Frau Lamberty, welche Verschwörungserzählungen zu Israel und Gaza fallen gerade auf besonders fruchtbaren Boden?
Wir sehen viele Narrative. Wie bei vielen gewalttätigen Konflikten kursieren False-Flag-Vorwürfe: Israel stecke selbst hinter dem Angriff am 7. Oktober, alles sei inszeniert. Die Gewalt wird geleugnet und als Verschwörung dargestellt. Frauen wären gar nicht vergewaltigt worden, das würden die „Zionisten“ nur behaupten.
Ist das nicht ein bekanntes Muster?
Genau, das sieht man leider oft. Auch Gewalttaten von prorussischen Akteuren wurden in der Vergangenheit geleugnet. Je größer und schlimmer die Gewalttat, desto heftiger die Leugnung.
Und der Vorwurf der Lügenpresse hat in diesem Kontext auch Konjunktur?
In Deutschland beobachten wir diesen Vorwurf gerade wieder besonders oft. Auf einigen Demonstrationen wurden Berichterstattende schon als „Judenpresse“ diffamiert. Das bleibt nicht ohne Konsequenzen: Die „Reporter ohne Grenzen“ berichten, dass es im Kontext israelfeindlicher Proteste vermehrt zu Drohungen, Beleidigungen und Angriffen auf Berichterstattende kam.
Wie bewerten Sie die deutsche Berichterstattung über den Konflikt?
Häufig beobachte ich ein fehlendes Verständnis nicht nur für Israel, sondern auch für das Judentum als Ganzes. Das fängt bei der Bebilderung an: Wer über Juden spricht, bebildert meist Orthodoxe. Viele wissen nicht mal: Darf ich Jude sagen, wenn ich über einen Menschen mit jüdischem Glauben spreche?
Was fehlt Ihnen an der deutschen Berichterstattung?
In der Kriegsberichterstattung gibt es eine Lernkurve, das sehen wir an der Ukraine. Wir müssen davon wegkommen, bloß nebeneinander zu stellen, was beide Seiten sagen. Als Russland den Staudamm in der Ukraine gesprengt hat, haben deutsche Medien genau das getan. Aber damit entsteht eine Interpretations-Leerstelle. Wer es liest, kann es mit eigener Meinung füllen. Andere Medien haben mehr Kontext gegeben. Wenn Medien über Opferzahlen berichten, die Gazas Gesundheitsministerium herausgibt, sollten sie beispielsweise erklären, dass hier nicht zwischen Zivilisten und Kombattanten unterschieden wird.
Finden die Medien aus Ihrer Sicht denn die richtigen Worte für das, was seit dem 7. Oktober geschieht?
Ich beobachte eine ähnliche Begriffslosigkeit wie zur Corona-Zeit. Wir bezeichnen Proteste oder Gruppen als propalästinensisch, obwohl es dort oft gar nicht um Trauer für palästinensische Opfer geht, es keinen Raum für die Verzweiflung der Menschen gibt, die in tiefster Sorge um ihre Angehörigen sind. Einige verantworten auch die Hamas dafür, dass ihre Angehörigen so leiden. Ich halte es für wichtig, zu unterscheiden zwischen Betroffenen mit Angehörigen oder Freunden in Gaza und Gruppierungen, die sich als propalästinensisch verstehen. Es gab schon Proteste wie in Essen, die Menschen verlassen haben, weil sie sich instrumentalisiert fühlten. Dort hatten Islamisten Propaganda verbreitet, es war nach Geschlechtern getrennt. Wir müssen sehr genau aufpassen, was wir alles in eine Kiste packen. Unter dem Deckmantel der Solidarität mit Palästina droht sich eine Querfront aus Islamisten, Teilen der politischen Linken und extremer Rechter zu bilden.
Teilnehmerinnen von Protesten, darunter junge Frauen, haben Israels Agieren in Gaza teilweise mit der Shoa verglichen und den Medien vorgeworfen, sie würden das verschweigen. Wie erklären Sie sich das?
Wir haben eine Kombination aus israelbezogenem Antisemitismus, inklusive Geschichtsrevisionismus und der Verschwörungserzählung einer Lügenpresse, die angeblich von oben gesteuert wird. Lügenpresse-Vorwürfe waren immer schon antisemitisch konnotiert. Dieses Umdrehen – Israel verhalte sich wie das Nazi-Regime – gehört seit langem zur antisemitischen Klaviatur. Das alles verhindert eine Diskussion darüber, wie man Menschen in Gaza tatsächlich unterstützen kann.
