Kampagnen haben im politischen Diskurs zuletzt eine herausragende Rolle gespielt. Wer greift üblicherweise dazu – und wer kommt ohne sie aus?
Ich brauche eine Kampagne, um meine Interessen und Bedürfnisse bekanntzumachen und durchzusetzen. Die Kampagne dient der Beeinflussung relevanter Entscheidungsträger. Es ist eine andere Strategie als Lobbyismus. Pharmakonzerne, Rüstungskonzerne, teilweise die Wissenschaft brauchen nicht unbedingt eine Kampagne, für sie ist oft der Lobbyismus dienlicher, um Einfluss auszuüben.
Nachdem die Bildzeitung eine intensive Kampagne gegen Habecks Heizungsgesetz geführt, es als „Heizhammer“ herabgewürdigt hat, ließ sie ihn danach als kleinen Jungen dastehen. Was halten Sie davon?
Das ist die Fortsetzung einer persönlichen Kampagne von Bild gegen den Wirtschaftsminister, die gegen alle Sachpolitik und vernünftigen Argumente polemisiert und affektive Hetze in der Bevölkerung und vor allem in den sozialen Netzwerken schürt. Wie entlastend muss es für alle Leser sein, wenn ein Bundesminister ein „kleiner Junge“ ist. Demgegenüber kann sich jeder groß und klug fühlen – hat aber auch weniger Verantwortung.
Habeck hat die Causa Graichen und die Kampagne über seine Heizungspläne ohne den geforderten Rücktritt überlebt, aber stand denkbar heftig im Sturm. War das Campaigning gegen ihn noch legitim?
Was Habeck erlebt hat, war natürlich eine Negativkampagne gegen seine Person, nicht mehr gegen die politische Sache. Sie wurde mit teils unlauteren Mitteln unterfüttert, gestützt durch die Behauptung, die Hälfte der Deutschen wolle Habecks Rücktritt – erhoben von einem eher dubiosen Meinungsforschungsinstitut, dessen Umfrageergebnis faktisch nicht mit den Ergebnissen anderer Institute korreliert hat. Aber es ist nirgendwo vorgeschrieben, dass eine Kampagne sich ausschließlich legitimer Mittel bedienen muss. Urheber der Kampagne sind nicht selten Akteure, deren Idee es ist, den Feind auszulöschen. Hetz- oder Schmutzkampagnen entziehen sich einer moralischen Kontrollinstanz. Außer es handelt sich um justiziable Straftatbestände.
Was bewirkt eine Kampagne, wenn sie gelungen ist?
Eine erfolgreiche Kampagne stellt Identität und Stabilität in der anderen sozialen Gruppe her, die das betreibt. Es gibt nichts Besseres dafür als einen gemeinsamen Feind mit einer zu diskreditierenden Ideologie. Negative Kampagnen sollen fast immer einen Feind schädigen, positive Kampagnen sollen eher Positionen transportieren. Negativ-Kampagnen wollen oft gezielt spalten; Koalitionspartner daran hindern, sich zu verbünden, zum Beispiel – wie Grüne und FDP.
Wie gefährlich war sie für Habeck?
Die Kampagne hat immer einen politischen Effekt. Man wollte Habeck aus dem Amt drängen, geradezu stürzen. Wenn behauptet wird, dass angeblich mehr als 50 Prozent der Bevölkerung Habecks Rücktritt wollen, dann ist da eine gewisse Gefahr. Solange Kanzler und Parteivorstand ihn aber ausdrücklich stützen, lässt sich das noch aushalten, und man kann wieder auf Sachpolitik umschwenken.
Welche Rolle haben Medien dabei gespielt?
An der Bild-Zeitung, die neben Union und AfD maßgeblich die Kampagne gefahren hat, fand ich interessant, zu beobachten, dass sie den Hashtag #Habeckrücktritt mit forciert hat – und zwar im Verbund mit diesem, mit Verlaub, ekelhaften rechten Compact-Magazin. Die Süddeutsche hat demgegenüber sehr seriös die unterschiedlichen Hintergründe aller drei Regierungsparteien vermittelt und deren Einigungsversuche, hat aber gleichermaßen unter anderem die Semantik der Kampagne aufgegriffen.
Beobachten Sie auch bei Kampagnen einen Wandel hin zu mehr Zuspitzung und Personalisierung?
Ich beobachte, dass die Struktur des politischen Betriebs immer häufiger mit Kampagnen operiert. Das ist unüblich. Früher kam das nur in Wahlkampfzeiten vor: „Make America Great Again“ von Donald Trump, die „Rote Socken Kampagne“ der CDU oder noch früher: „Freiheit statt Sozialismus“. Jetzt erlebt Joe Biden auch über den Wahlkampf hinaus, dass man ihn als alten, unzuverlässigen Mann diskreditieren will.
