Analyse
Erscheinungsdatum: 17. April 2024

Polizeiforscher widerspricht Statistik: „Deutschland wird immer sicherer“

In diesem Jahr ist eine besonders kontroverse Diskussion über die Kriminalitätsstatistik ausgebrochen. Der Polizeiforscher Hermann Groß kritisiert, dass sie politisch ausgenutzt und unterkomplex gedeutet werde, besonders in puncto „Ausländerkriminalität“, Aufklärungsquote, Hell- und Dunkelfeld.

Was halten Sie von der Diskussion, die seit Veröffentlichung der Kriminalitätsstatistik entbrannt ist?

Wenn man die politische Ebene anschaut, scheint mir die Diskussion dieses Jahr besonders hochgekocht zu sein. Die Leute greifen Ausländer- und Migrationskriminalität heraus und ziehen daraus mitunter wenig seriöse Schlüsse.

Sie kritisieren die Debatte also?

Es ist unheimlich kompliziert, seriös mit der PKS zu argumentieren, weil so viele Faktoren darin stecken, die man mitbedenken muss und die nicht von vornherein erkennbar sind. Jeder kann sich einen einzelnen Punkt rausziehen und damit einseitig bis falsch oder zumindest missverständlich argumentieren.

Das geschieht gerade mit der Diskussion über „Ausländerkriminalität“?

Das beobachte ich zur Kriminalität von Nichtdeutschen. Da werden Äpfel mit Birnen verglichen. Kriminalität ist ein Phänomen, von dem Männer besonders betroffen sind, insbesondere junge Männer. Das ist ein ehernes Gesetz. Junge Männer werden im Übrigen nicht nur besonders oft Täter, sondern auch Opfer.

Und in Deutschland repräsentieren einzelne Migrantengruppen nicht unbedingt einen Querschnitt ihrer Landsleute.

Genau. Sie haben verschiedene Migrantengruppen. Aus der Ukraine haben wir zum größten Teil Ukrainerinnen mit Kindern. Da ist die Kriminalitätsbelastung niedriger als bei anderen Gruppen. Aus Afrika und dem arabischen Raum – Afghanistan, Irak – haben wir vor allem junge Männer. Wenn wir die mit der deutschen Gesamtbevölkerung vergleichen, ist klar, dass eine wesentlich höhere Belastungsziffer entsteht.

Welche Faktoren fehlen noch in der Diskussion?

Wichtige Faktoren sind auch die Verhältnisse, in denen Menschen leben. Wenn ich junge asylsuchende Männer in Gemeinschaftsunterkünften zusammenstecke, ist klar, dass es zu Straftaten kommt. Die Straftaten richten sich nicht, wie manche Politikerin suggeriert, gegen die deutsche Wohnbevölkerung. Die Straftaten richten sich gegen andere Asylbewerber, die meistens in derselben Einrichtung leben. Stellen Sie sich doch mal vor, unter solch beengten Verhältnissen, ökonomischem Druck, mit Unsicherheit über die Zukunft zu leben. Da kommt es zu Auseinandersetzungen. Das muss nicht verwundern.

Nancy Faeser wirbt eher mit harter Hand als mit verbesserten Verhältnissen, um die Kriminalität Nicht-Deutscher einzudämmen.

Das hat natürlich auch mit politischer Konkurrenz zu tun, damit nicht noch mehr Leute zur AfD gehen. Der ganze konservative Bereich verwendet immer wieder die Narrative von Einwanderern, die Kriminalität nach Deutschland bringen. Dagegen will Faeser sich natürlich profilieren als harte, starke Innenministerin, die dagegen vorgeht. Das ist relativ einfach und durchschaubar.

Manche werfen Faeser für das Fokussieren auf „Ausländerkriminalität“ Aufhetzung vor. Sie auch?

Aufhetzung würde ich nicht sagen. Es ist nicht Aufhetzung, sondern die etwas missbräuchliche oder sehr vereinfachte Benutzung von schwierig zu interpretierenden Zahlen: „Ausländer sind krimineller“ – ja, auf den ersten Blick. Auf den zweiten sehen Sie beispielsweise, dass Menschen mit Migrationshintergrund der ersten und zweiten Generation eine viel geringere Kriminalitätsbelastung haben als Deutsche. Noch dazu ist nun immer die Rede von gestiegenen Zahlen.

Die Zahlen sind auch gestiegen.

Das ist schon richtig. Aber das sind alles absolute Zahlen, die Tatverdächtige oder das jeweilige Delikt betreffen. Auf die relativen Zahlen in der PKS wird wenig eingegangen, dabei wird es erst dann interessant, wenn Sie etwas in Bezug setzen. Dann stellen Sie zum Beispiel fest, dass es einen klaren Zusammenhang zwischen Geschlecht oder Alter zur Kriminalitätsbelastung gibt. Die 18-bis-21-Jährigen haben eine achtmal höhere Belastung als die Über-60-Jährigen. Auch das ist ein ehernes Gesetz der Kriminologie.

Eine Altersgruppe wird gerade besonders diskutiert: Die Kinder und Jugendlichen, deren Straftaten-Werte um 17 und 14,4 Prozent gestiegen sind. Zurecht?

Da fallen zumindest einigermaßen nachvollziehbare Argumente, nämlich die Auswirkungen der Pandemie. Durch Isolationsmaßnahmen haben Kinder und Jugendliche bestimmte Umgangsformen nicht gelernt, sind psychisch belastet. Das sind alles Faktoren, die Kriminalität wahrscheinlicher machen. Da scheint mir jetzt Reue aufzukommen.