Warum greifen junge Frauen alte Verschwörungserzählungen auf?
Solche Stereotypen werden kulturell und familiär tradiert. Auch in Deutschland. In der Sprache der Nachkriegsgeneration kamen Wendungen wie „Flink wie Windhunde, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl“ oder „Jedem das Seine“ vor. Viele Erzählungen werden ähnlich weitergegeben: Die Juden und das Geld. In polnischen Souvenirladen ist der „Geld-Jude“ eine gängige Figur: Abgebildet ist ein orthodoxer Jude mit einer Münze in der Hand. Antisemitismus wird über Generationen weitergegeben, aber wir verbinden ihn mit der Vergangenheit und übersehen dadurch, was in der Gegenwart passiert: Antisemitismus und Rassismus gehören zum Grundrauschen unserer Gesellschaft..
Wie groß ist die Rolle der Bots aus Iran, Russland und von anderen, die seit dem 7. Oktober global antisemitische Informationen verbreiten?
Wenn wir über Israel, Palästina oder Gaza sprechen, haben wir oft nur die Palästinenser in Gaza, der Westbank und Israel im Auge. Sobald wir eine Ebene rauszoomen, müssen wir über den Iran, die Hisbollah im Libanon und die Huthi-Miliz in Jemen sprechen. Zoomen wir noch weiter raus, erreichen wie die Ebene der Geopolitik. Die wird zu häufig nicht betrachtet.
Woran machen Sie das fest?
Wir müssten viel mehr darüber sprechen, wie antisemitische Propaganda global funktioniert, dass es neben Russland und dem Iran auch chinesische Versuche der Einflussnahme gibt. Antisemitismus ist fester Bestandteil von Putins Propaganda. Für Jüdinnen und Juden sind die Kriege eine Doppelbelastung, weil ein großer Teil der Juden in Deutschland einen sowjetischen Hintergrund hat, viele haben Bezüge zur Ukraine. Dazu kommt das Erstarken einer rechtsextremen Partei, die ebenfalls Antisemitismus und Geschichtsrevisionismus verbreitet. Die Belastung ist damit so enorm wie in kaum einer anderen gesellschaftlichen Gruppe.
Gab es nicht immer schon Desinformationskampagnen?
Ich habe in meinem Leben noch nie so eine Flut an Propaganda gesehen wie seit dem 7. Oktober; und das in einem Maß, das Nachvollziehbarkeit oft nicht mehr möglich macht. Zum erheblichen Teil sind es gesteuerte Kampagnen von Akteuren, die politischen Profit daraus ziehen wollen. Sie treffen auf einen globalen, vor allem Israel-bezogenen Antisemitismus. Das hatten wir 2014, wir hatten es 2021 und jetzt wieder.
In afrikanischen und südamerikanischen Ländern ist das Narrativ verbreitet, dass die USA, Europa und Israel andere kolonial unterdrücken würden. Es vermischen sich also viele Zeiten, Machtverhältnisse und Geschichten. Spielt die angeblich koloniale Komponente auch bei uns eine Rolle?
Die Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus ist enorm wichtig. Leider haben verschiedene anti- und postkoloniale Milieus eine Affinität zu antisemitischem Denken. Dadurch, dass die Entstehung Israels als kolonialer Akt beschrieben wird, entsteht eine Projektionsfläche. Mit verkürzten Darstellungen lassen sich leicht Emotionen schüren und Feindbilder schaffen. Viele verstehen nicht, dass wir es nicht nur mit einem brutalem Antisemitismus, sondern einer Mobilisierung gegen den Westen insgesamt zu tun haben.
Welche Rolle spielen die sozialen Medien bei der Verbreitung der antisemitischen Erzählung?
Besonders besorgniserregend finde ich die Verquickung von Lifestyle und menschenverachtenden Inhalten auf Instagram und TikTok. Das kennen wir auch von QAnon und anderen verschwörungsideologischen Gruppierungen. Der Unterschied: Diesmal eint sie nicht die Pandemie, sondern der Israelhass.
Deutschlands Geschichte mit der Shoa ist bekannt. Welche Rolle spielt unsere Geschichte für den neuen Antisemitismus?
