Analyse
Erscheinungsdatum: 02. Februar 2025

Roland Koch: Das Ziel der AfD ist auch die Zerstörung der CDU

Aus der Politik ist Roland Koch seit 15 Jahren raus; als freundschaftlicher Berater von Friedrich Merz spielt er nach wie vor eine Rolle. Im Interview lobt er dessen Klarheit und Standfestigkeit: "Das sind wir von Kanzlern vielleicht nicht mehr gewohnt, aber das wird gebraucht."

Keine Frage beschäftigt aktuell die Menschen und die wahlkämpfenden Parteien so sehr wie der Streit um die Migrationspolitik – und die Linie von Friedrich Merz, auch Abstimmungen nicht aus dem Weg zu gehen, bei denen er die Unterstützung der AfD bekommen kann. Ist das das Ende der Brandmauer?

In den letzten Tagen ist deutlich geworden, es kann und wird mit der AfD keinen gemeinsamen Weg geben. Das Ziel der AfD ist auch die Zerstörung der CDU. Aber es ist eben auch deutlich geworden, nur eine sehr starke CDU mit einem starken Kanzler Merz kann endlich die illegale Migration mit ihren enormen Herausforderungen und schrecklichen Begleiterscheuinungen stoppen. SPD-Wählern kann man nur empfehlen, ihrer Partei dieses Mal einen Denkzettel zu geben, dann gibt es im nächsten Bundestag in der Mitte eine Mehrheit für die Begrenzung des Zuzugs.

Ist der Weg, den Merz eingeschlagen hat, richtig?

Merz hat richtig entschieden und jeder konnte in dieser Woche seine Klarheit und Standfestigkeit beobachten. Das sind wir von Kanzlern vielleicht nicht mehr gewohnt, aber das wird gebraucht. Übrigens musste er nach den brutalen Morden in Aschaffenburg mit den fünf Punkten klare Kante zeigen. Dann mussten sie auch in den Bundestag. Wie hätten CDU/CSU denn ausgesehen, wenn man zugelassen hätte, dass die AfD diese Punkte der Union zur Abstimmung gestellt hätte. So etwas geht nicht.

Warum muss das Thema Migration mitten im Wahlkampf stehen?

Wir können nicht drumrum reden, dass viele Gemeinden und Länder mit der Integrationslast nicht mehr fertig werden. Und man sieht, dass zwar Menschen in unser Land kommen, die Politik aber nahezu unfähig ist, gerade die Gefährlichsten wieder rauszubekommen. Auch wenn sie kein Recht haben, sich hier aufzuhalten; auch wenn sie hier schon erhebliche Straftaten begangen haben; auch wenn sie den Behörden sogar bekannt sind, als Täter oder als Gefährder, bei denen man nicht sicher sein kann, ob sie irgendetwas Furchtbares anrichten. Das kann man keiner Familie, keiner Mutter, keinem Vater mehr erklären. Die immer gleichen Rituale nach Mannheim, Solingen, Aschaffenburg, Magdeburg und anderen furchtbaren Ereignissen, die mit Empörung und Mitgefühl beginnen und mit Nichtstun enden, sind inzwischen demokratiegefährdend., Deswegen finde ich es richtig, dass er gehandelt hat.

Mussten die Anträge im Bundestag sein?

Ja. Weil die Demokratie nicht nur in Gefahr gerät, wenn Radikale die Macht übernehmen, sondern auch in Gefahr gerät, wenn eine gesellschaftliche und politische Minderheit die Radikalen nutzt, um die politische Auseinandersetzung so zu tabuisieren, dass der Wille der Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr durchgesetzt werden kann. Und von einer großen stolzen Partei wie der CDU kann man auch nicht ernsthaft verlangen, dass sie Rot-Grün um Erlaubnis bitten muss, was sie beantragen darf und was nicht. Die Summe der Punkte, die schon zu lange unbehandelt liegen, hat dazu geführt, dass das Zutrauen in die Politik, sie werde nach einer neuen Wahl wirklich einen Politikwechsel vollziehen, gesunken ist. Dem muss Friedrich Merz entgegenwirken. Je höher die Wahrscheinlichkeit ist, dass Menschen glauben, dass sie mit ihrer Stimme eine konkrete Veränderung bewirken können, umso höher ist die Chance, dass sie auch Parteien der Mitte wählen. Je mehr sie den Glauben daran verlieren, umso höher ist die Neigung zur Radikalisierung und dazu, sich dem Heer der Nichtwähler anzuschließen.

