Es ist eine kleine Revolution im deutschen Wahlrecht. Nach jahrelangem Tauziehen hat sich die Ampel-Koalition auf eine Wahlrechtsreform verständigt, die die Zahl der Abgeordneten präzise auf 598 begrenzt. Zum Vergleich: Derzeit sitzen 736 Parlamentarier im Reichstag – der Bundestag ist eines der größten Parlamente der Welt.
Die Reform war überfällig. Vor der Bundestagswahl 2013 hatten Union und FDP, zusammen mit SPD und Grünen, die Einführung von Ausgleichsmandaten verabredet, um trotz möglicher Überhangmandate die Zweitstimmenverteilung als entscheidendes Kriterium zu belassen. Damit jedoch stieg die Zahl der Mandatsträger plötzlich rapide an.
Die Folge: Bei der Wahl 2013 rückten neben vier Abgeordneten über Überhangmandate 29 weitere Parlamentarier über Ausgleichsmandate ins Parlament ein. Besonders üppig fiel der Zuwachs dann 2021 aus: Aus den 34 Überhangmandaten wurden mit 104 Ausgleichssitzen am Ende 736 Abgeordnete, 138 mehr als die Normgröße von 598.
Tritt die Reform nun in Kraft, sind Überhangs- und Ausgleichsmandate künftig ausgeschlossen. Die Zahl von 598 Abgeordneten ist festgelegt, und maßgeblich für die Zahl der Sitze im Parlament bleibt allein die Verteilung der Zweitstimmen. Verteilt werden die Sitze wie bisher auch anhand der prozentualen Verteilung in den Bundesländern.
Was zur Folge haben kann, dass Erststimmengewinner trotz eines Erfolges in ihrem Wahlkreis nicht in den Bundestag einziehen. Entscheidend ist die Prozentzahl im Vergleich zu den Ergebnissen der Parteikollegen und -kolleginnen in den übrigen Wahlkreisen des Bundeslandes. Wer also den Wahlkreis mit einem schwachen Erststimmenergebnis gewinnt, läuft Gefahr, dass ihm oder ihr der Einzug in den Bundestag verwehrt bleibt.
So kann es tatsächlich vorkommen, dass ein Wahlkreis überhaupt nicht mehr in Berlin vertreten ist. Das allerdings ist nicht unbedingt wahrscheinlich und war zudem auch bisher schon möglich: Durch Rückzug oder Tod sind in den vergangenen Jahren regelmäßig pro Legislaturperiode zwischen zehn und 20 Parlamentarier ausgeschieden, häufig auch Wahlkreissieger, die nicht durch Frauen oder Männer aus ihrem Wahlkreis ersetzt wurden.
Schon in der vergangenen Legislaturperiode hatten sich Union und SPD um eine Reform bemüht, fanden aber nicht zueinander, weil eine Kappung von Überhangs- und Ausgleichsmandaten vor allem die Union betrifft. Insbesondere die CSU profitierte vom bisherigen System: Trotz zuletzt vergleichsweise eher schwacher Zweitstimmenergebnissen in Bayern gewann sie 2021 mit einer Ausnahme erneut sämtliche Wahlkreise in Bayern – und produzierte damit elf Überhangmandate. Ihre Wahlkreissieger dürften künftig – bei Verabschiedung der Reform – nicht mehr alle in den Reichstag einziehen. Umso mehr stemmte sie sich bis zuletzt kompromisslos gegen eine Abschaffung von Überhang- und Ausgleichsmandaten.
Die Einigung war auch in der Ampel durchaus umstritten, vor allem die FDP, so heißt es in Koalitionskreisen, habe sich gegen eine harte Begrenzung auf 598 Sitze gewehrt. Auch bei Sozialdemokraten und Grünen gab es Gegrummel, denn auch sie haben derzeit reihenweise Abgeordnete in ihren Reihen, die ihr Mandat dem Ausgleich zu verdanken haben (bei den Grünen, 24; bei der SPD mit Überhang- und Ausgleichsmandaten, sogar 36). Deshalb brachte die FDP kurz vor Schluss noch einmal eine Deckelung auf 640 Sitze ins Spiel, konnte sich aber nicht durchsetzen.
Einiges spricht dafür, dass die Reform nun zügig den Bundestag passiert, denn es ist keine Grundgesetzänderung nötig. So reicht bei der Abstimmung eine einfache Mehrheit.
Korrekturhinweis: In einer früheren Version dieses Textes stand, die CSU habe zuletzt alle Direkt-Wahlkreise in Bayern gewonnen. Tatsächlich hatten die Grünen bei der letzten Bundestagswahl 2021 einen in München erobert. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.