Interview
Erscheinungsdatum: 12. Februar 2024

Gerichtspräsident Rainer Schlegel: „Wir müssen die Komplexität des Sozialstaats unbedingt reduzieren" 

Der scheidende Präsident des Bundessozialgerichts sieht Änderungsbedarf in der Arbeitsmarktpolitik: Viele Vorgaben seien überholt und nicht mehr geeignet, die Probleme von heute zu lösen.

Sozialrecht ist kompliziert. Verlieren Sie manchmal den Überblick?

Ich möchte nicht behaupten, dass ich ihn je hatte. Die Themen sind unglaublich volatil und ein Spiegel unserer Gesellschaft. Praktisch jede gesellschaftliche Veränderung zieht Gesetzesänderungen nach sich, wenn man sich das Sozialrecht im weitesten Sinne anschaut. Dazu gehören nicht nur die Sozialversicherungen, sondern zum Beispiel auch Bürgergeld, Wohngeld, Elterngeld und Bafög.

Fachleute fordern eine große Reform, um die Wechselwirkungen zwischen Leistungen einfacher zu gestalten. Ist das machbar?

Eine komplette Neuausrichtung dieser vielen Facetten des Sozialstaats ist eine komplexe Aufgabe und ich weiß nicht, wer sie lösen soll. Wir haben einen Grad der Komplexität in allen Systemen erreicht, den wir unbedingt reduzieren müssen. Die Frage ist nur: Wie? Man bräuchte eine längere Vorlaufzeit, um die verschiedenen Systeme zunächst zu analysieren, um dann ausgereifte und aufeinander abgestimmte Reformvorschläge auf den Tisch zu legen.

Warum hat das noch niemand gemacht?

Das Sozialrecht ist ein vernachlässigtes Gebiet, auf dem sich nicht viele Universitätsprofessoren tummeln. Es gibt nur noch eine Handvoll Lehrstühle, die oft nicht nachbesetzt werden, wenn Professoren in den Ruhestand gehen. Im Sozialrecht ist zudem kaum Geld zu verdienen. Deshalb gibt es, bis auf wenige Ausnahmen im Gesundheitsbereich, auch kaum Kanzleien, die sich darauf spezialisieren.

Wie lange kann sich die Politik noch leisten, eine Reform aufzuschieben?

Die Frage ist: In welcher Zeit kann man was schaffen? Es hilft nichts, sich zehn Jahre hinzusetzen, um dann ein schönes Gutachten vorzulegen, über das die Zeit schon wieder hinweggegangen ist.

Es gab in den vergangenen Jahren immer wieder Gutachten von Beiräten oder Kommissionen.

Die Vorschläge müssen nicht nur solide durchdacht sein, sie müssen am Ende auch politische Akzeptanz finden. Die „reine Lehre“ wird das in den seltensten Fällen schaffen, denn Politik lebt vom Kompromiss. Bei der Rente geht es zum Beispiel um Vorgänge, die mehrere Jahrzehnte umfassen. Das setzt voraus, dass die Dinge planbar bleiben und man sich auf das Beschlossene verlassen kann. Dafür braucht es breite parlamentarische Mehrheiten. Manchmal gibt es aber auch ganz banale Gründe, weshalb Reformvorschläge verpuffen.

Welche Gründe sind das?

2018 wurde eine Rentenkommission eingesetzt, die gut besetzt war: Politiker, Fachleute, Vertreter der Rentenversicherung. Ihr Gutachten legte sie im März 2020 vor, praktisch zeitgleich mit dem Beschluss des Deutschen Bundestages zur Festellung einer epidemische Lage von nationaler Tragweite. Die Zeitungen waren danach schon voll mit Corona. Die Pläne zur Rentenreform waren allenfalls noch eine Randnotiz wert und verschwanden in der Versenkung.

Die Bürgergeld-Debatte wird emotional geführt inklusive Falschbehauptungen wie die, dass Arbeitslose mehr Geld hätten als Erwerbstätige. Sind sachliche Reformdebatten da überhaupt möglich?

