Analyse
Erscheinungsdatum: 12. November 2023

Marco Wanderwitz: „Demokraten hassen einander nicht“

Der sächsische Bundestagsabgeordnete und ehemalige Beauftragte für die neuen Bundesländer Marco Wanderwitz CDU bei einer Gesprächsrunde in Chemnitz am 13.07.2023 Chemnitz Sachsen Deutschland *** The Saxon member of the Bundestag and former commissioner for the new federal states Marco Wanderwitz CDU at a round of talks in Chemnitz on 13 07 2023 Chemnitz Saxony Germany

Bild: Imago / Uwe Meinhold
Der ehemalige Ostbeauftragte Marco Wanderwitz wirbt er für ein Verbot der AfD. Im Interview spricht er über das Fischen in trüben Gewässern, rote Linien und Regierungsperspektiven der AfD.

Seit Monaten führt die CDU mit Abstand die Umfragen an, und doch sprießt keine Erfolgserzählung daraus.Wie sehr bringt die AfD Ihre Partei in die Bredouille?

Unser Problem mit der AfD ist kleiner als das der Ampel, vor allem der FDP, weil wir im Bund ja Opposition sind. In der Bredouille ist die Demokratie.

Dann blicken wir doch auf die Landesebene. In Ihrem Landesverband Sachsen schmelzen sowohl die CDU als auch ihre derzeitigen Koalitionspartner in Umfragen dahin, während die AfD immer weiter zulegt.

Sachsen könnte drohen, was wir in Thüringen sehen: Es wird unheimlich schwer, überhaupt noch demokratische Koalitionen zu finden. Mehr Kompromisse werden nötig, die musst du deinen Leuten erklären, und am Ende zahlt das aufs Konto derer ein, die vermeintlich einfache Wahrheiten versprechen.

Ist das Problem der CDU aber nicht auch ein internes – die Suche nach neuem Sinn?

Wir mussten erst mal wieder ein Stück weit Opposition lernen, das haben wir mittlerweile geschafft. Wir machen mehrheitlich konstruktive Oppositionsarbeit. Ich würde mir wünschen, dass wir nicht nur mit besseren Rezepten als die Ampel werben, sondern auch häufiger darauf verweisen: Wir hatten zuletzt 16 erfolgreiche Jahre Bundesrepublik mit einer ausgezeichneten Kanzlerin. Jetzt ist es schlechter mit der Ampel.

Sie widersprechen der Diagnose, Merkel hätte die CDU durch ihre „Wir schaffen das“-Politik in die Sinnkrise befördert, weil die AfD sich das Asyl-Thema greifen konnte?

In Sachsen hat die AfD schon 2013 bei der Bundestagswahl 7 Prozent geholt. Dazu noch 3 Prozent NPD. Da war de facto kein Flüchtling weit und breit. Euro- und Finanzkrise haben eine gewisse Rolle gespielt seinerzeit. Der AfD hilft die Dauer-Krisen-Situation seit über einem Jahrzehnt. Eine harte Tür 2015/16 hätte uns möglicherweise einiges erspart, aber die die christdemokratische Antwort kann so nicht lauten.

Wie sollte die christdemokratische Asyl-Lösung denn aussehen?

Begrenzen und ordnen heißt nicht: Tür zu, Individualrecht auf Asyl infrage stellen, Augen vor dem Massengrab Mittelmeer verschließen. Nicht vorrangig Pull-Faktoren sind für Flüchtlingsströme verantwortlich, sondern Kriege, Klimawandel und hochdramatische wirtschaftliche Situationen. Schon auf dem Weg durch die Sahara sterben viele Menschen. Das macht keiner mal eben so! Wir müssen Asyl besser steuern, vor allem europäisch, aber ein menschliches Gesicht behalten. Und wir müssen legale Wege öffnen.

Ihr Blick auf Asylsuchende klingt anders als der Ihres Vorsitzenden.