Die deutsche Geschichte blitzt gerade auf verschiedenen Ebenen auf. Der Rechtsextremismus ist nie aus Deutschland verschwunden. Der Rechtsextremismus übt Druck auf die deutsche Erinnerungskultur aus, er greift das Gedenken an die Shoa an. Schon vor dem 7. Oktober haben Gedenkstätten gewarnt, dass es immer schwieriger werde, die Arbeit fortzuführen, dass es immer mehr Bedrohungen gebe. In linken Zirkeln kursiert die Forderung: „Free Gaza from German guilt“. Der Vorwurf lautet, man negiere den angeblichen Genozid in Gaza aus Schuldgefühlen gegenüber Israel. Außerdem geht es immer um den „Antisemitismus der anderen“. Wer politisch etwa bei der CDU steht, blickt gern auf den linken oder den islamischen Antisemitismus; wer links steht, blickt eher auf den rechten Antisemitismus. Dadurch entsteht nie ein Dialog über das Problem selbst, es entstehen nur Vorwürfe.
Wie verhält sich eigentliche die bürgerliche Mitte zu dem grassierenden Antisemitismus?
Ja, es gibt auch bürgerlichen Antisemitismus. Während der Querdenker-Proteste konnten wir strukturell kodierten Antisemitismus und Geschichtsrevisionismus beobachten. Ungeimpfte haben sich Judensterne aufgenäht, sich mit Anne Frank verglichen. Es gab den Antisemitismus-Skandal auf der Documenta. Ich erinnere an Hubert Aiwanger, von dem es auch jenseits des Flugblatts viele antisemitische Äußerungen gab. Seit der Eskalation in Nahost 2021 haben sich viele Gruppen zusammengetan. Rechte sind teilweise bei sogenannten „Pro Palästina“-Demos dabei. Querdenker und Friedensdemonstranten verbünden sich, und dann spricht Sahra Wagenknecht. Es bildet sich eine antiaufklärerische, antisemitische Melange aus dem rechten, linken und bürgerlichen Spektrum: Und alle haben einen gemeinsamen Ausgangspunkt: Antisemitismus.
Unterschiedliche verschwörungsideologische Kreise vermengen sich?
Ja, eindeutig. Die Partei „Die Rechte“ fährt seit längerem eine Kampagne: „Zionismus stoppen! Israel ist unser Unglück“. Die extreme Rechte verzeichnet international im digitalen Raum seit dem 7. Oktober einen enormen Reichweiten-Zuwachs, wenn sie propalästinensische Themen bespielt. Wir dürfen dabei den ökonomischen Faktor nicht unterschätzen. Wer sich proisraelisch positioniert, erreicht global eine deutlich kleinere Gruppe. Wer sich propalästinensisch positioniert, generiert viel mehr Reichweite. Und dabei spreche ich nicht von den Menschen, die direkt vom Krieg betroffen sind und denen es um Aufmerksamkeit um ihre Angehörigen und Freunde geht. Von Menschen, die Empathie und Unterstützung brauchen. Warum posten Wellness-Influencer, die sich zuvor nie politisch geäußert haben, plötzlich zu Israel und dem angeblichen Genozid in Gaza? Dahinter steckt Kalkül, teilweise auch Gruppendruck.
Jede dieser Bewegungen hatte ihre Plattform, bei Pegida war es Facebook, bei den Freien Sachsen Telegram –wo tobt sich der neue Antisemitismus aus?
Das hängt vom Milieu ab. X wird geflutet von Desinformationen – kein Wunder, wenn der Eigentümer selbst sich nicht scheut, Antisemitismus zu verbreiten. Auf Instagram und TikTok mischen sich eher der Antisemitismus links-progressiver und islamistischer Akteure; und das alles in einer Zeit, in der Content kaum mehr moderiert wird, und Menschen nicht mehr wissen, welchen Bildern sie noch glauben können. Die Betreiber der Portale werden ihrer Verantwortung nicht gerecht, und das ist brandgefährlich. Das hilft vor allem autoritären Akteuren, und am Ende heißt es nur noch: „Ich weiß nicht so genau, was jetzt stimmt.“
Wie lässt sich dagegenhalten?
Wir müssen erst einmal verstehen, in welcher Welt wir leben: Einer anderen als vor der Pandemie. Wir haben eine geopolitische Verschiebung der Machtverhältnisse. Donald Trump könnte wieder US-Präsident werden und droht, aus der Nato auszusteigen. Wir haben einen Krieg in Europa. Trotzdem gibt es kaum Materialien, die sich mit dem Krieg auf Social Media auseinandersetzen. Die extreme Rechte ist global auf dem Vormarsch. Mit ihr an der Macht wäre die Haltung zu Russland eine ganz andere. Dazu kommt der Klimawandel. Die Debatten, die wir führen, passen nicht zur Dimension unserer Probleme. Studien zeigen, dass Aufklärung über Parolen oft dazu führt, dass Menschen von radikalen Positionen abrücken. Politische Bildung hat erstaunliche Effekte. Befragungen haben gezeigt, dass viele derer, die „From the River to the Sea“ skandieren, gar nicht wissen, welcher Fluss und welches Meer eigentlich gemeint sind.
