Analyse
Erscheinungsdatum: 23. Juli 2023

Standpunkt zur Digitalisierung: „Das Kanzleramt muss aktiv werden"

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Die Vorsätze waren ambitioniert, die Realität ist ernüchternd: Deutschland hinkt in puncto Digitalisierung dem eigenen Anspruch weit hinterher. Valentina Kerst und Fedor Ruhose, mit dem Thema und politischen Prozessen gleichermaßen vertraut, analysieren die Ausgangslage und geben Hinweise, wie sich der Aufbruch, den alle wollen, womöglich organisieren ließe.

„Deutschland braucht einen umfassenden digitalen Aufbruch.“ Dieser Satz aus dem Koalitionsvertrag wird nicht nur von Politiker und Politikerinnen der Ampel-Koalition oft zitiert. Fast alle Parteien haben sich auf die Fahnen geschrieben, die Digitalisierung voranzubringen. Doch Wunsch und Wirklichkeit passen nicht immer zusammen. Das zeigt auch der vor der Sommerpause vorgelegte Entwurf für den Bundeshaushalt.

Schlagwortartig kann man das so zusammenfassen:

Wer also behauptet, Deutschland digitalisiere sich umfassend, muss damit rechnen, entschiedenen Widerspruch zu ernten. Beispiele von verunglückten Projekten finden sich schnell. Das ist ein Problem, denn gleichzeitig wird unsere eigene Lebenserfahrung tagtäglich immer digitaler. Wir leben eigentlich schon in einer postdigitalen Zeit, in der wir wie selbstverständlich in nahezu allen Lebenslagen eine digitale Unterstützung nutzen.

Das verändert die Erwartungshaltung hinsichtlich der Dienstleistungen des Staates. Das Auseinanderfallen von eigenem Erleben digitaler Möglichkeiten und dem Digitalisierungsgrad der Öffentlichen Verwaltung führt zu weiterem Vertrauensverlust. Es hat das Potenzial, Wasser auf die Mühlen populistischer Stimmungen und Stimmen zu gießen.

Die Ursachen sind vielschichtig. Wir sehen aus den Erfahrungen der vergangenen Jahre: Klassische politische Instrumente wie beispielsweise die Gesetzgebung haben kaum noch Wirkung. Und auch der Blick in den Haushalt hilft nicht unbedingt weiter, denn das einfache Bereitstellen von Finanzmitteln führt nicht dazu, dass wir vorankommen.

Die Gefahr aus dieser Situation: Wir geraten in einen schleichenden Blackout. Das Fehlen digitaler Lösungen bei wichtigen politischen Vorhaben führt zur Überlastung der sowieso schon vom demografischen Wandel belasteten Verwaltungen auf der einen und der Unternehmensseite oder der Bevölkerung auf der anderen.

Prominente Beispiele sind die Grundsteuererhebung, aber auch die Wohngeldreform. Die Liste ließe sich mühelos verlängern. Politische Versprechen lassen sich auf der Vollzugsebene kaum noch umsetzen.

Was also tun?

Fangen wir mit dem Geld an. Digitalbudgets müssen in den Haushaltsverhandlungen eine viel bedeutendere Rolle einnehmen. Der finanzielle Spielraum ist auf der einen Seite natürlich eine wichtige Komponente, wenn es um die Weiterentwicklung von Digitalisierung in Deutschland geht. Auf der anderen Seite geht es aber auch um das Bewusstmachen eines eigenen Politikfelds: Aktuell gibt es kaum Daten über die Höhe der jeweiligen Budgets in den Ministerien oder Dezernatsstellen. Liegen solche Auswertungen vor, sind es in der Regel Listen über Projekte, deren Budgets mit digitalem Bezug aufsummiert werden. Dies führt dazu, dass oftmals kein Überblick besteht, vielmehr noch: Es gibt keine politische Machtoption, wenn nicht deutlich wird, wie hoch das eigene Politikfeld bewertet wird. In Sparrunden, wie sie nun von der Bundesregierung eingeläutet wurden, ist das eine besonders problematische Lage.

Ein weiterer Schlüssel zum Erfolg wäre eine funktionierende Koordination auf Bundesebene. Hier plädieren wir dafür, dass das Kanzleramt diese Funktion aktiv übernimmt. Das ist übrigens keine Schwächung derjenigen, die bisher dafür Verantwortung tragen. Vielmehr ist es eine Aufwertung des eigenen Themenfelds.

Digitalisierung braucht auf der einen Seite also Führung, sie muss aber endlich „normal“ werden an allen Stellen des öffentlichen Dienstes. Verwaltung im Gesamten braucht interne Digitalisierungsexpertise. Die Abhängigkeit von Beratungs- und Tech-Unternehmen ist an vielen Stellen zu hoch. Wir brauchen daher eine Offensive zur Wiedergewinnung der digitalen Souveränität unseres Staates. Dafür braucht es konkret die Vernetzung der bestehenden Digitalisierungsinstitutionen, seien es nun Behörden, Agenturen oder staatliche Dienstleister. Erfolgreiche Verwaltungsdigitalisierung braucht ein starkes Umsetzungsökosystem, welches vernetzt und kooperativ agiert. Staatlich und privat – gemeinsam. Bund und Länder müssten dafür ein gemeinsames Instrument entwickeln, um damit auch die föderale Zusammenarbeit zu gestalten. Dieser Einheit muss die tatsächliche Umsetzungskompetenz von der Fachseite und den verschiedenen politischen Ebenen zukommen. Damit ließe sich ein deutscher Government Digital Service etablieren, wie es in der Digital4Germany GmbH auf Bundesebene schon angelegt ist.

So würde Digitalisierung als das verstanden, was sie wirklich ist – kein Selbstzweck, sondern, wenn wir sie richtig verstehen, ein umfassendes Ökosystem für unseren Staat. Wenn alle an einem Strang ziehen – diejenigen, die das fachliche Knowhow besitzen und diejenigen, die die „Digitalisierungskompetenz“ mitbringen, könnte der deutsche Staat den Rückstand aufholen, den schleichenden digitalen Blackout vermeiden und Vertrauen der Bürger:innen und der Unternehmen zurückgewinnen.

Valentina Kerst ist Staatssekretärin a.D., Gründerin und Unternehmerin. Sie ist Mitglied des DigiHubs der SPD. Fedor Ruhose ist Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Soziales, Transformation und Digitalisierung Rheinland-Pfalz. Der Beitrag basiert auf ihrem Buch „ Schleichender Blackout. Wie wir das digitale Desaster verhindern “, das gerade im Dietz Verlag erschienen ist.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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