Interview | Sven Giegold
Erscheinungsdatum: 27. August 2025

Grünen-Vize Giegold: „Zwischen Vernunft und Protest gibt es keinen Widerspruch"

Sven Giegold
Sven Giegold ist seit November 2024 stellvertretender Vorsitzender der Grünen. Zuvor arbeitet er unter Robert Habeck als Staatssekretär im Wirtschaftsministerium und war viele Jahre Europaabgerodneter (Nils Leon Brauer)

Der stellvertretende Grünen-Voristzende und Ex-Staatssekretär Sven Giegold warnt im Interview vor einem Angriff der Bundesregierung auf die Energiewende. Seiner Partei rät er zu einer inhaltlichen Weiterentwicklung – etwa beim Thema Bürokratieabbau.

Die neue Bundesregierung ist nach den ersten 100 Tagen ungewöhnlich unbeliebt. Aber die Grünen sind die einzige Oppositionspartei, die davon nicht profitiert. Warum?

Ich nehme das nicht so wahr. Es gibt viele Berichte über eine Krise der Grünen, aber keine reale Krise.

Woran machen Sie das fest?

Der Mitgliederzustrom hält an. Die Angriffe von Katherina Reiche auf die Energiewende nehmen viele Menschen bei den Grünen und in unserem Umfeld sehr kritisch wahr. Und was sie ankündigt, ist ja wirklich radikal. Ich reise derzeit viel durchs Land und spüre überall ein: Jetzt erst recht. Darum glaube ich, dass wir in diesem Herbst eine große Mobilisierungschance haben.

Aber mit den aktuellen Umfragen können Sie doch trotzdem nicht zufrieden sein.

Was mich umtreibt, ist nicht, ob die Grünen bei 12 oder bei 15 Prozent stehen, sondern dass die politische Ökologie weltweit in der Defensive ist, während gleichzeitig der Planet brennt. Und das ist kein deutsches Phänomen, sondern ein weltweites – das Scheitern des Plastikabkommens ist dafür regelrecht symbolisch.

Und was sollte die Antwort der Grünen darauf sein? Die Partei scheint gespalten in diejenigen, die am mittigen, vernunftbetonten Habeck-Kurs festhalten wollen, und jene, die gern wieder radikaler und vielleicht auch polemischer werden wollen, weniger auf Kompromisse im Parlament ausgerichtet als auf Protest auf der Straße.

Meiner Meinung gibt es zwischen Vernunft und Protest gar keinen Widerspruch. Man kann ja auch für Vernünftiges protestieren. Natürlich waren wir darum als Grüne in den Jahren 2019 und folgende bei den Klimaprotesten dabei – auch Robert Habeck. Und auch derzeit regt es viele Menschen auf, dass SPD und Union jetzt vor Borkum nach Gas bohren wollen oder Europa in großem Stil und offenbar recht langfristig klimaschädliches LNG-Gas aus den USA importieren soll. Dagegen kann man mit Fug und Recht protestieren.

Aber zwischen den schrillen Tönen von AfD und Linken gehen die Grünen trotzdem teilweise unter. Müssen Sie auch polemischer werden, um wahrgenommen zu werden?

Ich glaube, Zuspitzung müssen in der Opposition alle irgendwie lernen. Aber ich glaube, man kann auch durch Zuspitzung des Vernünftigen erfolgreich sein. Das Motto der Klimaproteste war: Follow the Science. Was Langweiligeres gibt es doch kaum. Trotzdem hat das funktioniert. Denn die Verhältnisse sind schon zugespitzt genug.

Trotz dieser zugespitzten Verhältnisse haben die Grünen bei der Bundestagswahl verloren – auch weil bei vielen der Eindruck entstanden ist, sie wollten zu weit gehen. Ist die Partei zu apodiktisch, zu besserwisserisch aufgetreten?