Können Kampagnen auch schiefgehen?
Natürlich. Es kann etwa passieren, dass ich mit meiner Kampagne so übers Ziel hinausschieße, dass sich Solidarität für den Angegriffenen regt oder sich Akteure, die ich entzweien wollte, verbünden, sogar näher zusammenrücken.
Was folgt daraus?
Derjenige, der die Kampagne gestartet hat, dürfte mindestens moralisch diskreditiert werden. Eventuell aber in dem Sinne auch politisch, indem er gar nicht erst an die Macht kommt.
Und wie verstummen Kampagnen?
Kampagnen sind notwendigerweise zeitlich befristet. Es muss irgendwann immer die nächste Kampagne geben oder immer wieder neue öffentlichkeitswirksame Aspekte. Wenn Medien nicht mehr darauf anspringen, hat eine Kampagne immer ein Problem. Wenn das Interesse abnimmt, keiner mehr Kommentare oder Beiträge dazu verfasst und sich öffentlichkeitswirksam engagiert, ist die Kampagne an ihr Lebensende gekommen. Jede Kampagne hat ihr natürliches Ende. Ähnlich verhält es sich mit Protestbewegungen, oft hängen die zusammen. Die letzte Generation hält sich schon ganz schön lange. Das ist untypisch. Es gibt also schon eine Gewichtung von gesellschaftsrelevanten Themen, die so stark sind, dass die Interessenlage es immer wieder revitalisiert – anders als Themen, die schnell wieder verschwinden. Die Kampagnen gegen Habeck, Graichen, das Heizgesetz sind schon stummer geworden. Ich bin mir sicher, dass jetzt gerade die Gespräche dazu laufen, mit welcher Kampagne man nach der Sommerpause weitermacht.
Wie sollten sich Medien idealerweise verhalten, wenn in der Politik Konflikte ausarten?
Es gab zwar immer noch die Idee, Massenmedien, vor allem überregionale Tageszeitungen, mögen eine Scharnierfunktion einnehmen und selbst einigermaßen neutral agieren. Das ist natürlich rein idealistisch. Natürlich vertritt jede überregionale Tageszeitung wirtschaftliche Interessen und erst recht eine eigenständige Redaktionspolitik. Die 1980er und 90er Jahre der Bundesrepublik haben genügend Ideologie und heiße Debatten innerhalb der Parteien ermöglicht, sodass im Publikum und bei den Lesern die Einstellung bestand, Tageszeitungen müssten sich nicht noch zusätzlich einmischen.
Das nehmen Sie jetzt anders wahr?
Ich beobachte eine Tendenz: Es wird immer stärker zu einer Eigenlogik und Eigensinnigkeit, dass überregionale Tageszeitungen oder auch andere Medienformate selbst Politik betreiben. Massenmedien beziehen eigenständig radikal Position. Bei der BILD-Zeitung war schon im letzten Bundestagswahlkampf offensichtlich, dass sie sich über jeden Fehltritt von Habeck oder Baerbock freuen. Nachhaltige Affektlagen in der Politik zu schüren, ist ein neues Momentum, das wir in früheren Jahrzehnten nicht hatten. Und die sozialen Netzwerke und Filterblasen verstärken das noch enorm.
Warum ist das so problematisch?
Die Trennung zwischen Bereichen wie Politik, Wissenschaft, Medien ist altehrwürdig und etabliert. Ich würde auch sagen: weiterhin funktional. Inzwischen beobachte ich eine zunehmende Entdifferenzierung. Massenmedien machen jetzt plötzlich auch Politik oder Politiker haben keine Scheu, sich mit einem Medienteam auf Youtube oder Instagram zu inszenieren. Die Wissenschaft merkt es auch: Plötzlich ist überall das Politische, und das ist soziologisch durchaus problematisch. In scheinbar jedem Seminar-Kontext wird jetzt Geschlechtlichkeit oder kulturelle Heteronormativität angespielt und zum Problem erhoben.
Was folgt daraus?
Bestimmte Aspekte einer Identitätspolitik oder einer Genderpolitik machen in einem Seminar Sinn, wenn wir das Politische großschreiben. Aber manchmal muss ich meinen Studierenden sagen: Nein, das passt jetzt hier nicht. Die Fokussierung auf autonome und spezialisierte Gesellschaftsbereiche hat etwas Entlastendes. Gerade beobachte ich eine Tendenz dazu, jedem Thema ein politisches, moralisches Framing zu geben, was sachliche, fachliche Diskussionen massiv belastet.
