Die EU-Kommission tut sich schwer mit der Frage, wie es ab März 2025 mit den Ukraine-Flüchtlingen weitergehen soll. Es gebe derzeit eine Diskussion und man prüfe die Möglichkeiten, sagt eine Sprecherin der EU-Kommission. Hintergrund der Verunsicherung ist die Massenzustrom-Richtlinie der Europäischen Union zum temporären Schutz.
Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine wurde der Mechanismus am 4. März 2022 aktiviert. Alle Mitgliedstaaten fanden das eine gute Idee, um Chaos zu vermeiden. Die Regelung kann, so steht es in Artikel 4 der Richtlinie, zweimal verlängert werden – um jeweils höchstens ein Jahr. Etwa fünf Millionen Ukrainerinnen kamen mit dieser Regelung in der EU an. Allein in Deutschland waren es etwa eine Million, davon 80 Prozent Frauen.
Hätte der Rat keinen entsprechenden Beschluss gefasst, hätten die geflohenen Ukrainerinnen und Ukrainer das reguläre Verfahren durchlaufen müssen: Sie hätten einen Asylantrag stellen und mit hoher Wahrscheinlichkeit dann den Flüchtlingsstatus nach Genfer Flüchtlingskonvention erhalten, den sogenannten subsidiären Schutz. Allein die schiere Masse hätte die EU-Mitgliedstaaten und allen voran Deutschlands Verwaltung überfordert. Deshalb wollten die Bundesregierung, aber auch Länder und Kommunen genau diese Richtlinie anwenden.
Doch mit der zweiten, im Oktober 2023 beschlossenen Verlängerung bis zum März 2025 ist das Instrument ausgereizt, wenn man Artikel 4 wörtlich nimmt. Es ist ein Problem, denn wenig spricht dafür, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer 2025 in ein friedliches Land zurückkehren könnten. Bereits im vergangenen Sommer warnte ein Sonderbeauftragter der EU-Kommission in einem Bericht, dass zeitnah eine Lösung gefunden werden müsse. Es bedürfe einer Langzeitperspektive, forderte der ehemalige belgische Arbeitsminister Lodewijk Asscher.
Doch im umstrittenen EU-Asylpaket wurde die Richtlinie für den temporären Schutz nicht mitverhandelt. Einen Unterschied macht das gerade für Deutschland, wo seit Monaten die Frage im Raum steht, ob die Ungleichbehandlung von ukrainischen und anderen Flüchtlingen gerechtfertigt ist.
Die EU-Kommission präsentierte im Januar beim informellen Rat der Justiz- und Innenminister nun Lösungsansätze. Als „erste Reflexionsübungen“ bezeichnete die belgische Migrationsstaatssekretärin Nicole de Moor den Austausch. Eine davon: Eine kreative Interpretation der bislang angewandten Richtlinie, sodass eine Verlängerung über 2025 hinaus doch möglich wäre. Diese Variante habe EU-Innenkommissarin Ylva Johansson den Mitgliedstaaten präsentiert, heißt es in Brüsseler Kreisen. Unter Rechtsgelehrten allerdings war die Endlichkeit der Maßnahme bislang einhellige Rechtsmeinung. Auf Nachfrage kann oder will die Generaldirektion Innen der EU-Kommission keine Details nennen.
Das deutsche Bundesinnenministerium hält sich angesichts der Debatten bedeckt: „Das BMI begrüßt Ansätze, die weiterhin ein kohärentes Handeln aller Mitgliedstaaten ermöglichen, um wegen des russischen Angriffskrieges aus der Ukraine Geflüchtete in der EU zu schützen.“ Zu den konkreten Überlegungen der EU-Kommission will sich Nancy Faesers Haus nicht äußern und verweist auf die Kommission und die laufenden Gespräche der Mitgliedstaaten.
