Interview
Erscheinungsdatum: 12. Mai 2024

CDU-Politiker Hüppe zur Inklusion: „Wir erleben ein Rollback“

Hubert Hüppe, Bundestagsabgeordneter der Union, gilt als streitbarer Vorkämpfer für das Zusammenleben behinderter und nicht-behinderter Menschen. Mit Förderschulen und Werkstätten füttere der Staat dagegen eine kostspielige Wohlfahrtsindustrie für Exklusion.

Sie waren lange Behindertenbeauftragter der Bundesregierung, sind jetzt wieder Abgeordneter der Union –und besorgt um die Inklusion. Warum?

Die Hoffnungen, die viele in die rot-grün-gelbe Regierung gesetzt haben, wurden derbe enttäuscht. Im Koalitionsvertrag steht vieles, was die Inklusion voranbringen würde. Allerdings wurde so gut wie nichts umgesetzt; manches wurde sogar schlechter. Beispiel: Bis 2022 sollte ein Aktionsplan für ein barrierefreis Gesundheitswesen vorliegen. Erst jetzt wird daran gearbeitet. 2025 haben wir vielleicht einen Plan, aber keine Aktion. Außerdem hatte ich gehofft, dass die Ampel einen inklusiven Arbeitsmarkt voranbringen.

Und deshalb machen Sie sich Sorgen um die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen?

Entgegen der UN-Behindertenrechtskonvention, die Deutschland 2009 ratifiziert hat, leben wir weiterhin in getrennten Welten. Die Inklusion ist auf dem Rückmarsch. Es werden Milliarden in die „Exklusion“ gesteckt und in der „Wohlfahrtindustrie“ immer mehr Geld verdient.

Erklären Sie das bitte.

Wir erleben ein Rollback bei der Inklusion. Es arbeiten heute mehr Menschen in Sonderwerkstätten als vor der Ratifizierung der UN-Konvention. Dasselbe gilt für Schulen. Anfangs gab es einen regelrechten Schub. Überall entstanden Initiativen von Eltern, die wollten, dass ihre Kinder nicht von anderen Kindern getrennt werden, nur weil sie eine Behinderung haben. Jetzt entstehen überall wieder Sonderschulen. In meinem Kreis Unna wird eine neue Förderschule für 60 Millionen Euro gebaut. Der inklusive Unterricht wird dafür ausgehungert. Viele wollen einfach keine Schüler mit Behinderungen in ihrer Schule – und sondern sie aus.

Ihre eigene Partei befürwortet auch die Förderschulen, schauen Sie nur in die Programme der CDU Hessen oder der CSU.

Ja, das ist leider so, und ich kämpfe dagegen. Heute sehen das leider alle Parteien so. Der stärkste Befürworter der neuen Sonderschule im Kreis Unna ist der schulpolitische Sprecher der Grünen. Er war Sonderschullehrer. Ich war der Einzige, der im Kreistag dagegen gestimmt hat.

Was ist so schlimm an Förderschulen?

Die jetzige Förderschule in meiner Nachbarstadt hatte letztes Jahr 24 Abgänger. 22 sind direkt in die Werkstatt gegangen, zwei haben gar keinen Anschluss. Das ist das Ergebnis von sonderpädagogischer Förderung. Alle Studien zeigen, dass Kinder mit und ohne Behinderung vom inklusiven Regelunterricht profitieren. Die Aussonderung schadet den Schülern für das ganze Leben.

Bremen gilt als Musterland der Inklusion, da besuchen fast alle Kinder mit Handicaps eine Regelschule. In Hamburg, Berlin und Schleswig-Holstein tun das weit mehr als 70 Prozent der Betroffenen; in Bayern und Baden-Württemberg höchstens halb so viele.

In drei Bundesländern besuchen heute mehr Kinder mit Behinderung Sonderschulen als vor der UN-Konvention: in Baden-Württemberg, Bayern und Rheinland-Pfalz. Es liegt also nicht an der Farbe der regierenden Partei. Und auch in anderen Bundesländern entstehen neue Sonderschulen.

