Analyse
Erscheinungsdatum: 06. März 2025

Wahlrecht: Warum sich ein Blick nach Bayern lohnen könnte

Beim Wahlrecht blockieren sich die Parteien gegenseitig. Vor allem die CSU stellt sich seit Jahren stur. Dabei wären plausible Lösungen möglich. Und wenn der Bund einige Elemente des bayerischen Landeswahlrechts übernähme, wäre sogar eine Reform denkbar, die über reine Mandatszählerei hinausginge.

Nicht auf jeden Rekord muss man stolz sein. Der Bundestag ist im Laufe der Jahre von seiner 1996 festgelegten Größe von 598 Abgeordneten immer weiter gewachsen, in der vergangenen Legislaturperiode gehörten ihm 736 Parlamentarier an. Damit war er, klammert man den chinesischen Volkskongress mal aus, das größte Parlament der Welt. Was nicht nur die Kosten für den Parlamentsbetrieb immer weiter nach oben getrieben hat, sondern auch Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit hat.

Doch seit Jahren blockieren sich die Parteien gegenseitig, wenn darum geht, die Aufblähung des Parlaments zu beenden. Eine Verringerung der Wahlkreise, wie sie FDP, Grüne und Linke im Jahr 2019 vorgeschlagen hatten, lehnte die Union ab. Vor allem die CSU in Gestalt ihres Landesgruppenchefs Alexander Dobrindt leistete gegen solche Vorschläge stets erbitterten Widerstand. Das hatte vor allem mit Parteitaktik zu tun: Insbesondere die Christsozialen profitierten von der alten Regelung, denn sie gewinnt in Bayern regelmäßig fast alle Wahlkreise. Politisch verbrämt wurde das immer damit, dass ein direkt gewählter Abgeordneter mehr von den Sorgen und Wünschen der Wähler mitbekommt und damit eine höhere Wertigkeit als ein Listenabgeordneter hat. Doch vor allem in städtischen Regionen kennen die meisten Wähler die Direktkandidaten ihres Wahlbezirks gar nicht und haben nie mit ihnen zu tun.

Weil eine Verringerung der Wahlkreise mit der Union nicht zu machen war, hat die den zweiten möglichen Weg beschritten: die sogenannte Zweitstimmendeckelung, die dazu führt, dass jede Partei nur so viele Mandate zugeteilt bekommt, wie ihr nach ihrem Zweitstimmenanteil zustehen. Das führt dazu, dass nicht jeder Wahlkreissieger automatisch ein Mandat erhält. Bei der Union hat es bei der aktuellen Bundestagswahl 18 Abgeordnete erwischt, 15 von der CDU und drei von der CSU. Dass damit zahlreiche Wahlkreise nicht mehr von einem Abgeordneten vertreten werden, wie die Union kritisiert, ist allerdings übertrieben. Denn die meisten der angeblichen verwaisten Wahlkreise können genauso gut von Listenabgeordneten aus der gleichen Region betreut werden.

Es bleibt aber trotzdem schwer erklärbar, dass ein Sieger nicht in jedem Fall belohnt wird. „Dass jemand, der die Mehrheit gewinnt und nicht ins Parlament kommt, ist zutiefst undemokratisch“, sagte der Vorsitzende der CSU-Landtagsfraktion in München, Klaus Holetschek, zu Table.Briefings. Wobei man sagen muss, dass es mit der Mehrheit im Wahlkreis oft nicht weit her ist. Sechs der 16 CDU-Wahlkreissieger, die leer ausgegangen sind, haben mit einem Stimmenanteil von unter 30 Prozent gewonnen, fünf weitere lagen nur knapp über dieser Marke.

Also zurück zum alten Wahlrecht und stattdessen lieber die Zahl der Überhangmandate, für die kein Ausgleich gewährt wird, erhöhen, wie es sich die Union wünschen würde (und wovon sie überproportional profitieren würde)? Das sollte sich Friedrich Merz gut überlegen, ganz abgesehen davon, dass es die SPD wohl nicht mitmachen würde. Wäre die aktuelle Bundestagswahl nach dem alten Wahlrecht abgehalten worden, hätte das die CDU in erhebliche interne Debatten stürzen können. „Die CDU hätten nach dem alten Wahlrecht nicht insgesamt mehr Mandate bekommen, sondern intern kompensieren müssen“, sagte der Wahlrechteexperte Robert Vehrkamp von der Bertelsmann-Stiftung zu Table.Briefings. Denn wenn alle CDU-Wahlkreissieger ein Mandat bekommen hätten, wären 15 Listenabgeordnete aus anderen CDU-Landesverbänden auf der Strecke geblieben.