Ich denke schon, dass mit ein bisschen gutem Willen ein breiter Konsens möglich wäre. Das Bürgergeld ist nicht die Vorstufe zum bedingungslosen Grundeinkommen, was man bei den Äußerungen mancher Politiker vermuten könnte. Es sollte nur denjenigen zugutekommen, die sich nicht selber helfen können. Es soll nicht als das Versprechen eines gesicherten Einkommens auch für diejenigen missverstanden werden, die sich nicht selbst helfen wollen, obwohl sie dies könnten. Das sollte allgemeiner Konsens sein.

Viele Bürgergeld-Empfänger können nicht arbeiten, weil sie Kinder oder pflegebedürftige Angehörige betreuen müssen oder chronisch krank sind.

Das ist richtig. Diese Menschen sind nicht in der Lage, Ihren Lebensunterhalt selbst ganz oder zumindest zum Teil selbst zu bestreiten. Allerdings gibt es Personengruppen, bei denen man sich fragen kann, ob sie im System des Bürgergeldes nicht fehl am Platz sind.

Welche Personengruppen meinen Sie?

Ist etwa ein Langzeiterkrankter arbeitsuchend oder gehört er nicht eher – jedenfalls bis zu Genesung – in ein System, das ihm besser helfen könnte? Wo es dann auch nicht darum ginge, ihm jede zweite Woche eine Arbeit anzubieten, sondern darum, gesund zu werden oder sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Für nichterwerbsfähige Bedürftige gibt es Sozialhilfe, die allerdings in der Verantwortung der Kommunen liegt und die demgemäß sich nicht darum reißen, solche Personen zugewiesen zu bekommen. Dabei wissen wir, dass viele Bürgergeld-Empfänger nicht mit ihrem Leben zurechtkommen und dort oder in einem ganz neu zu gestaltenden Hilfesystem möglicherweise besser aufgehoben wären.

Warum reicht das aktuelle System nicht?

Viele sind psychisch angeschlagen und haben verlernt, ein geregeltes Leben zu führen. Sie bräuchten ganz individuelle Hilfestellungen, die ein Jobcenter-Mitarbeiter, der sehr viele Menschen betreuen muss, nicht leisten kann.

Der Ökonom Holger Bonin fordert, die soziale Grundsicherung aus einer Hand zu organisieren. Ist das realistisch?

Ja. Man könnte die steuerfinanzierten Systeme, die an Bedürftigkeit anknüpfen, zusammenführen. Das wäre sinnvoll. Bisher erhalten Menschen, die ihren Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten können, Leistungen aus ganz verschiedenen Töpfen – etwa Wohngeld, Kinderzuschlag, Unterhaltsvorschuss, Bürgergeld, Sozialhilfe oder Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe. Wer blickt da noch durch?

Wie könnte eine Neugestaltung aussehen?

Sinnvoll wäre eine Behörde, die in der Fläche bei den Menschen vor Ort ist – wie etwa die Jobcenter. Auf der Ebene der Ministerialbürokratie könnte man vieles, was inhaltlich zusammenhängt, beim BMAS ansiedeln: Wohngeld, Bafög, Unterhaltsvorschuss, Kindergrundsicherung. Auch von der prozessualen Zuständigkeit her gehört das alles in eine Hand. Bisher sind beispielsweise die Verwaltungsgerichte zum Teil für Bafög und Wohngeld zuständig.

Dass der Sozialstaat digitaler wird, will nicht erst diese Bundesregierung. Wieso dauert das so lange?

Der Datenschutz bringt viele Digitalisierungsprojekte zum Scheitern oder verzögert sie. Das sieht man etwa bei der elektronischen Patientenakte, an der schon seit Jahrzehnten gearbeitet wird. Ebenso bei der Grundrente: Deren Auszahlung hat sich über ein Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes verzögert, weil der nötige Datenaustausch zwischen Finanzbehörden und Rentenversicherung zunächst nicht möglich und das erforderliche Personal nicht vorhanden war. Bereits der Verabschiedung des Gesetzes wusste man: Das Gesetz kann erst mal gar nicht funktionieren.