Altkanzlerin Angela Merkel hat sich nun mit einer Erklärung gegen Merz gestellt. Wie bewerten Sie das?

Die Herausforderungen und diese schrecklichen Ereignisse treiben die Menschen in Deutschland seit Jahren um, die Blickwinkel sind unterschiedlich – dass es dazu unterschiedliche Haltungen gibt, muss und kann eine große Volkspartei wie die CDU aushalten.

Populisten wie das BSW und rechte Extremisten wie die AfD nehmen die politische Mitte in die Zange. Muss die politische Mitte nicht besser zusammenhalten?

Die Entwicklung hat sehr unterschiedliche Gründe. Und wir dürfen sie nicht allein mit der deutschen Brille betrachten. Es geht viel weiter, wenn man sich ansieht, was in Österreich, in Frankreich, in den Niederlanden, oder in Italien passiert. Wir beobachten diese Herausforderung in allen demokratischen Gesellschaften. Das Unübersichtliche der Welt hat zu einer Stärkung von nationalistischen Tendenzen geführt. Die Folge: Alle, die sehr ego-bezogene, nationalistische Untertöne spielen, haben einen höheren Resonanzboden in der Welt.

Das gilt für alle. Was gilt für uns?

Dieser Resonanzboden wird immer größer, wenn die Menschen nachhaltig unzufrieden sind mit den Bedingungen, die sie in ihrem Land vorfinden. Das können sehr unterschiedliche Dinge sein: eine unkontrollierte Zuwanderung, die unter anderem dazu führt, dass sie ihre Kinder in Schulklassen schicken, in denen nur noch 2 von 20 Kindern Deutsch sprechen. Dazu Kriminalitätsraten, die sich zu ihrer Unsicherheit hin entwickeln und bei denen meistens sehr kurzfristig Zugewanderte eine besondere Bedrohung sind. Dass Frauen sich nicht mehr in Bahnhöfe trauen, Menschen Angst um ihre Töchter haben, wenn sie am Wochenende abends unterwegs sind. Sie erwarten vom Staat, dass er solche Probleme löst. Werden sie nicht gelöst, geht das Vertrauen in den Staat kaputt.

Die Migration als größtes Problem von allen in diesem Land?

Nein, aber ein wichtiges. Was ich beschreibe, gilt auch für ungelöste Sozialprobleme. Für eine Infrastruktur, die an vielen Stellen nicht mehr funktioniert. Es gibt kein Land, wo zusammenfallende Brücken populär sind. Aber in Deutschland ist digitale Wüste plus kaputte Infrastruktur fast schon normal geworden. Dann hält man Politik für unfähig und votiert für Parteien, die versprechen, das mal alles zu durchbrechen. So entsteht Radikalisierung. Und neben diesen Problemen kommen auch noch große Einschätzungsunterschiede zwischen Ost und West dazu, zum Beispiel für wie groß man die Bedrohung durch den russischen Diktator Putin hält und wie man sich dagegen wehren muss.

Und was heißt das für die Parteien der Mitte?

Aus meiner Sicht müssen sie viel stärker Handeln und Haltung erklären. Es gibt Dinge, bei denen Parteien nach meiner Vorstellung nicht wackeln dürfen. Zum Beispiel in der Frage der Verteidigung der Freiheit mit militärischen Mitteln und im Ernstnehmen der aggressiven Bedrohung durch Russland. Zugleich gibt es Dinge, bei denen Parteien liefern müssen. Dass wir heute in einer Situation stecken, in der überbordende Bürokratie immer weniger Innovation zulässt, gefährdet die Überlebensfähigkeit der deutschen und europäischen Wirtschaft. Das darf Politik nicht länger zulassen.

Es fällt auf, dass die Spitzenkandidaten der vier Mitte-Parteien sehr unterschiedlich miteinander umgehen. Manche desavouieren die anderen bewusst als unfähig und gefährlich. Scholz macht es mit Merz, Söder macht es mit Habeck. Merz und Habeck dagegen machen es bewusst weniger. Ist die persönliche Desavouierung Teil eines normalen Wahlkampf? Oder zerstört sich da was aus der Mitte heraus selbst?