Wenn die Kriminalität sich selbst auf dem Altersspektrum weiter nach unten ausbreitet – wird Deutschland insgesamt dann nicht einfach doch krimineller?

Der generelle Trend des letzten Jahrzehnts ist ein Rückgang. Deutschland wird immer sicherer, auch wenn das subjektive Sicherheitsgefühl das nicht widerspiegelt. Auch die Dimension wird völlig ausgeblendet: Subjektives versus objektives Sicherheitsgefühl. Am unsichersten fühlen sich ältere Frauen, obwohl sie das geringste Risiko haben, Opfer zu werden. Sie meinen, sie müssten nur einmal aus dem Haus gehen, und schon würden sie auf dem Friedhof überfallen werden. Wer fühlt sich am sichersten? Junge Männer. Die denken: „Ich bin the Master of the Universe, die Kugel prallt an mir ab“. Sie haben aber das höchste Risiko, Opfer zu werden.

Könnte die PKS bei besserer Auswertung helfen, das kriminelle Geschehen realistisch abzubilden?

Was ist die PKS? Sie ist ein Tätigkeitsnachweis der Polizei – das, was bei der Polizei aufschlägt als Anzeige, als Tatverdacht. Über 80 Prozent kommen nicht von der Polizei selber, sondern aus der Bevölkerung. Vielleicht hat sich also auch nur die Anzeigenbereitschaft erhöht. Dann haben Sie auch mehr Kriminalität im Hellfeld – vielleicht hat der Anstieg damit zu tun. Alle zwei Jahre erforscht die Studie SKiD (Sicherheit und Kriminalität in Deutschland) mit 80.000 Befragten deren Kriminalitätserfahrungen. Die führt näher an die reale Kriminalität heran. Die PKS zeigt nur das Hellfeld und innerhalb dessen nur die Verdachtsfälle. Das, was die Polizei so weit bearbeitet, dass sie es an die Staatsanwaltschaft übergibt. Ein Gutteil dessen, was in der PKS auftaucht, wird nie und nimmer zu einer Verurteilung führen, weil die Staatsanwaltschaft gar kein Verfahren eröffnet oder weil ein Richter einen Freispruch verhängt. 20 bis 30 Prozent der aufgeführten Delikte in der PKS sind im juristischen Sinne also nicht mal Straftaten.

Was vermag die PKS dann überhaupt zu repräsentieren?

Sie ist repräsentativ für das, was die Polizei aufnimmt. Ein weiteres kritisch zu betrachtendes Phänomen ist die Argumentation mit der Aufklärungsquote, die zuletzt 58 Prozent betragen hat. Die Aufklärungsquote ist eine politische Zahl. Für die PKS geben 16 Innenministerien ihre Zahlen weiter. Es besteht natürlich eine Konkurrenz zwischen den Ländern: Wer hat die höchste Aufklärungsquote? Das motiviert, die Quote künstlich zu steigern, auch wenn das niemand zugeben wird.

Wie lassen sich Quoten künstlich steigern?

Implizit gibt es in Polizeien immer wieder Aufrufe zum Erfassen von Kontrolldelikten. Wenn ich kontrolliere und etwas wie Drogen finde, habe ich augenblicklich Delikt und Täter in einem – und damit 100 Prozent Aufklärungsquote. Wenn ich davon genug Kampagnen fahre, wird diese Quote meines Landes insgesamt steigen, obwohl sich in anderen Bereichen gar nichts tut. Von mehr Drogenkontrollen wird kein Fahrraddiebstahl mehr aufgeklärt, sofern der Dealer nicht gerade mit gestohlenem Fahrrad unterwegs ist. Wenn Sie als Innenminister gut dastehen wollen, können Sie mit der Aufklärungsquote operieren.

Welche Faktoren zählen bei der Konkurrenz noch?

Auch die Frage: Welches ist das sicherste Land oder wer ist die sicherste Stadt? Frankfurt zum Beispiel ist statistisch die unsicherste Stadt, der Kriminalitätsschwerpunkt Deutschlands. Das liegt an zwei Faktoren: Alles, was an diesem großen Flughafen passiert, zählt in die Statistik; außerdem haben mehrere Kreditkartenfirmen dort ihren Hauptsitz. Wenn eine Karte geklaut wird, zählt es in Frankfurts Statistik.

Was bleibt denn in der Statistik alles unerforscht?

Es gibt Deliktgruppen mit sehr hohem Dunkelfeld trotz Entwicklungen der letzten Jahre: Sexualdelikte wegen Scham und Angst von Betroffenen etwa oder auch Bagatelldelikte – wie viele Leute zeigen nicht an, dass ihr altes Fahrrad geklaut wurde, weil es ihnen der Aufwand nicht wert ist? Bei anderen Delikten wie Autodiebstählen gibt es quasi kein Dunkelfeld, weil es so gut wie alle zur Anzeige bringen. Das alles macht es schwierig, mit der PKS zu operieren.

Auswertungen des kriminellen Geschehens in Deutschland bleiben zu lassen, kann keine Alternative sein. Was wäre für Sie ein Ausweg?

Besser wären die bereits geforderten periodische Sicherheitsberichte, wie es sie schon gab. Sie enthalten zusätzliche Informationen und bessere Interpretationsmöglichkeiten, außerdem Lagebilder zu politisch motivierter Kriminalität, Terrorismus und Extremismus, was derzeit nicht in der PKS, sondern einer gesonderten Statistik erfasst ist.

Briefings wie Berlin.Table per E-Mail erhalten

Keine Bankdaten. Keine automatische Verlängerung.

Sie haben bereits das Table.Briefing Abonnement?

Anmelden

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025

Teilen
Kopiert!