Warum wurde es trotzdem verabschiedet?

Es war ein politisches Projekt, das man schnell durchsetzen wollte und in Kauf nahm, dass die ersten Rentenbescheide erst ein Jahr nach Inkrafttreten erteilt werden können.

Wo sehen Sie den drängendsten Verbesserungsbedarf in der Arbeits- und Sozialpolitik?

Wir gehen bei vielen Vorschriften noch von einer Arbeitsmarkt-Lage aus, die wir nicht mehr haben. Viele Instrumente stammen aus den Nullerjahren, als es um die Frage ging, wie man Massenarbeitslosigkeit beseitigen kann. Zum Beispiel geht man nach wie vor davon aus, dass jemand, der aus gesundheitlichen Gründen nur wenige Stunden täglich arbeiten kann, dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung steht. Er bekommt deshalb eine zeitlich befristete Erwerbsminderungsrente.

Und weshalb kritisieren Sie das?

Das machte vielleicht noch Sinn, solange es auf dem deutschen Arbeitsmarkt praktisch keine Teilzeitstellen gab. Heute trifft das nicht mehr zu. Trotzdem gelten die Menschen weiterhin als erwerbsunfähig. Aus meiner Sicht ist das kein Fall für die Renten-, sondern für die Arbeitslosenversicherung oder das Bürgergeld.

Kritik gibt es auch an unterschiedlichen Begriffsdefinitionen, etwa beim Einkommen.

Allein in der Sozialversicherung unterscheiden wir Arbeitsentgelt, Arbeitseinkommen, steuerpflichtiges Einkommen, Gesamteinkommen. Im Einkommenssteuerrecht gibt es sieben verschiedene Einkunftsarten. Für den Bürger ist Einkommen einfach Einkommen. Sein Arbeitgeber dagegen muss scharfsinnig differenzieren, wenn es um die Berechnung der Beiträge und der Lohnsteuer geht.

Warum ist das ein Problem?

Weil wir damit sehr viel Potenzial zur Verschlankung von Vorgängen in der Verwaltung und damit Wege zum Bürokratieabbau verschenken. Im Grund geht es um wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, die Berechnung von Beiträgen, Steuern und Sozialleistungen. Mit zwei oder drei für das Steuer- und Sozialrecht einheitlich definierte Begriffen müsste man eigentlich auskommen. Das würde Komplexität reduzieren und den Zugriff auf anderweitig bereits gesammelte Daten sowie deren Austausch für verschiedene Zwecke deutlich erleichtern.

Sie haben mehrere Jahrzehnte Richtererfahrung. Was werden die großen Streitpunkte der Zukunft?

Wenn die Kindergrundsicherung so kommt, wie sie geplant ist, wird sie zu vielen Rechtsfragen führen. Zum einen soll es eine neue Behörde mit neuen Leistungen geben. Daneben bleibt das Bürgergeld als Auffangregelung bestehen. Es wird zu vielen Überschneidungen und weiteren Schnittstellen-Problemen kommen. Im schlimmsten Fall müssen Eltern zum Sozial-, zum Verwaltungs- und zum Finanzgericht, um irgendwo, irgendwann, irgendwie zu ihrem Recht zu kommen.

Gibt es noch etwas, das Sie an der Kindergrundsicherung kritisieren?

Es werden neue Begriffe eingeführt. Zu der im Bürgergeld bekannten „Bedarfsgemeinschaft“ kommt jetzt noch die „Familiengemeinschaft“ hinzu. Was ist der große Unterschied? All das sorgt für die Familien für weitere Verwirrung und letztlich Verunsicherung. Nichts wird einfacher. Im Gegenteil.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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