Während der Pandemie hat Twitter zu Corona-Posts automatisch Warnungen geschaltet, die mit Fakten-Sammlungen verlinkt waren. Haben die Plattformen den Kampf gegen Fehlinformationen aufgegeben?
Es gibt kaum ein Risikomanagement seitens der Plattformbetreiber. Sie werfen Technologien einfach auf den Markt. Als würde jemand ein Auto verkaufen, das ständig Unfälle baut, ohne dass er Konsequenzen zu befürchten hätte. Gerade mit Blick auf das Superwahljahr und auf die USA ist es extrem wichtig, schnell zu reagieren. Das eine sind langfristige strukturelle Änderungen. Aber wie geht man mit Inhalten um, bei denen es um Minuten geht? Auf Facebook beispielsweise gab es einen Account aus den Niederlanden, der dazu aufgerufen hat, zum Flughafen zu fahren und israelische Passagiere aufzuhalten. So was muss sofort gelöscht werden.
Warum passiert das nicht?
So wie die Meldefunktionen gebaut sind und das Personal gekürzt wurde, habe ich das Gefühl, dass die Plattformen sich nicht ansatzweise ihrer Verantwortung bewusst sind. Da braucht es politischen Druck. Wir haben erforscht, ob und wann Telegram problematische Accounts löscht – und haben festgestellt, dass erst der Austausch mit dem Innenministerium tatsächlich zu mehr Löschungen führte. Dafür braucht es permanenten politischen Druck.
Unsere Gesellschaft streitet derart um Fakten, dass man meinen könnte, es gibt keine Verständigung mehr. Gibt es noch eine gemeinsame Basis?
Während der Pandemie gab es eine größere Gruppe, die sich von Fakten verabschiedet hat und trotzdem war ich überzeugt, die Mehrheit sei an Fakten interessiert. Inzwischen bin ich mir nicht mehr sicher. Das größte Problem sind nicht mal die, die sich abwenden, sondern es ist der Graubereich: Viele Menschen haben das Gefühl, es gäbe gar keine objektive Wahrheit mehr, sondern eine Wahrheit der Mitte zwischen den Dingen, die Leute sagen. Die Wahrheit liegt aber nicht in der Mitte zwischen den Aussagen zweier Akteure, etwa denen der Hamas und Israel.
Was bedeutet es für unsere Gesellschaft, wenn es keine objektive Wahrheit mehr gibt?
Für die Demokratie bedeutet es, dass sich Dinge immer schlechter verhandeln lassen. Es geht zunehmend um Bauchgefühl statt Ratio und Aufklärung. Wenn Leute nicht das Gefühl haben, dass der Klimawandel real ist, zählt dieses Gefühl mehr als die Ergebnisse jahrzehntelanger Forschung. Autoritäre Kräfte können das für sich ausnutzen, mit Emotionen ist das viel leichter als mit Fakten.
Autoritäre Kräfte werden von diesen Konflikten auch bei den diesjährigen Wahlen profitieren?
Ich gehe davon aus. Die demokratischen Kräfte müssten der großen Erzählung der extremen Rechten kein Klein-Klein, sondern eine humanistische Vision entgegensetzen. Es ist fatal, dass die demokratischen Parteien gegen die einfachen Antworten der Rechtextremen auf große Fragen so blank dastehen.
Sie haben mehrfach davor gewarnt, wie schädlich es für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist, dass wir die Pandemie nicht aufgearbeitet haben. Danach kamen Ukraine, Russland, das Gas – jetzt noch Israel und Gaza. Was resultiert daraus?
Wir haben eine Akkumulation von Belastungen. Gerade in der jüngeren Generation hat sich eine Hoffnungslosigkeit ausgebreitet, aus der verstärkt Vorurteile hervorgehen. Verschwörungsmythen und Holocaust-Leugnung etwa finden sich in den USA vor allem bei jüngeren Menschen. Sie glauben, dass die Massaker Fake News sind. Die AfD punktet nicht nur beim klischeehaften arbeitslosen Mann über 50, sondern gerade bei der jungen Generation. Wir nehmen die psychosoziale Komponente hinter politischen Einstellungen nicht ernst genug. Das schadet dem demokratischen Diskurs. Für die gesamte Gesellschaft ist die Phase relativer Stabilität vorbei.