Das ist nicht mein Eindruck. Friedrich Merz hat immer mal wieder einen pointierten Punkt gehabt, der nicht falsch ist. Natürlich haben wir ein Problem in der öffentlichen Daseinsvorsorge, die nicht auf so viele Zuwanderer ausgelegt ist. Medizin, Kitaplätze, Wohnungen. Aber die Sprache ist wichtig. Wir Christdemokratinnen und -demokraten tun gut daran, sorgsam zu formulieren.

Wofür steht die CDU im Jahr 2023 denn?

Wir hatten immer den Anspruch und können ihn mit den Umfragen auch wieder glaubwürdig vertreten, dass wir Volkspartei sind. Konservativ mit starken liberalen und sozialen Wurzeln, kommunal verankert und proeuropäisch. Wir sind eine Partei, die zur Westbindung steht. Jedenfalls weit mehrheitlich.

Jetzt haben Sie aber mehr von der Vergangenheit als von der Gegenwart gesprochen.

Wir sind auf der Zielgeraden zu unserem neuen Grundsatzprogramm, das alte stammt noch aus einer Zeit ohne Smartphones. Wirtschaft stärken, das Aufstiegsversprechen der sozialen Marktwirtschaft erneuern, Familien stärken, die soziale Sicherung hochhalten, die Wertegemeinschaft EU und die regelbasierte Weltordnung hochhalten.

Gleichzeitig haben Sie selbst angesprochen, wie unterschiedlich Landesverbände teilweise ticken – also doch Sinnsuche.

Landesverbände wie Hessen oder Nordrhein-Westfalen sind nicht auf der Sinnsuche, sondern ruhen in sich, denken und arbeiten innovativ, aber in langen Linien. Als CDU in den neuen Ländern kommen wir da leider manchmal in trübes Gewässer.

Was stört Sie konkret?

Ich kann nicht verstehen, wie man zu Russland eine klare Position vermissen lassen kann. Wenn Michael Kretschmer die Ukraine am Dresdner grünen Tisch neu aufteilt, fällt mir nichts mehr dazu ein. Das ist ein völkerrechtlich souveränes Land, das zum Westen gehören will. Die Chance hat es nur, wenn der Westen unterstützt. Nur die Ukraine hat zu entscheiden, ob sie in Friedensverhandlungen mit dem Aggressor Russland eintritt. Nicht wir, weil wir keine Unterstützung mehr geben. Ich hoffe, dass nicht bei Israel die nächsten Unschärfen entstehen.

Das klingt so, als würden Sie den Landesverband am liebsten wechseln.

Ich möchte, dass in der CDU, in der ich seit Anfang der 90er-Jahre Mitglied bin – in Sachsen – Positionen mehrheitsfähig sind, die ich für christdemokratisch halte. Das ist mühsamer geworden.

Schwappt das „trübe Gewässer“ der Ostverbände in den Bundesverband hinein?

Überall da, wo ich trübes Gewässer sehe, ist der Bundesverband klar aufgestellt. Da gibt es regelmäßig Widerspruch zu problematischen Aussagen. In Thüringen war das rund um die Wahl von Herrn Kemmerich auch schon so. Und ist es jetzt bei Herrn Maaßen.

Auch Friedrich Merz hat Kooperation im Kommunalen mit der AfD erwogen, wenn auch kurz danach relativiert.

Ich war sehr dankbar, als schnell die Ausbuchstabierung kam. Im Kommunalen gibt es auch viele „technische Entscheidungen“, die der Bundestag nicht kennt. Ob ich ein Feuerwehrgerätehaus baue, eine Straße asphaltiere, dem Heimatverein neue Vitrinen für die Dauerausstellung kaufe – das sind keine streitbefangenen politischen Themen.

Wo verläuft die Grenze?

