Der SPD gelingt es bisher nicht, die Debatte um den richtigen SPD-Kanzlerkandidaten für die Wahl am 23. Februar zu stoppen. Eine für Dienstagabend kurzfristig angesetzte Konferenz der Parteiführung mit den Stellvertretern hat den Charakter eines Krisentreffens bekommen. Viele Ex-Größen der Partei haben sich zu Wort gemeldet, und insbesondere in Nordrhein-Westfalen bleibt der Druck auf Olaf Scholz hoch. Unter Druck gerät aber nicht mehr nur der Kanzler; unter Druck gerät auch die Parteiführung, der es nicht gelingt, der heiß laufenden Debatte einen Deckel aufzusetzen. Sie will ihrerseits nichts (vor)entscheiden, solange der Kanzler von seinem G20-Trip nicht wieder zurück in Berlin ist.
Das Dilemma der Partei und ihrer Führung ist offenkundig. Vor zwei Wochen hat sie mit großer Mehrheit den Rauswurf von Christian Lindner als Akt der Befreiung gefeiert. Nun soll sie sich mit einem maximal unpopulären Kanzler in den Wahlkampf stürzen, während der populäre Boris Pistorius auf der Ersatzbank bleibt. In den USA zieht ein skrupelloser Populist ins Weiße Haus ein, in der Ukraine eskaliert der Krieg – und in der SPD drängen Unterbezirke, Kreis- und Landesverbände auf einen Wechsel des Kanzlerkandidaten.
Vor dieser Folie tobt in allen Unterbezirken und Kreisverbänden die Debatte. Mit gefühlten Vorteilen für Pistorius. Als politischer Brandbeschleuniger entpuppte sich dabei eine unabgestimmte Kommentierung der beiden Anführer der NRW-Landesgruppe im Bundestag, Dirk Wiese und Wiebke Esdar; er ist Sprecher der Seeheimer, sie Sprecherin der Parlamentarischen Linken. Darin berichten sie von „viel Zuspruch für Boris Pistorius“. „Einen Neustart“ fordert im Stern Martin Töns, der Sprecher der Ruhrgebiets-SPD. Und „der wäre mit Boris Pistorius leichter als mit Olaf Scholz“. Wiederholt hat sich auch Ex-Parteichef Sigmar Gabriel zu Wort gemeldet, zuletzt via Spiegel mit dem Vorschlag eines zeitnahen Mitgliederentscheids. „Es ist jetzt auch die Zeit der Abrechnung“, kommentiert ein erfahrener Genosse den Diskussionsverlauf.
Dass sich die zwei größten Flügel der Fraktion unterhaken, kommt nicht häufig vor. Doch in NRW ist die Partei in der Defensive. In zehn Monaten finden dort Kommunalwahlen statt, und die SPD ist selbst im Ruhrgebiet, ihrer „Herzkammer“, drauf und dran, die Vorherrschaft zu verlieren. Die Kommunalpolitiker sind alarmiert und setzen Abgeordnete und die Parteiführung unter Druck: Ein pragmatischer, hemdsärmeliger Boris Pistorius wäre ihnen allemal lieber als ein schweigsamer Olaf Scholz. Und in vielen Medien löst die Debatte eine eigene Dynamik aus. Scholz-Kritiker bekommen knackige Schlagzeilen, Scholz-Befürworter müssen sich mit dürren Zitaten am Ende eines Absatzes begnügen. „Läuft jetzt der Kanzler-Putsch?“ fragt Bild. „Revolte in der SPD gegen den Kanzler – die Stunde des Boris Pistorius“, titelt der Stern.
Dass die Parteiführung zögert, hat gute Gründe. Pistorius hat einen unbestritten guten Job als Verteidigungsminister gemacht, hat sich für die Soldaten ins Zeug geworfen, seinen Etat – unter dem Eindruck des Russland-Krieges – deutlich steigern können, kann Expertise in der Innen- und Sicherheitspolitik vorweisen, tritt unprätentiös und bürgernah auf. Und er ist auch in der Frage der Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern loyal zu seinem Kanzler, selbst wenn er eigentlich anderer Ansicht ist. Aber, so fragen sich selbst Gutmeinende, kann er auch Wirtschafts- und Finanzpolitik? Kennt er sich in der Sozialpolitik und in den Details der Energiewende aus? Oder würde er beim ersten Stresstest einbrechen? Und wäre er in der Lage, die offenen parteiinternen Gräben wieder zuzuschütten?
Noch ist der Ausgang offen, wenn auch mit leichter Tendenz zu Pistorius. Aber die Parteiführung wird sich rasch eindeutig erklären müssen, wenn sie nicht selbst Schaden nehmen will. „Koalition gescheitert, dem eigenen Kanzler das Vertrauen entzogen in Zeiten von Wirtschaftskrise, Krieg und Donald Trump“, bilanziert Ex-Staatssekretär und Ex-Wahlkampfmanager Matthias Machnig. Das sei „eine schwere Hypothek für den Wahlkampf“. Statt Stabilität vermittle die Partei maximale Unruhe – „das ist kein überzeugendes Angebot“.