Kann sein, dass das altersbedingt ist, aber ich habe ganz andere Auseinandersetzungen in Wahlkämpfen erlebt. Zum Beispiel im Umgang mit Franz Josef Strauß oder Willy Brandt. Auffallend ist nur, dass Olaf Scholz gegen seine persönliche Struktur offenbar glaubt, dass er Führungsschwäche durch Intensität der Schrillheit kompensieren könne. Das kann man vielleicht, wenn man noch nie in der Politik war. Das kann man nicht, wenn man mit seiner Politik gerade an der Führungsfrage krachend gescheitert ist. Ich habe in meiner politischen Arbeit Polarisierung durchaus gesucht und bleibe davon überzeugt, dass dies notwendiger Teil der Führung ist. Am Ende muss der Wähler schließlich mit einem einzigen Kreuz die Richtung bestimmen. Vielleicht ist das in den letzten Jahren unterschätzt worden.

Worauf wird es am Ende ankommen?

Auf die Frage, ob die Menschen eine starke oder eine schwache Regierung unter Führung von Friedrich Merz wollen. Wenn nicht noch ein demoskopisches Wunder passiert, wird er vorne stehen. Aber die spannende Frage bleibt, ob er eine starke Regierung bilden kann, ob er sie mit einem kleineren Partner bilden kann. Die Menschen werden eine Richtungsentscheidung treffen müssen. Man fühlt in diesen Tagen, dass Koalitionsgespräche nicht einfach werden. Da ist es wichtig, dass ein Partner ganz unzweifelhaft die Nummer eins ist.

Obwohl die Ampel in schon historischer Form gescheitert ist, kommt die Union nicht über die 30-Prozent-Marke. Warum? Weil auch die beiden Schwesterparteien nicht komplett harmonisch agieren?

Die beiden Schwesterparteien haben historisch immer in einem gewissen Spannungsverhältnis gelebt, egal, ob sie zusammen bei 49 Prozent oder bei 24 Prozent lagen. Und die CSU muss Wert darauf legen, zu zeigen, dass CDU und CSU nicht eine Partei sind. Also streitet man sich halt über Koalitionsfragen. Früher waren es inhaltliche Fragen. Ob das besser oder schlechter ist, sei dahingestellt. Aber es erklärt nicht alleine, warum die Union nicht weiter oben steht.

Sondern?

Ich denke, dass in Demokratien Machtwechsel Reinigungseffekte haben sollen. Wenn nach 16 Jahren Unionsführung Menschen sagen, die sollen es nicht mehr machen, dann muss eine abgewählte Partei sich erneuern. Im Normalfall dauert so etwas länger als nur eine Legislaturperiode. So gesehen ist es extrem ungewöhnlich, dass diese Regierung so schnell zerbrochen ist und nicht mal das Ende der Wahlperiode erreicht hat. Für deutsche Verhältnisse ist das absolut neu. Und für die meisten Menschen auch durchaus unerwartet. Vor diesem Hintergrund ist es eine unglaubliche Leistung, die Friedrich Merz vollbracht hat. Vielleicht hat es geholfen, dass er ein Stück weit von außen kam und so die Partei leichter zusammenführen konnte, sie zum Teil neu positionieren, ihren Kurs teilweise korrigiert konnte. Vor allem hat er sie geeint. Das hätten vor drei Jahren nicht viele für möglich gehalten.

Trotzdem bleiben viele skeptisch.

Und das ist ganz natürlich. Logischerweise bleiben viele bislang vorsichtig; ich hätte mich gewundert, wenn jetzt gleich und quasi zum Beginn des Wahlkampfs eine Mehrheit glauben würde, dass man unbedingt die wählen sollte, die man doch gerade erst vor drei Jahren abgewählt hatte. So ist die Welt in der Demokratie nicht. Vertrauen muss man zurückgewinnen, und das dauert.

Sie gelten als konservativ, aber Sie lehnen es nach wie vor ab, Schwarz-Grün auszuschließen. Ganz anders als Markus Söder. Warum?