Kann es die Gesellschaft aber nicht auch voranbringen, wenn soziale Felder der Politik, Medien und Wissenschaft nicht nur in den eigenen Welten leben und agieren, sondern näher aneinander rücken, bestenfalls mehr Verständnis füreinander entwickeln?
Auf Twitter gab es mal die demokratische Idee: Jeder könnte mit jedem auf Augenhöhe im Interesse des Sacharguments Netzwerke erstellen oder Knoten aufnehmen zum jeweils anderen. Ein wechselseitiges Kennenlernen. Längst siehst du, dass das Gegenteil der Fall ist; es gibt nur noch selbst verstärkende Effekte. Analysen haben das gezeigt. Twitteraccounts, zum Beispiel von den Linken oder den Grünen haben ein paar Verbindungen zu denen von der SPD, zur FDP relativ wenig. Die Politprominenz bleibt relativ stark unter sich. Bei der AfD ist es noch radikaler. Die sucht überhaupt keinen Kontakt zu anderen politischen Parteien, nur zueinander und zu einigen russischen Accounts. Und die politische Feindschaft, ein rigider Antagonismus fokussiert sich immer mehr auf einzelne Personen, weniger auf die Sache an sich.
Wann lässt sich das konkret feststellen?
Plötzlich geht es in der Debatte darum, wie eine Politikerin Baerbock sich Erziehungsaufgaben mit ihrem Mann aufteilt oder welchen Universitätsabschluss besitzt. Oder auch bei Habeck, da gab es plötzlich ein merkwürdiges Interesse an seiner Frau oder an ihm als Philosoph oder an beiden als kollektiven Kinderbuchautoren – und das vollkommen abgesehen davon, dass er eigentlich erst mal kompetent sachpolitische Einstellungen der Grünen und dann vernunftbasiert auch Einstellungen mit Blick auf potenzielle Koalitionspartner vertreten können muss.
Klingt, als würden Sie Medien empfehlen, Meinungsbeiträge zu streichen.
Ich war überrascht, wie sich die Semantik geändert hat: Die Tagesthemen sprechen nicht mehr vom klassischen Kommentar, sondern von der Meinung. Das finde ich insofern merkwürdig, als es die Verantwortung, die Referenz einer einzelnen Person stärkt. Das ist eine Differenz zum Kommentar, der eher die Position der Medieninstitution an sich zeigen sollte. Meinung wird immer hochgradig personalisiert. Aber trotzdem wird den etablierten Massenmedien, vor allem auch Tageszeitungen oder etablierten Nachrichtensendungen, von ihren Verächtern vorgehalten, dass sie relativ elitär strukturiert sind und meist auch nur ein elitäres, ziemlich akademisch geschultes Publikum adressieren.
Und das restliche Publikum, das sich nicht abgeholt fühlt?
Der Zugang zu Social-Media-Plattformen ist in Differenz dazu viel niedrigschwelliger. Man sieht die eigenen Interessen oder Probleme in den etablierten Tageszeitungen und Nachrichtenformaten wenig bis gar nicht berücksichtigt, schreibt deswegen umso stärker den politischen Betrieb den etablierten Massenmedien zu. Ja, man geht von wechselseitiger Verstärkung und immanenter Selbstlegitimation aus. So lassen sich etablierte Parteien und Medien zur abgehobenen, realitätsfernen Elite deuten, mit der viele sich selbst nicht identifizieren können. Und zack, kommen die Populisten.
Was wäre aus mediensoziologischer Sicht nötig, um politische und mediale Debatten wieder zu versachlichen?
Man müsste in der Politik wieder wegkommen von dem Antagonismus im reinen Freund-Feind-Schema. In der parlamentarischen Gegnerschaft sollte sich das bessere Argument durchsetzen, ohne allerdings das leidenschaftliche Debattieren und Streiten darüber zu vergessen. Kämen die Leidenschaften im politischen Ringen wieder stärker von der Links-Rechts-Ideologie, ließe sich meines Erachtens die Wahlbevölkerung wieder stärker durch Positionen mobilisieren. Das könnte auch die Mitte stärken. Gerade werden eher jene mobilisiert, die enttäuscht sind, weil ihre Interessen nicht berücksichtigt werden. Zu populistischen Parteien laufen ja vor allem Nichtwähler über. Es wäre ratsam, von der parteipolitischen Starre wegzukommen, stattdessen Mehrheiten zu unterschiedlichen Themen zu bilden und entsprechend adäquate Sachlösungen herbeizuführen.