Warum ist es so schwer, den Sozialstaat zu reformieren?
Weil er sehr komplex ist und wenig Spielraum für Veränderung hat. Wenn ein Wirtschaftsunternehmen schlecht läuft, kann es insolvent gehen, die nicht lukrativen Bereiche abschalten und neu anfangen. Der Sozialstaat kann nicht sagen: Morgen zahle ich die Existenzsicherung nicht aus. Und trotzdem müssen wir die Transformation hinbekommen – obwohl die Kommunen jetzt schon unterbesetzt sind.
Wie muss diese Transformation aussehen?
Es braucht eine Management- statt einer Verwaltungskultur. Bisher konzentrieren wir uns auf das Abarbeiten von Verfahren – unsere Richtlinie zur Auszahlung der Grundsicherung umfasst 97 Seiten! Und wenn wir immer mehr Fälle haben und das Verfahren immer komplizierter wird, brauchen wir mehr Personal. Selbst wenn das Geld für neue Stellen da ist, kann das Ausschreiben, Einstellen und Einarbeiten ein bis zwei Jahre dauern, wenn es überhaupt noch die erforderlichen Fachkräfte gibt. Es gibt noch ein weiteres zentrales Problem.
Welches?
Das System ist auf Einzelfallgerechtigkeit und Rechtmäßigkeit getrimmt, weil jeder im Gesetz festgeschriebene Verfahrensschritt potenziell von Rechnungsprüfungsämtern, Rechnungshöfen und Gerichten geprüft wird. Das heißt: Niemand will Fehler machen.
Ist das nicht gut?
Doch. Aber das System ist so sehr auf Perfektion ausgerichtet, dass wir strukturell lernen müssen, loszulassen. Wir müssen auf allen Ebenen mehr in Prozessen denken und notfalls auf halber Strecke nachsteuern. Dafür braucht es mehr Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Rechtskreisen, also Teilen des Sozialgesetzbuches. Bisher grenzt sich jedes System von dem anderen mangels Ressourcen ab und denkt nur an seine eigene Zuständigkeit.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Wir haben uns mal angeschaut, auf welche Leistungen eine fiktive Bürgerin namens Josefine Anspruch hat – alleinerziehend, Kindesvater unbekannt, Vater pflegebedürftig. Wir kamen auf 18 verschiedene Stellen, die sich entsprechend abstimmen müssten.
Wie kann man das vereinfachen?
Das kann man nicht so einfach sagen, weil die Wirkung von Veränderungen in diesem komplexen System überhaupt nicht abschätzbar ist. Die Kindergrundsicherung ist dafür ein schönes Beispiel.
Wieso?
Die gute Idee war: Kinder sollen nur noch zu einer Stelle kommen. Aber statt die Stellen vor Ort einfach zur entsprechenden Zusammenarbeit zu verpflichten, sollten Zuständigkeiten und Gesetze geändert werden. Was unter anderem zur Folge hatte, dass bei Problemen bis zu drei verschiedene Gerichte – Sozial, Finanzen, Verwaltung – zuständig gewesen wären.
Was kann der Bund tun?
Wir haben ein strukturelles Problem im Föderalismus. Wenn in Berlin ein Gesetz verabschiedet ist, wird das dort gefeiert – umsetzen müssen es aber andere. Erst setzt das Land im Zweifelsfall noch ein Ausführungsgesetz obendrauf, dann geht es an die Kommunen. Unsere Aufgaben im Sozialamt sind zu 98 Prozent die Umsetzung dieser Bundesgesetzgebung. Und Lokalpolitik hat ganz andere Sorgen und Nöte als die Frage, wie kompliziertes Bundesrecht am besten umgesetzt werden kann.
Wen sehen Sie in der Verantwortung?
Uns alle! Politische Mandatsträger aus den verschiedenen Ressorts und auf den unterschiedlichen föderalen Ebenen, die eine Transformation ernsthaft vorantreiben wollen. Fachleute, die sie umsetzen. Bürger*innen, die wählen gehen. Vor allem ist eine Mittel- und Langfristplanung nötig.
Mit welchem Ziel?
Verbindliche Zusammenarbeit für permanente Prozessoptimierung vor allem mit Blick auf den Verwaltungs- und Bürokratisierungsaufwand. Der Bund verhandelt zwar mit den Ländern über Gesetze, um die Praxis geht es dabei aber selten. Wieder ist die Kindergrundsicherung ein gutes Beispiel.
Inwiefern?
Die Stellungnahmen zu den Plänen lief vor allem über den Städtetag. Jede Kommune ist aber anders aufgebaut. Und selbst wenn man nur die kreisfreien Städte fragt, bekommt man 107 unterschiedliche Einschätzungen. Dabei wäre eine Bewertung bereits in der Gesetzesentwicklung möglich, zum Beispiel in Kooperation mit der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement. Jedenfalls sollten entsprechende Stellungnahmen früher einfließen, nicht erst in der Anhörungsphase zu einem schon fertigen Entwurf.
Eine Föderalismusreform wird es nicht so schnell geben. Was könnte man jetzt schon tun?
Ebenenübergreifend die verbindlichen Ziele – Reduzierung von Aufwand und Vereinheitlichung – festlegen, zum Beispiel durch ein Gesetz. Außerdem könnte der Bund über die Finanzverwaltung die Existenzsicherung aller Menschen übernehmen. Wir sind allein in Köln für die Sozialhilfe – wie die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung– mit rund 400 Leuten im Einsatz, die beraten, rechnen und zahlen. Diese könnten sich stattdessen Menschen mit vielseitigen Hilfebedarfen widmen – durch ein umfassendes Fallmanagement.
Das heißt?
Eine zentrale Beratungseinheit ist wünschenswert, damit man nicht zu 18 verschiedenen Stellen laufen muss. Der Ansatz ist jetzt schon gesetzlich festgelegt, aber wird kaum umgesetzt. Manche Städte machen das bereits. Da sitzen dann zum Beispiel Sozialamt, Jobcenter und Schuldnerberatung an einem Tisch.
Was braucht es noch?
Wir müssen weg von kommunalen Einzellösungen, gerade mit Hinblick auf die Digitalisierung. Eine gesamtstaatliche Umsetzung auch mit KI-Unterstützung würde dabei helfen, dass die Leistung schneller und einfacher zum Bürger kommt. Dieses Ziel gibt es bisher nicht.
Noch etwas?
Alternativ könnten vorhandene Best-Practice-Lösungen der Kommunen verbindlich auf alle übertragen werden. Bisher gestaltet jede Kommune für das gleiche Bundesgesetz eigene Lösungen oder es wird vorab definiert, welches Land für alle zuständig ist. Wenn das dann nicht gelingt, hat keiner eine Lösung, wie man beim Onlinezugangsgesetz sehen konnte.