Wenn man für eine Sekunde davon ausgeht, dass eine Regierungsbildung für eine sehr dominante CDU ohne SPD oder Grüne nicht möglich ist ,weil ein schwarz-gelbes Bündnis sehr sehr unwahrscheinlich bleibt, dann kann ich intellektuell schlichtweg nicht verstehen, warum meine Partei den beiden potenziellen Kandidaten für eine Koalition im Vorhinein mitteilen soll, dass der eine mögliche Partner gar nicht mehr gefragt wird und der andere Bedingungen quasi diktieren könnte. Das empfinde ich, vorsichtig formuliert, nicht als logisch. Hinter dieser Frage darf man natürlich offen darüber reden, wo die Grenzen für eine Kooperation liegen. Denn wirklich gut kann es nur werden, wenn SPD oder Grüne auch bei sehr relevanten Fragen über ihren Schatten springen. Die Union wird nicht alles bekommen, selbstverständlich. Aber die anderen werden der stärkeren Partei zugestehen müssen, dass relevante Dinge, die den Wählern versprochen werden, auch gemacht werden.

An welche Grenzen denken Sie?

Die Sozialdemokraten werden sich fragen müssen, wie weit sie zum Beispiel in der Frage Friedenssicherung auch mit militärischen Mitteln zu gehen bereit sind. Die Grünen müssen sich die Frage stellen lassen, wie weit sie einen anderen Wirtschaftskurs mittragen können. Und wahrscheinlich dürfte die kritischste Frage für beide das Thema Asyl werden. Sind nötige Änderungen mit den Grünen überhaupt denkbar? Darf man von den Sozialdemokraten verlangen, dass sie das Parteiprogramm der Sozialdemokraten Dänemarks übernehmen? Anders ausgedrückt: Einfach wird das ganz und gar nicht. Aber zwei Optionen sind dann besser als eine.

Friedrich Merz verspricht, dass er sehr schnell eine sehr viel verlässlichere Koalition bauen werde. Ist das nach dem aktuellen Asylstreit überhaupt noch möglich? Und: Muss er dafür die Art, wie in den letzten Jahrzehnten Koalitionsverhandlungen geführt haben, verändern?

Die Länge von Koalitionsverträgen hat viel mit dem Ausmaß an Misstrauen oder Vertrauen zu tun. Deshalb ist das eine sehr wichtige Frage. Entscheidend wird sein, klar zu entscheiden, wo die großen Linien sind und wo das Detail. Man muss über einige prinzipielle Fragen schon eine Einigung haben. Wie stehen wir zur Technologieoffenheit? Also zur Rollenverteilung zwischen einer Politik, die Ziele vorgibt, und einer Wirtschaft mit ihren Ingenieuren, die den Weg dorthin entwickeln sollen? Wie stehen wir zum Haushalt und er Finanzierung zentraler Aufgaben? Wie stehen wir zu Fragen von Krieg und Frieden? Wie zu Europa? Das sind Dinge, die geklärt werden müssen. Aber wenn man solche Richtungsentscheidungen getroffen hat, die von der Bevölkerung zu Recht auch erwartet werden, dann muss der Rest nicht präjudiziert werden. 130 Seiten Koalitionsvertrag bringen nichts, wenn die Welt anders ist als der Vertrag.

Und dann ist alles gut? Wird also besser als bei der Ampel?

Nein. Es kommt was Zweites dazu. Koalitionen müssen anders funktionieren. Sie sind keine technischen Abhandlungen von Abgesandten, quasi das Werk von Staatssekretären oder Staatsministern, die glauben, Regierungskunst bestehe vor allem in ihrer klugen Verhandlungstaktik. Ich habe als Ministerpräsident eingeführt, dass wir uns jeden Montagabend trafen und dass es nichts von Relevanz gab, das nicht vorher montags in dieser Koalitionsrunde besprochen wurde, natürlich unter Beteiligung der jeweiligen Fachminister. Ein Minister wäre nie damit durchgekommen, ein Problem öffentlich zu diskutieren, wenn er die Frage nicht zuvor mit uns besprochen hat. Ja, das ist ein extrem arbeitsintensiver Stil. Aber daraus wird eine Gemeinschaft, die weiß, dass sie voneinander abhängig ist. Kein Minister hätte einen anderen Minister öffentlich beleidigt, dem er jeden Montag wieder in die Augen schauen muss. In Berlin war das ja über Jahre fast der Normalzustand.

