Analyse
Erscheinungsdatum: 25. April 2023

Volkswirtin Irene Becker zur Kindergrundsicherung: „Eine Verbesserung gibt es nicht zum Nulltarif“

Die freiberufliche Forscherin Irene Becker beschäftigt sich schon seit mehr als einem Jahrzehnt mit dem Konzept einer Kindergrundsicherung. Im Interview spricht sie über den aktuellen Streit zwischen Familien- und Finanzministerium und erläutert, was in der Debatte zu kurz kommt.

Warum ist die Kindergrundsicherung so umstritten?

Irene Becker: Weil die Ziele unklar beziehungsweise strittig sind. Von den ursprünglichen Ideen ist in der jetzigen Debatte nicht viel übrig geblieben, weil sie immer weiter reduziert wurden.

Wir hätten gedacht, sie soll Armut verhindern – ist das falsch?

Eigentlich nicht, aber die Wege dahin interpretiert jede Partei anders. Und damit auch das Konzept als solches.

Sie sind eine der geistigen Mütter der Kindergrundsicherung. Worum ging es bei Ihrem Konzept?

Der Wirtschaftswissenschaftler Richard Hauser und ich haben 2010, gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung, ein erstes Projekt dazu gemacht. Ziel war, ein einheitliches Existenzminimum für Kinder zu definieren. Das steuerliche liegt derzeit um 244 Euro über dem sozialrechtlichen, auch wenn die sozialrechtlichen Beträge im Einzelfall variieren. Grob kann man sagen: Der Staat lässt Eltern vom Gehalt 746 Euro für jedes Kind steuerfrei. Aber wenn die Eltern Bürgergeld beziehen, bekommen sie im Durchschnitt über drei Altersklassen nur 502 Euro – inklusive einer Wohnkostenpauschale – für jedes Kind vom Staat. Wie soll man das verstehen? Unsere Idee war, dass Eltern mit geringem Einkommen das Existenzminimum in voller Höhe empfangen und dieser Transfer kontinuierlich mit steigenden Einkommen weniger wird. Es ging uns um einen konsequenten vertikalen Ausgleich zwischen Familien. Und nicht darum, nur Kinderzuschlag, Kindergeld und die Regelbedarfe der Grundsicherung in einer Leistung zusammenzuführen.

Bundesfinanzminister Christian Lindner sagt, für Familien mit Kindern sei bereits viel passiert.

Das Kindergeld ist auf 250 Euro erhöht worden. Das ist gut, weil die Inflation stark gestiegen ist. Aber es hilft nicht gegen das Grundproblem, dass Kinder und Jugendliche im unteren Einkommensbereich nach wie vor zu wenig am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Zudem ist das eine Maßnahme, die auch den mittleren und oberen Einkommensschichten zugutekommt, und, da die steuerlichen Kinderfreibeträge auch gestiegen sind, die Reicheren profitieren sogar noch mehr. Kinder in Haushalten, die Bürgergeld beziehen, haben überhaupt nichts von der Kindergeld-Erhöhung.

Weil das Kindergeld beim Bürgergeld angerechnet wird?

Ja, beim Bürgergeld wird es als Einkommen des Kindes gewertet. Das heißt, dass der Regelsatz des Kindes sich um die Höhe des Kindergeldes verkürzt, also um 250 Euro. Tatsächlich gibt der Finanzminister viel Geld für Kinder aus, aber dieses kommt nicht zielgerecht bei den Familien an, die wirklich Bedarf haben. Das ist das Problem.

Lindner sagt, bei neuen Sozialleistungen sei darauf zu achten, dass sich Menschen nicht irgendwann fragen, ob es finanziell noch einen Unterschied ausmacht, ob sie arbeiten gehen oder nicht. Wie sehen Sie das?

Es mag sein, dass sich einige Menschen das fragen – aber dann gehen sie von falschen Berechnungen aus, die manchmal in den Medien kursieren. Bei den Argumentationen wird häufig von einer vierköpfigen Familie mit nur einem oder einer Erwerbstätigen ausgegangen – heute eine eher seltene Konstellation – und lediglich auf den einen Nettolohn geschaut. Außerdem werden das Kindergeld und die im unteren Einkommensbereich relevanten Leistungen wie Wohngeld, Kinderzuschlag und Unterhaltsvorschuss bei Alleinerziehenden oft nicht einberechnet.

Das heißt?

Wenn man diese Leistungen beziehungsweise bei sogenannten Aufstockern – also Menschen, die parallel zum Bürgergeld-Bezug arbeiten – den ihnen zustehenden Freibetrag berücksichtigt, ist das Einkommen von Erwerbstätigen immer höher. Beim Bürgergeld gibt es bisher allerdings ein Problem: nach Ausschöpfung des Freibetrags lohnt es sich finanziell nicht, etwas mehr zu arbeiten.