Wir Demokratinnen und Demokraten sind verpflichtet, uns nicht von Extremisten abhängig zu machen. Auch in kommunalen Parlamenten. Je kleiner die demokratische Mehrheit ist, desto schwieriger wird das. Das haben wir in Thüringen gesehen. Die Grunderwerbssteuer ist kein rechtsradikales Thema, nur weil die AfD mitgestimmt hat. Trotzdem wäre es wichtig gewesen, es zu vermeiden, dass die Mehrheit an der AfD hängt. Ich bin mir sicher, Mario Voigt hätte es gern vermieden. Dafür hätten Rot-Rot-Grün sich aber auch mal bewegen müssen. Es ist keine gottgegebene Verpflichtung der CDU, der Minderheitsregierung zur Mehrheit zu verhelfen, ohne dafür auch Inhalte zu bekommen.

Das heißt aber, die CDU hat Ihrer Ansicht nach eine rote Linie überschritten.

Die rote Linie war bei dem Beschluss in Thüringen überschritten. Das war noch nicht der große Beinbruch, weil das Thema nicht hinreichend aufgeladen war. Aber es sollte nicht passieren. Ich glaube den Beteiligten, dass es keine Absprache gab. Dazu darf es nicht kommen, man darf sich nie mit einer rechtsradikalen Partei absprechen. Was sich natürlich verbietet, sind gemeinsame Wahlentscheidungen wie bei Herrn Kemmerich, der ja bis heute der Meinung ist, nichts falsch gemacht zu haben. Dass die AfD ihren eigenen Kandidaten nicht wählt, war nicht absehbar – er hätte diese Wahl, die an der AfD hing, nicht annehmen dürfen.

In Thüringen scheint die CDU andere Lehren gezogen zu haben.

Vielleicht müssen wir unseren Unvereinbarkeitsbeschluss nochmal ausbuchstabieren, wenn manche CDU-Kommunalpolitiker wie im Landkreis Bautzen der Meinung sind, den könne man auch anders lesen.

Bei der AfD geht man davon aus, die Opposition im Osten bald zu verlassen. Können Sie mit Sicherheit verneinen, dass die AfD mitregieren wird?

Ja. Ich glaube nicht, dass die AfD mitregieren wird. Die große Gefahr ist aber, dass die AfD irgendwann gar keinen Partner braucht, um zu regieren.

Sie trauen der AfD absolute Mehrheiten zu?

Die AfD könnte mit unechter absoluter Mehrheit regieren. Wenn die AfD auf 41 Prozent käme, zwei oder drei andere Parteien knapp an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern – das würde reichen. Das wäre furchtbar!

Und damit rechnen Sie im Wahljahr 2024?

Die AfD ist immer absolut ausmobilisiert. Mit Blick auf Thüringen bin ich wirklich besorgt. Es übersteigt meine Vorstellungskraft, dass irgendjemand aus dem demokratischen Lager mit dem Nazi Höcke gemeinsame Sache macht.

Auf manchen Ebenen der CDU-Landesverbände zieht man die AfD den Grünen vor?

Das sehe ich so nicht. Wer immer auf die schiefe Bahn gerät: Da wird es große, breite Widerstände geben.

Gleichzeitig ist es Anspruch einer Volkspartei, das breite Volk zu repräsentieren – und das erlebt gerade einen Rechtsrutsch. Widersteht die CDU dem Sog?

An rechts ist erstmal nichts auszusetzen, sondern an rechtsradikal. Wenn ein erheblicher Teil der Bevölkerung ins Rechtsradikale rutscht, mindestens ihre Wahlentscheidungen, kann die christdemokratische Volkspartei nicht signalisieren, dass sie mit rutscht, sondern muss sagen: Ab heute sind wir geschiedene Leute. Kommt zurück, bitte, oder wir werden uns bekämpfen. Konservativen Demokratinnen und Demokraten muss die Union aber ein gutes Angebot machen, wie Altbundespräsident Joachim Gauck in seinem neuen Buch „Erschütterungen“ völlig richtig schreibt. Die SPD darf das gern auch tun, möchte ich ergänzen.

Wo endet für Sie radikal und wo beginnt extrem?