Kann sich der Staat den Betrieb von Regelschulen mit Inklusion und speziellen Förderschulen nebeneinander leisten?

Nein. Das jetzige System ist viel zu teuer. Allein die Fahrtkosten: Bei uns werden die Kinder morgens eine Stunde zur Förderschule gekarrt und nachmittags eine Stunde zurück. Neben den Kosten bedeutet das noch mehr Isolation. Wir sollten das Geld und vor allem die Sonderpädagogen in die Regelschulen geben. Die Vereinten Nationen haben Deutschland in ihrem Bericht zum Stand der Teilhabe gerade eine schallende Ohrfeige verpasst.

Haben Sie Vorschläge zur Verbesserung der Lage?

In Südtirol, das ja nicht verdächtig ist für eine besonders linke Regierung, ist man wie überall in Italien radikal vorgegangen. 1977 wurden dort quasi über Nacht alle Sonderschulklassen abgeschafft – und die zugehörigen Ressourcen den Regelschulen zugeschlagen. Das hat funktioniert weil jeder Lehrer wusste: Diese Schüler kann ich nicht mehr loswerden. Und siehe da: Dann klappt die Einbindung. Diese Menschen sind ganz anders sozialisiert und haben so auch mehr Chancen im Berufsleben.

Machen Sie die Förderschulen dafür verantwortlich, dass die Menschen soviel Schwierigkeiten auf dem ersten Arbeitsmarkt haben?

Einmal Sonderweg, immer Sonderweg! Die Aussonderung fängt noch vor der Schule an und nennt sich „heilpädagogischer Kindergarten“. Wer als Kind nicht lernt, miteinander umzugehen, lernt es als Erwachsener auch nicht mehr. Das größte Problem von Menschen mit Behinderungen ist, dass Menschen ohne Behinderungen nie gelernt haben, mit ihnen umzugehen – das gilt natürlich auch andersherum. Das hat Folgen für den Beruf, und nicht selten auch dafür, wie man wohnt. Inklusion kann man nicht lehren, sondern nur erfahren. Inklusion bedeutet Wertschätzung. In unserer Gesellschaft dagegen werden erwachsene Menschen mit Behinderung einfach geduzt. Das gängigste Schimpfwort ist: „Du bist ja behindert.“

Erklärtes Ziel der Werkstätten ist es doch, Menschen in den ersten Arbeitsmarkt zu bringen. Klappt das?

Das ist der gesetzliche Auftrag. Tatsächlich schaffen nur 0,3 Prozent der Werkstatt-Beschäftigten den Sprung. Das hat Gründe: Die Werkstatt hat kein Interesse daran, jemanden zu verlieren, der gut arbeitet, denn er bringt für die Einrichtung den größten Gewinn. Aber auch die Beschäftigten haben nicht unbedingt Interesse.

Weil Menschen mit Behinderung lieber unter ihresgleichen bleiben?

Es gibt starke monetäre Gründe. Wer die Werkstatt verlässt, um zu arbeiten, hat als Mindestlohn-Beschäftigter real eher weniger Geld zur Verfügung. Zwar bleiben ihm im Schnitt 220 Euro netto im Monat mehr. Aber die gehen oft schon für Fahrtkosten drauf, während Werkstatt-Beschäftige einen Gratis-Fahrdienst haben. Hinzu kommt, dass die Eltern für ein Kind in der Werkstatt 250 Euro Kindergeld bekommen, selbst wenn es längst erwachsen ist. Das verlieren Eltern mit dem Tag, wo er oder sie die Werkstatt verlässt. Für den Werkstatt-Beschäftigten bringt der Staat fast 3000 Euro pro Monat auf. Während der, der zum Mindestlohn arbeitet, Steuern und Sozialbeiträge zahlt und finanziell schlechter gestellt ist. Das ist nicht richtig!

Und wie sieht es hinterher mit der Rente aus?