Raus in die Welt: Was bedeutet Donald Trump 2.0 für Deutschland?

Die einfachste Antwort wäre: Er wird über längere Zeit eine große Herausforderung. Aber das macht die Dimension nicht deutlich.

Die wäre?

Wir sind endgültig gezwungen, darüber nachzudenken, was die neue Weltordnung uns abverlangen wird. Das relativ kleine Europa ist immer davon ausgegangen, dass Allianzen, insbesondere die Nato, seine Sicherheit garantieren werden. Donald Trump aber wird immer fragen, ob sich solche Allianzen aus seiner Sicht noch lohnen. Das wird also mit Risiken für Europa verbunden sein. Und darauf müssen wir Antworten finden.

Wie müssen die aussehen?

Nehmen Sie Europas Schwäche in der Verteidigung. Um sie zu beheben, müssen wir nicht automatisch "nur” über mehr Geld nachdenken. Wenn man alle Staaten Europas zusammen nimmt, liegen unsere Ausgaben für das Militär ähnlich hoch wie in den USA. Aber weil wir viel zu wenig kooperieren, liegt die Kampffähigkeit bei grade mal 20 Prozent, verglichen mit der US-Armee. Das bedeutet: Es geht nicht in erster Linie ums Geld. Es geht um mehr Zusammenarbeit und gemeinsames Denken in Europa.

Was tun?

Wir müssen dieses Verständnis neu schaffen. Wie bringe ich Länder zusammen? Wie standardisiere ich Waffensysteme? Wie organisiere ich eine Verteidigungsgemeinschaft? Das muss jetzt beantwortet werden, und zwar möglichst schnell.

Klingt einfacher als es ist.

Richtig. Aber das ändert nichts an Diagnose und Rezept. Auch für die Wirtschaft. Wir sind sehr stark davon ausgegangen, dass europäische Standards sehr attraktiv sind und wir sie deshalb zum eigenen Nutzen für die ganze Welt prägen können. Das ist vorbei. Trumps Austritt aus dem Pariser Klimaabkommen und sein Umgang mit Social Media-Plattformen zeigt, dass all diese Regeln unter Trump nichts mehr gelten. Umso mehr müssen wir uns fragen, welche Regularien, Beschränkungen, Fesseln wir noch verkraften können, ohne unsere Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren. Diese Frage ist neu. Sie muss beantwortet werden. Sie muss aus meiner Sicht zu einer neuen Selbstvergewisserung und Veränderung des Verhaltens der europäischen Gesellschaften führen. Es wäre grob fahrlässig zu glauben, dass diese neue Lage bald wieder vorbeigeht. Nichts spricht dafür. Übrigens auch unabhängig davon, wie der US-Präsident in vier Jahren heißt. Der Geist ist aus der Flasche.

Trumps Botschaft seit Amtsantritt: Ich breche mit allen Regeln, wie es mir gefällt. Ich setze auf Disruption. Wie groß wird die Disruption für uns sein?

S ie wird erheblich sein. Aber man muss die Kirche im Dorf lassen. Wir sind nach wie vor eine der leistungsfähigsten Wirtschaftszonen der Welt. Wir haben allen Gefährdungen zum Trotz eine extrem stabile, rechtsstaatliche und soziale Ordnung. Jede Disruption, die in den USA ausgelöst wird, muss nicht sofort Druck und Durcheinander bei uns auslösen. Wir haben in einem vernünftigen Umfang Zeit zu reagieren und Dinge zu ändern. Selbst die Disruption in Amerika wird schnell die Mühen der Ebene erreichen.

Klingt nach: Können wir aussitzen.

Oh nein. Genau das geht nicht mehr. Ich glaube nicht, dass morgen früh die Welt zusammenbricht. Die Gefahr ist eher, dass wir glauben, morgen früh ist die Welt wieder wie heute. Das ist vorbei.

Muss sich die EU neu erfinden? Sich eine völlig neue Grundlage geben?

