Ein Termin wird zum Politikum. Vertrauensfrage, Auflösung des Parlaments, Neuwahl – in dieser Reihenfolge muss stattfinden, was seit Mittwochabend unumgänglich ist: die Wahl eines neuen Parlaments in Deutschland. Doch so klar der Fakt ist, so heftig wird nun um jeden Millimeter Startvorteil oder Verzögerung gerungen. Dabei gerät selbst die Bundeswahlleiterin mitten hinein in den Clinch zwischen Kanzler und Oppositionsführer; Olaf Scholz will nicht so schnell, Friedrich Merz dagegen kann es kaum erwarten. Nahezu logisch ist deshalb, dass beide Seiten auch die technischen und organisatorischen Gefahren und Chancen sehr unterschiedlich einschätzen.
Friedrich Merz und seine Union wollen Neuwahlen so schnell wie möglich. Der CDU-Chef will den Vorsprung der Union in der Sonntagsfrage nutzen; er weiß in der Terminfrage eine Mehrheit der Deutschen hinter sich und möchte vom tief sitzenden Unmut über die Ampel profitieren. Außerdem weiß er, dass eine kurze Kampagnenzeit die Gefahr eigener Fehler reduziert. Und so gut Merz aktuell auch dasteht, so genau konnte er bei der letzten Bundestagswahl beobachten, wie der vermeintlich sichere Vorsprung von Armin Laschet völlig unerwartet in eine Niederlage mündete. Das will der CDU-Vorsitzende, für den diese Wahl die letzte Chance ist, doch noch mal Kanzler zu werden, auf alle Fälle verhindern.
Neben den taktischen Motiven gibt es aber auch inhaltliche. So erinnern sie in der Union aktuell sehr deutlich daran, dass es einen gravierenden Unterschied zwischen einer Minderheitsregierung und einer geschäftsführenden Regierung gibt: Eine Minderheitsregierung darf zum Beispiel in Brüssel noch ganz alleine und ohne Begrenzungen entscheiden, mit beschließen oder ablehnen; eine geschäftsführende dagegen darf das so nicht mehr. Für die Union ist Scholz' Regierung am Ende; deshalb möchte sie auf alle Fälle verhindern, dass er – ob in der EU oder anderswo – noch Fakten schafft, die ihm aus Unionssicht nicht mehr zustehen. Außerdem weist Merz zurecht darauf hin, dass selbst bei einem frühen Wahltermin eine neue Regierung kaum vor Ostern ihre Amtsgeschäfte aufnehmen wird. Gerade im Umgang mit einem Donald Trump könnte das zu einem erheblichen Nachteil werden.
Die SPD, vor allem aber Olaf Scholz und sein Kanzleramtsminister sehen das ganz anders. Und sie wissen nur zu genau, dass rein formal alleine sie entscheiden werden, wann die Vertrauensabstimmung stattfindet. Allerdings könnte es da auf Dauer genauso laufen wie bei der Ampel: Was wie Zeitgewinn aussieht, kann bei negativem Trend den eigenen Schaden auch erhöhen. Trotzdem setzen Scholz und Co vorläufig auf Zeit, weil auch sie die Umfragewerte kennen und gerne noch ein paar Wochen oder gar Monate hätten, um den Trend zu drehen. So wie Merz Merz'sche Fehler fürchtet, hoffen die Sozialdemokraten auf sie. Mit der einfachen Rechnung, dass in mehr Wochen auch mehr Fehler möglich wären. Hinzu kommt, dass Scholz sehr gerne noch ein paar publikumsnahe Beschlüsse und Gesetze vorweisen würde. Zum Beispiel für die gebeutelte Wirtschaft, deren Sorgen er lange eher kleingeredet hatte.
Offene Unterstützung von den großen Industrieverbänden bekommt der Kanzler dafür bislang nicht. Sie alle rufen mehr oder weniger deutlich nach sofortigen Neuwahlen. Aber daneben gibt es, beispielsweise in Nordrhein-Westfalen, einige Großkonzerne, die im Sinne von Scholz noch Beschlüsse einfordern – und daran die Politik im direkten Gespräch auch erinnern. Dabei geht es um die CO2-Speicherung im Boden; es geht um Netzentgelte und Strompreise.
Nimmt man die Rhetorik von Friedrich Merz an dieser Stelle ernst, dürften solche Fragen am ehesten einen Weg eröffnen, wo bislang keiner zu erkennen ist: ein Weg, auf dem sich Kanzleramt und Opposition doch noch auf eine gemeinsame Absprache einigen. Nach dem Motto: Wenn Du die Vertrauensfrage bald stellst, helfen wir im Ringen um bessere Wirtschaftsbedingungen mit. Anzeichen gibt es dafür an diesem Sonntag nicht, jedenfalls nicht zwischen Scholz und Merz. Allerdings ist am Abend zu hören, dass hochrangige Parlamentsvertreter miteinander im Gespräch sind.
