch noch kommen soll. Die Details, die trotz unserer Hinweise und Vorschläge bisher leider unverändert geblieben sind, würden das Ganze für die Selbstverwaltung nur sehr schwierig umsetzen lassen. Wir haben das riesige Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz mit vielen Unwägbarkeiten und Lösungen, die sich zum Teil konterkarieren, von Beginn an kritisiert und gefordert, die Entbudgetierung als einzelne Maßnahme umzusetzen. Dagegen hat sich der Minister standhaft geweigert. Jetzt ist es ein Vorstoß der FDP gewesen, die Entbudgetierung noch umzusetzen. Insofern ist das eher kein Verdienst des Ministers, sondern des ausgeschiedenen Ampelpartners. Wir hoffen auf die Berücksichtigung unserer Änderungsvorschläge, die auch aus dem Kreis der Verbände und KVen kamen, damit wir eine gute Umsetzung der Entbudgetierung bekommen.
Die finanziell ohnehin gebeutelten Krankenkassen dürfte das noch mehr unter Druck setzen. Erwartet werden Zusatzbelastungen in Höhe eines dreistelligen Millionenbetrags. Ist das vor diesem Hintergrund aus Ihrer Sicht zu verantworten?
Die finanzielle Situation der Krankenkassen ist nicht gut, aber das liegt nicht daran, dass die Hausärzte entbudgetiert werden. Wir reden wahrscheinlich über einen Betrag im unteren dreistelligen Millionenbereich. Das ist im Vergleich zu den Finanzmitteln , die die Ampel in den letzten zweieinhalb Jahren z. B. in Krankenhäuser etc. gesteckt hat, fast Portokasse.
Karl Lauterbach hat auch die Krankenhausreform noch durchs Ziel gebracht. Das Gesetz ist zum 1. Januar dieses Jahres in Kraft getreten. Umgesetzt soll es werden soll es schrittweise bis 2029. Welche Veränderungen werden Ärzte und Patienten in diesem Jahr schon zu spüren bekommen?
Dass es teurer wird. Patienten werden mehr Geld zahlen müssen, denn die Krankenhausreform soll ja durch einen, aus unserer Sicht rechtswidrigen, Transformationsfonds finanziert werden, in den die gesetzlichen Krankenkassen bis zu 25 Milliarden Euro einzahlen sollen. Der ist in den letzten Beitragserhöhungen noch nicht eingepreist.
Was erwarten Sie von der nächsten Bundesregierung?
Wir brauchen eine Rahmensetzung, die es ermöglicht, unser wohnortnahes System der Gesundheitsversorgung durch Praxen zu stabilisieren. Es reicht nicht, nur Milliarde um Milliarde in den Krankenhaussektor zu pumpen. 95 Prozent der Versorgung geschieht nicht in den Krankenhäusern, sondern in den Praxen der niedergelassenen Ärzte. Die machen sich aber aufgrund der unsicheren Rahmenbedingungen Gedanken, ob sie ihre Praxis im Alter von 60 plus X schließen. Und die Nachfolgesituation sieht bei diesen Rahmenbedingungen nicht günstig aus.
Was müsste sich an den Rahmenbedingungen denn ändern?
Auch die Fachärzte müssen natürlich perspektivisch entbudgetiert werden. Es kann niemand ernsthaft annehmen, dass Fachgruppen, die 10 bis 20 Prozent ihrer Leistung nicht bezahlt bekommen, jetzt noch mehr Leistung erbringen werden.
Was belastet die niedergelassenen Ärzte am meisten?
Wir sind nach wie vor bürokratiebelastet über beide Ohren. Auch da ist nichts passiert in den letzten Jahren. 60 Tage verbringt der durchschnittliche Niedergelassene mit Bürokratie. Ein völliger Irrsinn, wenn man über knappe Ressourcen redet. Auch hier muss dringend eingegriffen werden. Da hat Friedrich Merz ja deutliche Ansagen gemacht. Ich hoffe, dass sie auch umgesetzt werden. Aber die Liste ist noch länger.
Nämlich?
Wir haben enormen Nachholbedarf bei der Digitalisierung. Es ist kein wirklich roter Faden erkennbar und es fehlt an funktionalen Lösungen, die die Praxen entlasten
Immerhin kommt nun die elektronische Patientenakte. Würden Sie Ihren Patienten derzeit empfehlen, sie zu nutzen?
Ich will es mal anders formulieren: Ich würde meinen Familienangehörigen davon abraten.
Weil Sie noch nicht sicher genug ist?
Zum einen das. Der Minister steht mit seiner Einschätzung, dass die ePA sicher ist, derzeit relative alleine da. IT-Experten sehen das deutlich kritischer. Der Chaos Computer Club sprach von eklatanten Sicherheitslücken. Eine Banking-App würde sofort vom Netz genommen, wenn sie solche Sicherheitslücken hätte.
Und zum anderen?
Die ePA in der jetzigen Form ist ja weit davon entfernt, Patienten oder Ärzten zu nutzen. Eine ePA wäre grundsätzlich eine gute Sache, wenn sie funktionieren und sicher sein würde. Ich glaube, beides kann sie für sich noch nicht richtig reklamieren.
Eine große Rolle spielt Gesundheitspolitik im Bundestagswahlkampf nicht. Ist Gesundheit als Wahlkampfthema zu unsexy?
Ja, es ist unsexy. Und es ist kompliziert und kostet Geld. Es bleibt aber auch festzustellen, dass unsere Gesundheitsversorgung in Deutschland objektiv nicht so schlecht ist wie Karl Lauterbach sie in den letzten drei Jahren geredet hat und andere Themen wie die Wirtschaftskrise viel drängender erscheinen.