Inwiefern?

Bei einem Bruttolohn von mehr als 1.200 Euro – bei Haushalten ohne Kind – beziehungsweise 1.500 Euro –mit Kind – wird das zusätzliche Einkommen voll auf den Bürgergeld-Anspruch angerechnet. Da käme man bei leicht steigendem Lohn am Ende also auf Null für die Mehrarbeit heraus. Es sei denn, der neue Nettoverdienst ist deutlich höher als das Bürgergeldniveau, sodass man quasi aus dem Leistungsbereich weit hinauswächst. Das Problem könnte der Gesetzgeber leicht ändern, wenn er will. Falls manche Leute finden, der Abstand zwischen Bürgergeld und Lohn ist nicht groß genug, dann hat das aber auch einfach mit zu niedrigen Löhnen zu tun. Es gibt anders als früher kein gesetzliches Lohnabstandsgebot mehr.

Die FDP betont, Geld sei nicht alles bei der Armutsbekämpfung – entscheidend sei auch der Fokus auf Bildung und die Erwerbssituation der Eltern. Ist da nicht was dran?

Ja, aber das ist kein Entweder-oder. Die Kindergrundsicherung soll für alle bedürftigen Familien da sein – egal, ob die Eltern erwerbslos sind, im Niedriglohnsektor arbeiten, oder etwa alleinerziehend sind und nur in Teilzeit arbeiten können. Deswegen fahren wir doch nicht die Arbeitsmarktförderung zurück, es muss beides geben! Der Zusammenhang ist in Wirklichkeit doch so: Wenn Eltern in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen stecken, haben sie wenig Geld für ihre Kinder. Dann können sie sich womöglich nicht so gut konzentrieren auf ihre Weiterbildung, sondern arbeiten noch nebenher, um irgendwie über die Runden zu kommen. Hier würde die Kindergrundsicherung greifen. Wir brauchen als Gesellschaft parallele Wege, um sicherzustellen, dass keiner zurückgelassen wird.

Und welche Rolle spielt Bildung?

Ohne ausreichende materielle Sicherheit können sich Kinder schlecht in der Schule konzentrieren. Oft fehlt ihnen die Möglichkeit, mit Gleichaltrigen Kontakte auf Augenhöhe zu haben. Apropos Augenhöhe: Dieser Begriff wird neuerdings ja oft im Zusammenhang mit dem Bürgergeld gebraucht. Aber auch Kinder müssen in ihrer Gruppe gleichberechtigt teilhaben können! Wenn sie immer sagen müssen „ich kann nicht mit“ oder „komm besser nicht zu mir nach Hause“, weil sie sich wegen der Armut daheim schämen: Dann ist das ein Hemmschuh für ihre Entwicklung.

Zwei Begriffe, die oft fallen, sind Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit. Ist so etwas überhaupt erreichbar? Die Bundesregierung plant ein „Startchancenprogramm“.

Chancengleichheit ist eine Illusion. Aber wir können mehr Chancengerechtigkeit schaffen, unter anderem durch mehr materielle Teilhabemöglichkeiten. Dafür braucht es selbstverständlich auch ein gutes Schulsystem mit vollständiger Lernmittelfreiheit. Heute entscheidet jedes Bundesland, wie viel die Eltern für Schulmaterialien zuzahlen müssen. Hilfreich wäre auch ein Gratisticket für den Weg zur Schule oder zum Sportverein. Dann bräuchten wir den Eltern nicht so viel Geld in die Hand zu geben. Aber so ein System haben wir leider nicht. Deshalb hängt die Höhe einer Kindergrundsicherung davon ab, was die Eltern alles finanzieren müssen.

Die Bundesregierung hat sich vorgenommen, den Zugang zu Sozialleistungen zu vereinfachen und zu digitalisieren. Was versprechen Sie sich davon?

Wir müssen mit der Digitalisierung weiterkommen, unbedingt. Es gibt schon erfolgsversprechende Projekte, die etwa den digitalen Zugang zum Kinderzuschlag testen. Denn nur rund 30 Prozent der berechtigten Familien nehmen ihn bisher in Anspruch. Das muss man ausbauen und die Eltern generell fragen, ob sie einem Abgleich mit den Lohnsteuer- und Sozialversicherungsdaten zustimmen. Dann würden sie automatisch die Kindergrundsicherung erhalten, die ihren finanziellen Verhältnissen entspricht – und bräuchten keinen komplizierten Antrag mehr zu stellen.