Gemessen an der allgemeinen Lage, die kritischer und schwieriger kaum sein könnte, wäre es nicht schlecht, wenn es im Parlament gelänge, sich auf wichtigen Feldern doch noch zu verständigen. Beim Etat für 2025 wird es kaum mehr der Fall sein. Anders sieht es bei einem Thema wie dem Schutz von Verfassungsorganen aus. Wie zu hören ist, hat Merz selbst intern schon angekündigt, dass er die geplante Verfassungsänderung zum Schutze des Verfassungsgerichts unbedingt noch beschließen möchte. Dafür ist eine Zweidrittelmehrheit der demokratischen Mitte nötig, die nach der Bundestagswahl nicht mehr gesichert erscheint. Ähnlich könnte es beim Bundestagspolizeigesetz sein; hier geht es sehr konkret um den Schutz des Parlaments vor rechtsextremistischen Störungen und Angriffen.
Ebenfalls wichtig ist eigentlich für alle Parteien der Mitte die Hilfe für die Ukraine. Hierfür fehlt das Geld, wenn sich nichts ändert. Allerdings könnten sich Minderheitsregierung und Opposition darauf verständigen, noch Material der Bundeswehr oder des Technischen Hilfswerks zur Verfügung zu stellen. Weitere Themen, die mehr oder weniger offen auf den Fluren diskutiert werden: Cybersicherheit, vor allem gegen digitale Angriffe gegen die Wahlen; die fast beschlossene Krankenhausreform, die eigentlich keinen Aufschub mehr verträgt; dazu der nicht von allen geliebte, aber für einen großen Teil durchaus sinnvolle Kapitalstock für ein neues Standbein der Altersversorgung.
Und dann sind da auch noch Themen, die schon lange da liegen, eigentlich auf eine Entscheidung warten – und bei Ablehnung schnell zum Wahlkampfthema werden könnten. Das gilt für das 58-Euro-Ticket und die Kalte Progression, die steuertechnisch bei jeder Lohn- oder Gehaltserhöhung wirksam wird und im „Steuerentwicklungsgesetz“ noch angepasst werden sollte. Im gleichen Gesetz findet sich auch die geplante Kindergelderhöhung samt Anhebung des Kinderfreibetrags.
Eine Wahl ordnungsgemäß bis 26. Januar – darauf setzen Union und FDP offiziell – auf die Beine zu stellen, wäre ein Kraftakt. Sollte der Kanzler an diesem Mittwoch die Vertrauensfrage stellen, wären etwa 75 Tage Zeit. Dazwischen liegt eine knapp zweiwöchige Weihnachtspause. Erfahrene Kampagnenplaner kalkulieren, dass man für eine halbwegs geordnete Bundes- oder Landtagswahl besser rund 100 Tage Vorlauf benötigt. Um Kandidaten und Kandidatinnen zu benennen, Bundes- und Landesparteitage zu organisieren und auszurichten, Fristen einzuhalten, Kanidaten und Unterschriften zu überprüfen und schließlich am Tag des Urnengangs auch geschulte Wahlhelfer aufbieten zu können.
Rund 650.000 Wahlhelfer benötigt man üblicherweise für eine bundesweite Wahl, auch das könnte schon mal zum Problem werden. Ihre Rekrutierung ist schwierig geworden in den vergangenen Jahren, rund um den Jahreswechsel dürfte die Aufgabe nicht einfacher werden. Gleiches gilt für die Zustellung von Wahlunterlagen, auch das wird nicht einfach für die Beförderungsunternehmen in ihrer ohnehin schon umsatzstärksten Zeit zwischen Dezember und Januar.
Angesichts dessen kommt das Votum der Bundeswahlleiterin Ruth Brand wenig überraschend. Sie wies auf sensible Schnittstellen wie die IT-Infrastruktur, überlastete Wahlämter oder ordnungsgemäße Briefwahlvorbereitungen hin. Zugleich haben Papierhersteller ihr Argument, es könnte Probleme bei der Herstellung der nötigen Unterlagen geben, zurückgewiesen.
Heikler und womöglich noch berechtigter sind die Sorgen vor hybriden Attacken aus dem Ausland. Die Interessen zum Beispiel eines Wladimir Putin sind bekannt. Zuletzt bei der US-Wahl hatte das FBI laut New York Times von Bombendrohungen gegen Wahllokale berichtet, die unzweideutig aus Russland gekommen seien. Ein besonderes Lied von der Gefahr kann auch die drängelnde CDU singen. Sie hat selbst vor Wochen einen Hackerangriff gegen das eigene Mitgliederverzeichnis nicht abwenden können – und kämpft bis heute mit den Folgen. Nur zu verständlich ist da, dass die Mitglieder des Parlamentarischen Kontrollgremiums, die regelmäßig von den Geheimdiensten gebrieft werden, am lautesten vor Angriffen und Eingriffen warnen.
Denn auch kleine Fehler schon könnten nachhaltige Folgen haben. Das erlebten 2021 die Grünen im Saarland. Zunächst war die Wahl von Hubert Ulrich zum Spitzenkandidaten für ungültig erklärt worden, weil nicht stimmberechtigte Parteimitglieder mit gestimmt hatten. Anderen Grünen-Mitgliedern war für den Listenparteitag keine Einladung zugegangen. Landes- und Bundeswahlausschuss erkannten „schwere Wahlfehler“ und ließen zur Bundestagswahl keine grüne Landesliste zu. Das klingt auf unangenehme Weise wie eine Blaupause für Pannen unter Zeitdruck, noch dazu für kleinere Parteien. Niemand mag sich vorstellen, dass das Verfassungsgericht bei solchen Pannen und einer möglicherweise für kleine Parteien als Benachteiligung zu wertenden Aufgabe die Wahl annullieren würde.