Doch die Zeit spielt gegen eine Neuregelung: Die EU-Kommission hat bislang keinen förmlichen Vorschlag auf den Weg gebracht, um die Richtlinie zu ändern. Innenkommissarin Ylva Johansson kündigte gar an, keinerlei Regelungsvorschläge vorzulegen, bevor Einigkeit im Zielkorridor bestehe. Im April aber wird das derzeitige Europaparlament das letzte Mal tagen, im Juni wird gewählt. Danach muss die neue EU-Kommission ernannt werden. Bis September steht die EU-Gesetzgebungsmaschine daher mindestens still, vielleicht auch länger.
Dazu kommt, dass in der zweiten Jahreshälfte ausgerechnet Ungarn die Ratspräsidentschaft stellt, die auch über Verhandlungstermine zu Vorhaben entscheidet. Das verbleibende gute Jahr besteht real also nur noch aus wenigen Wochen.
Fiele in Deutschland der Sonderstatus für die Geflohenen aus der Ukraine weg, würden sich erhebliche Verwaltungsprobleme ergeben. Vorneweg für die eh schon überlasteten Ausländerbehörden und die Arbeitsagenturen: Sie müssten dann eine Million „Kunden“ viel intensiver verwalten als bisher, Ansprüche intensiver prüfen. Schon hier lebende Ukrainerinnen und Ukrainer könnten ohne Neuregelung dann künftig unter das Asylbewerberleistungsgesetz fallen.
„Das wäre allerdings nicht die von uns präferierte Möglichkeit, da so die Ausländerbehörden mit einer Antragsflut konfrontiert werden würden“, erläutert ein Sprecher des Deutschen Landkreistages. „Als Alternative zu einer EU-Lösung kommt deshalb wohl nur eine generelle Aufenthaltsregelung in Deutschland in Betracht, die individuelle Anträge obsolet werden lässt.“ Für Neuankömmlinge sollte eine Regelung wie für Asylbewerber allerdings in Betracht gezogen werden, betont der Landkreistag.
Kein Wunder, dass man im Bundesministerium für Arbeit und Soziales derzeit vor allem eines will: Ukrainerinnen und Ukrainer aus dem Sonder-Schutzstatus herausholen. „Ein solcher Wechsel ist aus Sicht des BMAS wünschenswert, auch weil er den Geflüchteten und Arbeitgebern eine sichere Perspektive über die Dauer der Durchführung der Richtlinie zum vorübergehenden Schutz hinaus ermöglicht“, teilte eine Sprecherin auf Anfrage von Table.Media mit.
Doch aus Sicht der Geflüchteten ist das nicht automatisch attraktiv : Ein Wechsel aus dem bisherigen Schutzsystem führt auch dazu, dass sie erst einmal keinen Anspruch auf Grundsicherung oder Bürgergeld haben. Zumindest dann, wenn sie nicht an Integrationsmaßnahmen für den Arbeitsmarkt teilnehmen. Das aber würde erheblichen Mehraufwand bedeuten. Die Arbeitsagenturen und Job-Center könnten das stemmen, meint das Bundesministerium für Arbeit und Soziales. „Die Bundesagentur für Arbeit hat in der Vergangenheit bewiesen, dass sie mit unerwarteten Bedarfen umgehen kann“, heißt es aus dem Ministerium von Hubertus Heil.
Ob das aber reibungslos funktionieren würde? Ein Weg könnte sein, dem Asylpaket in letzter Minute eine entsprechende Änderung hinzuzufügen. Doch längst nicht in jedem EU-Land stellt sich das Problem gleich. Deutschlands Ansatz der unkomplizierten Aufnahme auf Basis des Sozialrechts könnte auf wenig Verständnis bei anderen Mitgliedstaaten stoßen und weitere Zugeständnisse beim Asylrecht erfordern.
Nicht nur für die Betroffenen steht also ein Jahr vor dem wahrscheinlichen Auslaufen ein Problem im Raum, das sich seit Beginn der Regelung angekündigt hatte. Noch aber hoffen viele Beteiligte auf eine europäische Lösung. Denn selbst im Fall eines baldigen Friedens in der Ukraine wäre eine schnelle Rückkehr für alle Geflüchteten binnen kurzer Zeit kaum realistisch.