Analyse
Erscheinungsdatum: 22. April 2024

Steinmeier in der Türkei: Erst das Leben, dann der Präsident

An dem Bahnhof in Istanbul, von dem aus sich einst Hunderttausende von Gastarbeitern auf den Weg nach Deutschland gemacht haben, beginnt Frank-Walter Steinmeier seine Türkei-Visite. Sein Rundgang wird von Hamas-Sympathisanten gestört.

Das deutsche Staatsoberhaupt hat seine erste Visite seit sieben Jahren bewusst nicht mit den erwartbar heiklen Gesprächen in Ankara begonnen, sondern mit Besuchen an geschichtsträchtigen Orten. Am berühmten Istanbuler Bahnhof Sirkeci traf er den jüngst wiedergewählten Bürgermeister Ekrem İmamoğlu – und ließ sich von Historikern erklären, wie und in welcher Stimmung in den 1960er Jahren von hier aus Hunderttausende türkische Gastarbeiter nach Deutschland aufbrachen.

In einer kurzen Rede sprach Steinmeier ausführlich über „viele Geschichten von Neugier und Angst“, die in diesem Bahnhof begannen. I m Cafe Orient Express redete er über das, was nach dem Aufbruch hier meist als Erstes kam: „Heimweh, Entbehrung und Anstrengung.“ Seine Botschaft, zum Start in diese besondere Visite: Wir Deutschen, wir sind Euch dankbar. Seine Worte, seine Geste, sie sollen sich brechen mit den seit Jahren festgefahrenen Aufgeregtheiten zwischen Berlin und Ankara.

Zweite Etappe am ersten Tag: die frühere Sommerresidenz des deutschen Botschafters. Denn es gab nicht nur die eine Richtung der Migration. Die Residenz war 1880 ein Geschenk des damaligen Sultans und ist heute ein wichtiges Zentrum des Austauschs. Vor allem aber gehört sie zu den Zeugnissen jener Zeit, als in den zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts erst deutsche Abenteurer und dann Flüchtlinge aus dem Dritten Reich in die neue Türkei kamen. Es waren Intellektuelle, Musiker, Architekten, die das Land auf ihre Weise ebenso prägten, wie es heute in Deutschland auch die Gastarbeitergenerationen machen. Nur ein Beispiel von vielen: der deutsche Architekt August Jachmund. Er hatte den Bahnhof Sirkeci einst entworfen – als Endstation des Orient-Express, der in Paris startend den Westen mit dem Orient verbinden sollte.

Steinmeier hat sich sehr bewusst für eine ungewöhnliche Ouvertüre seines Besuchs entschieden. Nicht Ankara, nicht Erdoğan, stattdessen Sirkeci und Gaziantep am Dienstag. Nach dem Eklat beim letzten Staatsbankett für Recep Tayyip Erdoğan in Berlin will er den Blick auf das lenken, was länger wirkt und tiefer sitzt als die Amtszeit von Präsidenten. Deshalb der Fokus auf die Menschen hier wie dort, die als Migranten kamen. Und deshalb am Dienstag auch sein Besuch im Erdbebengebiet von Gaziantep. Das soll weitere Solidarität und Hilfe unterstreichen, aber auch daran erinnern, dass Deutschland der größte Geber nach der Katastrophe gewesen ist.

Steinmeier macht damit exakt das Gegenteil dessen, was Erdoğan vorab getan hat. Der türkische Präsident empfing noch am Wochenende den sogenannten außenpolitischen Vertreter der Hamas, Ismail Haniyeh. Händeschüttelnd; Solidarität versprechend; wissend, was das für eine Provokation ist. Und ein kleiner Beleg für das immer noch heikle Verhältnis zwischen den beiden.

Angesichts dessen hatte es einen unangenehmen Beigeschmack, dass Steinmeiers Rundgang in dem alten Bahnhof von circa 50 Hamas-Sympathisanten gestört wurde. Sie schwenkten Plakate mit Hitler-Fotos, Nazikreuzen und einem Bild von Steinmeier und riefen Parolen wie „Verbrecher Deutschland! Mörder Deutschland! Kindermörder Deutschland!“ Obwohl türkische Sicherheitskräfte ähnliche Störungen sonst mit Härte unterbinden, ließen sie die Demonstranten minutenlang gewähren.

Das mag auch ein Vorgeschmack sein für die politischen Gespräche, die am Mittwoch anstehen. Obwohl Steinmeier keine exekutive Macht hat, werden alle Großbaustellen Thema werden: Erdoğans Umgang mit der Hamas, seine schwankende Haltung zum Krieg in der Ukraine, aber auch die Zukunft des EU-Türkei-Abkommens. Hinzu kommt ein neues Phänomen: Zurzeit stellen Türkinnen und Türken schon die zweitgrößte Gruppe derer, die als Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Ihre Chancen auf Asyl sind oft gering, trotzdem gibt es erhebliche Probleme bei der Rückführung. Möglicherweise auch, weil die aktuelle Regierung in Ankara kein großes Interesse hat, Oppositionelle wieder aufzunehmen. Laut spricht darüber kaum jemand. Aber Steinmeier möchte es in den Grenzen, die ihm als Präsident gesetzt sind, zum Thema machen.

Eine kleine Botschaft an Erdoğan hatte Steinmeier indes auch: Er traf und sprach mit dem Istanbuler Bürgermeister İmamoğlu. Protokollarisch ist das für Erdogan eigentlich kein Problem. Aber İmamoğlu gilt spätestens seit seiner Wiederwahl vor wenigen Wochen als der kommende Mann der Türkei. Es war ausgerechnet Erdoğan, der – einst selbst Bürgermeister in der größten Stadt der Türkei – den Satz geprägt hat: Wer Istanbul regiert, regiert die Türkei.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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