Unsere Analysen nach der Wahl zeigen, dass zwei Dinge gleichzeitig aufgetreten sind: Es gibt Menschen in der Bevölkerung, die haben gesagt, wir sind zu weit gegangen in der Eingriffstiefe, etwa dass wir beim Gebäudeenergiegesetz zu wenig sozial sensibel waren. Und auf der anderen Seite gibt es eine gar nicht viel kleinere Gruppe, die sagt, wir sind unseren Idealen nicht treu geblieben, sind nicht weit genug gegangen angesichts der Verhältnisse. Oder die von uns nach dem unsäglichen Move von Friedrich Merz, gemeinsam mit der AfD Gesetze verabschieden zu wollen, erwartet haben, dass wir sagen, mit dem können wir nicht koalieren.

Was folgt daraus?

Es gibt keine simple Auflösung dieser Situation in eine der beiden Richtungen. Weder ist es vernünftig, jetzt die Linkspartei zu kopieren, noch ist es vernünftig, so zu tun, als seien wir Teil einer Regierungskoalition im Wartestand. Wir müssen weiter grüne Eigenständigkeit suchen – und dürften dabei nicht den Fehler machen, uns in die eine oder andere extreme Haltung zu rücken. Meiner Erfahrung nach wollen die Menschen von den Grünen Authentizität und Stärke bei den Zielen und Pragmatismus bei ihrer Durchsetzung. Und ich bin sehr optimistisch, dass es in den nächsten Monaten für uns stark bergauf gehen wird, denn es gibt da eine große Leerstelle, nicht nur bei der Union, sondern auch bei der SPD: Im Sommerinterview von Lars Klingbeil sind die Worte Klimaschutz, Ökologie und Menschenrechte kein einziges Mal vorgekommen.

Brauchen die Grünen auch personelle Veränderungen?

Diese Frage steht im Moment überhaupt nicht an. Die Führung arbeitet gut und arbeitsteilig zusammen. Natürlich ist der Rückzug von Robert Habeck für die Politik in Deutschland und für uns ein großer Verlust. Doch jetzt kommt es für uns Grüne darauf an, dass wir uns inhaltlich weiterentwickeln – nicht um Angriffe von außen zu kontern, sondern weil es in der Sache richtig ist.

Wo denn zum Beispiel?

Etwa bei unserem Verhältnis zur Bürokratie. Die Überbürokratisierung unseres Landes ist eine Realität. Egal ob ich in einem Verein aktiv bin oder in einem Unternehmen oder im Staat selbst: Das macht keinen Spaß mehr. Diese Probleme haben wir als Grüne nicht offen genug angesprochen. Auf der anderen Seite gibt es Kräfte, die versuchen, den Bürokratiediskurs zu nutzen, um damit sozial und ökologische Schutzregeln abzubauen. Das dürfen wir uns natürlich nicht zu eigen machen – zumal diese nur einen winzigen Teil der Bürokratie ausmachen. Überkomplexe und unnötige Regeln abzuschaffen und zugleich die, die es braucht, mit der notwendigen Schärfe zu verteidigen: Das ist ein spannendes Feld.

Eine extrem wichtige Wahl für die Grünen ist die in Baden-Württemberg. Was muss die Partei leisten, um die Chance zu haben, dort nach dem Abgang mit Cem Özdemir weiterhin den Ministerpräsidenten zu stellen?

Ich glaube, die beste Hilfe, die wir von der Bundesebene leisten können, ist es, mit Klimaschutz und Gerechtigkeit im Herbst in die Offensive zu kommen. Ansonsten halte ich mich da mit Ratschlägen zurück. Die Startposition ist aber gut, weil Cem Özdemir mit Abstand der beste und bekannteste der Kandidierenden ist. Und ich glaube, dass die Demonstration der Union auf Bundesebene, dass Ökologie und Wirtschaft wieder getrennte Dinge sind, den Grünen helfen wird. Denn meine Erfahrung aus vielen Gesprächen gerade mit Mittelständlern ist: Die wissen ganz genau, dass viele der Zukunfts-Geschäftsmodelle auf der Integration von Ökologie und Ökonomie beruhen.

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Letzte Aktualisierung: 27. August 2025

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