In der Rente wird es noch ungerechter: Wer 45 Jahre in der Werkstatt bleibt, bekommt rund 400 Euro mehr als sein Kollege nach 45 Jahren im ersten Arbeitsmarkt. Diese Zahlen hat die Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen veröffentlicht. Wahrscheinlich soll das eine Warnung an alle sein, die beabsichtigen, die Werkstatt zu verlassen und außerhalb zu arbeiten.

2023 gingen Sozialleistungen an über eine halbe Millionen Menschen mit Behinderungen – ein neuer Rekord. Was halten Sie davon?

Leider geht das Geld eben nicht an die Menschen, sondern an die Einrichtungen. Es ist ein Milliardengeschäft. Werkstatt-Leiter dürfen mit sechsstellligen Jahresgehältern rechnen. Die Geschäftsführerin einer Duisburger Behinderten-Werkstatt musste 2018 gehen, nachdem ihr Jahresgehalt auf 376.000 Euro gestiegen war. Laut Gutachten hätte ihr „nur“ bis zu 180.000 Euro zugestanden. Sie sagte damals, sie habe das Gehalt verdient, weil es ihr gelungen sei, sehr viel Menschen mehr in ihre Einrichtung zu ziehen. Wäre es ihr gelungen, sehr viele ihrer Beschäftigten in den Arbeitsmarkt zu vermitteln, hätte ihr das Salär sogar zugestanden. Denn dann hätte sie diesen Menschen Gutes getan und dem Staat viel Geld gespart.

Wie schwer oder leicht haben es Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt?

Viele Arbeitgeber schrecken davor zurück, sie einzustellen, weil ihnen eine Woche mehr Urlaub zusteht und sie mehr Kündigungsschutz genießen. Das wird sich ein Kleinbetrieb gut überlegen. Hinzu kommt die Bürokratie. Wenn ein Betrieb einen lernbehinderten Jugendlichen ausbilden möchte, dann muss der Ausbilder sich auf eigene Kosten erst 320 Stunden in Didaktik, Recht und Medizin fortbilden lassen. Es ist völlig unsinnig, dass, wie vorgeschrieben, der Meister dann lernen muss, was in der UN-Behindertenrechtskonvention steht. In dem Ausschuss, der diese Regel aufgestellt hat, sitzen viele Vertreter von Einrichtungen, die Interesse daran haben, dass die Ausbildung bei ihnen stattfindet und nicht im Betrieb.

Ein Ausbilder müsste sich also medizinisch fortbilden, um einen behinderten Menschen anlernen zu dürfen?

Genau. Gerade hat die Ampel-Regierung auf Anfrage ausdrücklich bestätigt, dass sie daran nichts ändern will.

Was halten Sie von der Ausgleichsabgabe, die Unternehmen zahlen müssen, die zu wenig behinderte Menschen einstellen?

Die finde richtig. Es ist aber nicht richtig, dass die Abgabe von der Steuer absetzbar ist und ein Unternehmen überhaupt nichts zahlen muss, wenn es nur genug Aufträge an eine Werkstatt für behinderte Menschen gibt. Auf der anderen Seite sollten auch Betriebe, die mehr schwerbehinderte Menschen einstellen, als sie müssten, einen finanziellen Vorteil davon haben.

Von ihren drei Kindern ist einer schwer behindert – was macht dieser Sohn heute?

Er arbeitet in einem Amazon-Logistikzentrum, bei dem 12,5 Prozent der 1900 Beschäftigten schwerbehindert sind. Ich bin mir sicher: Dass mein Sohn heute arbeitet und mit Unterstützung alleine wohnt, ist nur möglich geworden, weil er eine Regelschule besucht hat.

Die AfD nennt Inklusion in ihrem Wahlprogramm „ideologisch motiviert“. Ist der Rollback ein Zeichen dafür, dass wir gesellschaftlich weiter nach rechts rutschen?

Nein, inzwischen arbeitet keine Partei mehr gegen Sonderwelten. Es ist heuchlerisch, wenn Wohlfahrtsverbände diese AfD-Aussagen anprangern, aber selbst Sondereinrichtungen unterhalten und gar nicht daran denken, sie inklusiv zu gestalten.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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