Trotzdem dürfte auch die Probleme des Gesundheitssystems den Wählerinnen und Wählern allein aufgrund der enorm gestigenen Zusatzbeiträge in der GKV ziemlich präsent sein.
Ja, und da ist sicherlich so langsam mal das Ende der Fahnenstange erreicht. Wir müssen daher schauen: Wie kriegen wir die Krankenkassenbeiträge stabilisiert? Die Pflegeversicherung ist überhaupt noch nicht adressiert. Und die ist, wenn man den Ankündigungen einiger glauben kann, ja kurz vor der Zahlungsunfähigkeit.
Wie ließe sich die Kostenexplosion bremsen?
Wenn wir das ganze System wieder mal vom Kopf auf die Füße stellen, um den Teil zu bereinigen, der eigentlich nicht Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung ist, wäre das schon ein ganz erheblicher Batzen. Allein von den Leistungen, die Arbeitslosengeld-II-Empfänger in Anspruch nehmen, sind zehn Milliarden Euro nicht vom Bund gegenfinanziert. Das würde schon deutlich Druck von den Krankenkassen nehmen. Perspektivisch müssen wir sicher auch über die Möglichkeit von Selbstbeteiligung in der gesetzlichen Krankenversicherung reden. Manche fordern ja reflexartig die Bürgerversicherung und verkennen völlig, dass sie nicht eines der Probleme löst, die wir aktuell haben, aber viele neue schafft. Statt einer sozialistischen Einheitsversicherung müssen wir eher darüber nachdenken, auch die gesetzliche Krankenversicherung zu flexibilisieren und Zusatzleistungen anzubieten. Da ließe sich sicherlich der eine oder andere Beitragssatz heben. Und ich glaube, dass auch Eigenbeteiligungen perspektivisch kein Tabuthema mehr sein werden.
Die FDP fordert ein Primärarztsystem, in dem Patienten nicht mehr frei entscheiden können, wann sie zu welchem Facharzt gehen. Wäre das für Sie eine denkbare Option?
Wir lehnen ein verpflichtendes Primärarztsystem aus verschiedenen Gründen ab. Ein ganz banaler, der aber von vielen, die die Versorgungsrealität nicht kennen, offensichtlich ignoriert wird: Wir hätten gar nicht genug Primärärzte, um 73 Millionen gesetzlich versicherte Bürgerinnen und Bürger verbindlich steuern zu lassen. Wir haben 35.000 Hausarztpraxen, die alle schon bis zur Leistungsgrenze belastet sind. Und viele gehen gar nicht primär zum Hausarzt. Die Hälfte der Bevölkerung ist weiblich und sucht nachvollziehbarerweise erstmal die gynäkologische Praxis auf. Junge Menschen unter 40 gehen in der Regel nur selten oder gar nicht zum Arzt, es sei denn, sie erleiden einen Sportunfall oder erkranken akut.
Was schlagen Sie stattdessen vor?
Wir plädieren für Wahltarife. Jeder ist in der Lage, sämtliche Versicherungen individuell so zu schneiden, wie er oder sie es haben will. Nur bei der Krankenversicherung werden die Leute offensichtlich für unmündig gehalten. Wir wollen deshalb Wahloptionen, bei denen es keinen Zwang gibt, aber die Möglichkeit individuellere Lösungen zu wählen wie bisher. Und wenn das System dann tatsächlich preiswerter wird, muss man die Versicherten auch daran beteiligen. Verantwortungsbewusstes Handeln muss sich lohnen.
Robert Habeck hat vorgeschlagen, auch Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge auf Kapitalerträge zu erheben. Wie stehen Sie dazu?
Der Vorschlag ist wirklich drollig. Er ist offensichtlich wenig durchdacht und am Ende auch nicht praktikabel. Man könnte Zusatzsteuern auf Kapitalerträge erheben, allerdings sind die eh schon besteuert und private Vorsorge wird dadurch noch schwieriger. Aber wie sie dann bei jemandem Krankenversicherungsbeiträge abziehen wollen, der Kapitaleinkünfte hat und vielleicht sogar privat versichert ist, das erschließt sich mir nicht. Das sind Dinge, die vielleicht gut gemeint sind. Aber wir wissen: Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht.
Sie haben sich sicherlich auch die anderen Wahlprogramme genau angeschaut. Welche Partei hat für Sie das beste Rezept in der Gesundheitspolitik?
Richtige Rezepte haben sie ja letztlich alle nicht. Nicht alle haben so populistische und völlig unsinnigen Vorschläge wie eine Termingarantie, wie sie jetzt die SPD propagiert oder sozialistische Phantasien wie Linke oder BSW. Aber so richtig gezielte und durchdachte Vorschläge hat keine Partei. Ich bin fast geneigt, das CSU-Parteiprogramm zu nennen.
Warum?
Da steht wenig zu Gesundheit drin. Und im Moment wäre es mir tatsächlich lieber, es stünde gar nicht so viel drin als so viel Unsinn. Dann könnte man hinterher in aller Ruhe die Sachen mal abarbeiten.
Warum stehen so wenig substanzielle Gedanken zur Gesundheitspolitik in den Wahlprogrammen?
Das mag daran liegen, dass es in den meisten Parteien entweder keine ausgewiesenen Gesundheitsexperten gibt oder Gesundheit nur ein Nebenthema ist, so dass Gesundheitspolitik in die Parteiprogramme aufgrund der Dominanz anderer Themen keinen Eingang findet. Gesundheitspolitik ist eben diffizil und kann nicht mit markigen Schlagworten behandelt werden