Das hätte in Nordrhein-Westfalen zum Beispiel die prominente Abgeordnete Serap Güler getroffen. Damit wäre der Regionalproporz innerhalb der CDU durcheinandergebracht worden. Die CSU hätte hingegen profitiert. Sie hätte ihre drei jetzt verlorenen Direktmandate behalten dürfen, weil die große Koalition vor der Bundestagswahl 2021 beschlossen hatte, dass die ersten drei Überhangmandate einer Partei nicht ausgeglichen werden. Und weil die CSU nur in Bayern antritt, gibt es keine Kompensation mit anderen Landesverbänden. Die CSU, so Vehrkamp, hätte damit „einen einseitigen Vorteil auf Kosten aller anderen Parteien“ erhalten.

Vehrkamp, von dem in der Wahlrechtskommission der Vorschlag mit der Zweitstimmendeckelung stammte, hält es für einen Mythos, dass die Wahrung der Verhältniswahl mit der Vergabe von 299 Direktmandaten kollidieren muss. Es gebe dafür „zahlreiche und sehr gute Verfahren“, um beides sicherzustellen. „Perfekter Proporz bei gleichzeitiger Vergabe aller Direktmandate“ sei „nicht nur wünschenswert, sondern auch machbar“. Eine Möglichkeit wäre, dass derjenige Direktkandidat, der das beste durch Zweistimmen gedeckte Erststimmenergebnis hat, zum Zuge kommt. Denkbar wäre auch, dass die Wähler bei der Erststimme eine weitere Ersatzstimme abgeben für diejenigen, die ihnen am zweitliebsten sind. Ob das vor allem für die beim Wahlrecht besonders störrische CSU ein gangbarer Weg wäre, ist allerdings fraglich. Denn in beiden Fällen würde ja nicht der siegreiche CSU-Bewerber zum Zuge kommen, sondern in aller Regel der Zweitplatzierte einer anderen Partei.

Die künftige Koalition könnte aber ihren Blick auch weiten und damit die CSU womöglich leichter auf ihre Seite ziehen. Denn das bayerische Landeswahlrecht geht einen anderen Weg. In Bayern werden Erst- und Zweitstimmen zusammengezählt, die Mandatszuteilung erfolgt auf der Basis der Gesamtstimmen. Zwar gibt es auch nach dem bayerischen Wahlrecht Überhang- und Ausgleichsmandate, der Ausgleich erfolgt aber nur innerhalb der insgesamt sieben bayerischen Wahllisten, die auf Bundesebene den Landeslisten entsprechen. Tatsächlich ist in Bayern die 2003 festgelegte Zahl von 180 Abgeordneten seither nur relativ geringfügig überschritten worden. Die höchste Abweichung waren 205 Abgeordnete in der Legislaturperiode von 2018 bis 2023. Ein Grund für die „recht hohe Konstanz in den Sitzzahlen“ des Landtages sei auch der „dämpfende Effekt“ durch die Berücksichtigung der Gesamtstimmen, teilte das Bayerische Landesamt für Statistik auf Anfrage mit.

Falls sich die anstehende schwarz-rote Koalition zu einer Wahlrechtsreform aufraffen würde, die über reine Mandatszählerei hinausgeht, könnte sie im bayerischen System noch zwei weitere interessante Aspekte entdecken. Weil die Erststimmen mitgezählt werden und nicht verfallen, können sich auch unterlegene Direktkandidaten auf der Liste nach vorne arbeiten. Denn, und das ist der zweite Unterschied, kann man mit der Zweitstimme einen der Listenkandidaten ankreuzen. Auf diese Weise können die Wähler die von den Parteien festgelegte Reihenfolge auf der Liste verändern. Angesichts wachsender Parteienverdrossenheit eine erwägenswerte Möglichkeit, um engagierte Kandidaten zu belohnen.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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