Ich würde dazwischen nicht unterscheiden. Man kann krachledern konservativ sein, aber in dem Moment, wo es radikal wird, steht man gegen die Demokratie. Als Privatperson darf ich das sein, solange ich keine Straftaten begehe. Für eine rechtsextreme Partei haben wir Möglichkeiten. Es ist höchste Zeit, die AfD zu verbieten.

Das letzte Verfahren dauerte ewig und scheiterte. Warum soll es bei der AfD anders laufen als bei der NPD?

Die NDP-Verfahren sind beide gescheitert, ja. Einmal hat das Bundesverfassungsgericht argumentiert, dass zu viele V-Leute beteiligt waren. Beim zweiten Mal hat es die Frage nach der Wirkmächtigkeit ausbuchstabiert und sagte, dass die NPD zwar rechtsradikal ist, aber den Lauf der Bundesrepublik nicht aufhalten können wird. Im Nachhinein hat es recht behalten, die NPD ist aus den letzten Landtagen rausgeflogen. Ich glaube, dass die Verbotsverfahren dazu beigetragen haben. Auch das ist ein Erfolg.

Einige kritisieren, dass Sie der AfD gerade vor den Landtagswahlen helfen, sich als Märtyrer zu präsentieren, den das „Establishment“ loswerden will. Warum muss das jetzt sein?

Je später ich damit anfange, desto länger dauert es. Es pressiert! Ich bin nicht blind, ich höre dieses Argument. Aber nach der Wahl ist vor der Wahl. Es wird immer irgendwo gewählt.

Sie bereiten einigen Leuten in Sachsen ganz schön Bauchschmerzen.

Ich hoffe doch, vor allem der AfD.

Mitglieder der Regierungsparteien fürchten das Narrativ: Denen fällt nichts anderes ein, deswegen wollen sie uns jetzt per Verbot mundtot machen.

Es ist ja auch so: Demokraten kommen kaum noch gegen die AfD an. Mich fasziniert das Argument, die AfD sei inzwischen so stark, dass man sie nicht mehr verbieten könne. Ich hab das Gefühl, das Jahr verpasst zu haben zwischen der Auffassung, sie seien klein genug, um das Problem politisch in den Griff zu bekommen, und der jetzigen Argumentation. Das Ergebnis der politischen Versuche sind aktuell 35 Prozent für die AfD in Sachsen. Umfragen haben zwei bis drei Punkte Schwankung, nach oben sind das 38 Prozent – da ist nicht mehr viel Luft.

Sie sehen also keine Chance für die CDU in Sachsen, erheblich von der AfD zurückzugewinnen?

Im Lichte der Gemengelage mit vielen großen Krisen wüsste ich nicht, wie das mal eben gehen soll.

Demnach stimmen Sie auch nicht mit der Aussage manch sächsischer Spitzen-CDUler überein, diese 35 Prozent hassten die Grünen und deswegen müssten die Grünen Hauptgegner sein.

Ich weiß nicht, ob das der Kurs ist. Ich bin in den Gremien, die das besprechen, nicht Mitglied. Ich bin ja in keinem Parteiamt mehr. Wenn das der Kurs wäre, hielte ich ihn für ziemlich fatal. Die Grünen können maximal unsere Wettbewerber sein. Aber sie sind eine demokratische Partei. Der Gegner, der Feind steht hoffentlich klar rechts außen. Und Demokratinnen und Demokraten hassen einander nicht.

Also würden Sie auch Michael Kretschmers Aussage widersprechen, dass die Grünen beim nächsten Mal kein Koalitionspartner mehr sein sollen?

Es muss legitim sein, zu sagen, mit wem man lieber koaliert. Ganz ausschließen sollte man es nicht. Dass man eine demokratische Partei in den Senkel stellt, nur weil Rechtsradikale das mit Verve tun, halte ich für eine schlechte Entscheidung. Das tritt den Rasen der Demokratie kaputt.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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