Eine europäische politische Gemeinschaft ist nicht einfach eine Addition von Verfassungs- und Abstimmungsgrundsätzen. Sie braucht dringend politische Ideen und Impulse. Wir müssen unserem Europa neue Ziele geben. Das Fehlen solcher Impulse war der Grund für die mangelnde Wertschätzung der Amerikaner. Und es kann es nicht dabei bleiben, dass sich 27 Staaten permanent gegenseitig mit Vetos belasten können. Da ist nichts schnell und nichts agil.

Sie sind für die United States of Europe?

Nicht so schnell schießen. Wir sind eine Gesellschaft mit Nationalstaaten, die ihre Rechte nicht aufgeben werden. Das Problem ist, dass wir seit vielen Jahren einen Totalausfall an politischer Führung in Europa erleben. Das überhöht auch die Rolle der EU-Kommissionspräsidentin, die eigentlich vor allem die Hüterin der Grundsätze ist und nicht die Chefin einer Regierung. Aber wenn alle anderen ausfallen, können wir froh sein, dass wir sie haben.

Wie lässt sich das ändern?

Ich bin überzeugt, dass wir Führung zurückgewinnen können. Ein Kanzler der Bundesrepublik Deutschland hat immer die Chance dazu. Siehe Helmut Kohl, siehe teilweise Angela Merkel. Man muss bereit sein, sich in einem Team von Staatslenkern zu engagieren, das stark von den Deutschen als größter Nation mitgeprägt wird. Ich finde es schade, dass Angela Merkel entsprechende Bitten und Angebote von Emmanuel Macron immer zurückgewiesen hat. Olaf Scholz hat das vervollständigt, indem er nicht nur Macron, sondern auch Tusk zurückgewiesen hat und Frau Meloni sowieso nicht als satisfaktionsfähig empfindet. Tja, dann ist die Sache zu Ende und die Veranstaltung Europa gelaufen.

Lässt sich das überhaupt noch reparieren?

Unter dem Eindruck von Trump? Natürlich! Meine Erwartung an einen neuen Kanzler ist, dass er Tusk, Macron und Meloni schnell zusammenbringt und zu einer gemeinsamen Position zusammenführt. Dann wird die ganz überwiegende Zahl der europäischen Länder dankbar und bereitwillig dabei sein. Das heißt, Europa ist nicht paralysiert per Definition. Aber im Augenblick haben die europäischen Führer sich darauf eingerichtet, ein paralysiertes Europa gar nicht so schlimm zu finden. Und das ist mit dem Druck von Putin und dem Druck von Trump rational nicht mehr denkbar und kann ohne Deutschland nicht aufgelöst werden. Die Welt da draußen muss wieder spüren, dass wir Europäer einen Plan haben und dass wir Willens und in der Lage sind, den auch umzusetzen.

Wie könnte der aussehen?

Wir müssen schneller werden, enger kooperieren und klären, was uns zusammenhält. Das darf keine Angst machen, das muss Lust machen auf Politik. Und dazu gehört unbedingt auch das Ziel, größer zu werden. Im wirtschaftlichen Wettbewerb der Blöcke, die gerade entstehen, ist die Milliardengrenze eigentlich die untere kritische Grenze für Marktteilnehmer, für Relevanz, für wirtschaftliche Entwicklung, für politische Kraft. Am Ende der Vision der nächsten 15 Jahre muss stehen, dass nicht nur Norwegen, sondern natürlich auch wieder Großbritannien, auch die Ukraine, auch die Türkei, auch Israel und seine Umgebung und ja, in 30, 40 Jahren auch die Staaten Nordafrikas zu unserer wirtschaftlichen Hemisphäre gehören. Das bedeutet nicht die Erweiterung der politischen Union, denn das wird schwer. Aber es bedeutet die Konzentration auf einen gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraum, mit offenen Grenzen, ohne Zölle und einer gemeinsamen Außenwirtschaftspolitik. Wir brauchen eine große Perspektive, wir brauchen auch einen großen Anspruch an uns selbst. Es wird nicht reichen, mit den noch dazu schrumpfenden 450 Millionen durch die Welt zu laufen. Nur wenn wir von diesem Gedanken wegkommen, sind wir auch groß genug, um uns zu behaupten. Politische Führung und große Perspektiven – diese beiden Ideen muss man zusammenbringen. Und die erste ist die Voraussetzung für die zweite.

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Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025

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