Wie beurteilen Sie diesbezüglich die Pläne des Bundesfamilienministeriums?

Im Moment klingt das ziemlich kompliziert. Es soll einen Garantiebetrag geben und dann noch einen Zusatzbetrag, der extra beantragt werden muss. Das sind dann schon wieder zwei verschiedene Leistungen, die zwar unter dem Dach Kindergrundsicherung firmieren, aber im Prinzip jeweils Kindergeld und Kinderzuschlag sind. Die Digitalisierung könnte da ein Quantensprung sein. Ich glaube, wenn Eltern die Chance haben, relativ unbürokratisch eine höhere Unterstützung als den Mindestbetrag zu bekommen, werden sie einem Datenabgleich auch zustimmen. Dann hätten wir wirklich die eine Leistung: die Kindergrundsicherung.

Sie haben 2022 mit zwei Forscherinnen die Studie „ Wohlstand, Armut und Reichtum neu ermittelt" veröffentlicht. Welche Reaktionen gab es dazu aus der Politik?

Die politischen Parteien äußern sich dazu nicht – übrigens hält sich auch die Wissenschaft hier zurück –, weil solche Studien eine Kritik darstellen an konventionellen Konzepten.

Erklären Sie das, bitte.

Die Erkenntnis aus dieser Studie und aus früheren Arbeiten ist, dass man das Existenzminimum für Kinder wie auch für Erwachsene endlich sachgerecht ermitteln muss. Das war das ursprüngliche Ziel der Kindergrundsicherung, das auch im Koalitionsvertrag steht. Davon ist – soweit bisher bekannt – nichts geblieben. Die Regelbedarfe stehen schon seit vielen Jahren in der Kritik. Längst ist nachgewiesen, dass deren Berechnung methodisch unsauber ist. Unsere Studie unterstreicht, dass die Höhe nicht angemessen ist – allein schon, wenn man sich anschaut, wie viel die Menschen für Ernährung ausgeben müssen. Was wir im Moment als Bedarf messen, ist eine grobe Untertreibung.

In einem Gutachten für den DGB zur „ Ermittlung eines angemessenen Inflationsausgleichs" haben Sie die starken Kaufkraftverluste von Menschen in Grundsicherung gezeigt. Was bedeutet das für Kinder und Jugendliche?

Die Höhe eines Bürgergelds oder einer Kindergrundsicherung hinkt systematisch der Zeit hinterher. Die der Berechnung zugrundeliegende Einkommens- und Verbrauchsstichprobe findet nur alle fünf Jahre statt. Dazwischen müssen die Beträge dynamisiert, also angeglichen werden. Das wird politisch aber kaum thematisiert. Mit dem Bürgergeld hat die Bundesregierung zwar eine neue Anpassungsformel geschaffen, aber ich habe in dem Gutachten nachgewiesen, dass sie das systemische Problem nicht löst.

Auch bei der Kindergrundsicherung ist das Geld ein Streitthema. Woran hakt es da?

Herr Lindner hält den Deckel drauf, und ich glaube, dass große Teile der SPD es ähnlich sehen wie er: Wir hätten kein Geld und dürften auf keinen Fall die Gruppe der Reichen stärker für gesellschaftliche Aufgaben heranziehen. Klar ist aber: Eine Verbesserung gibt es nicht zum Nulltarif. Die Grünen haben sich schon weit aus dem Fenster gelehnt mit den 12 Milliarden, die Lisa Paus für die Kindergrundsicherung veranschlagt hat. Wobei man sagen muss: Wenn wir es ernst damit meinen, dass alle Familien die Leistungen, die ihnen zustehen, endlich auch in Anspruch nehmen, dann kostet allein das schon mehr Geld.

Wir reden viel von Kinderarmut. Was ist mit Jugendarmut?

Das Thema ist brisant, weil junge Leute zwischen 18 und 25 deutlich häufiger von Armut betroffen sind als Kinder. Das ist eigentlich ein Skandal. Manche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sagen: Ja, aber da sind die vielen Studierenden dabei, die haben eine blendende Perspektive. Das sehe ich anders. Viele von Armut betroffene Jugendliche leben noch zu Hause, da ist das ganze Elternhaus arm. Viele Studierende müssen zudem nebenher jobben, und wissen nicht, wie sie zum Beispiel ihre Heizkosten bezahlen sollen. Wie lange mussten sie auf die Energiepreispauschale warten? Die haben ganz krasse Probleme im Vergleich zu denen, die ein begütertes Elternhaus haben und sorgenfrei studieren können.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
Teilen
Kopiert!