Am Donnerstag sind Kanzler und Oppositionsführer im Bundestag aneinandergeraten. Aber dieses Mal war es nicht der übliche Streit um den richtigen Kurs in der Wirtschafts- oder der Migrationspolitik. Es ging um Israel – und damit um ein Herzstück deutscher Außenpolitik. Lange Zeit galt Angela Merkels Versprechen, Israels Sicherheit sei deutsche Staatsräson, als unumstrittener Konsens in der deutschen Politik. Doch mit der Debatte zum ersten Jahrestag des Hamas-Massakers am 7. Oktober 2023 hat dieses gemeinsame Selbstverständnis Risse bekommen. Ob Friedrich Merz das offenlegen wollte, lässt sich nicht sagen. Aber seine Kritik an der Regierung hat genau dazu geführt.
Der CDU-Kanzlerkandidat warf dem Kanzler und seinem Kabinett vor, mit Israel nicht redlich umzugehen. Einerseits verspreche man, alles für Israel zu tun, andererseits verzögere man bewusst weitere Waffenlieferungen. Merz verwies darauf, dass sich Rüstungsunternehmen bei ihm gemeldet hätten, mit Anträgen, die seit Monaten von der Bundesregierung nicht beantwortet würden. „Was ist das anderes als die faktische Verweigerung von Exportgenehmigungen?“ Merz fügte hinzu, dass es „im Zusammenhang mit dem Kriegsvölkerrecht Erwägungen geben kann, solche Lieferungen nicht zu genehmigen.“ Doch wenn das so sei, solle die Regierung das offen sagen. Stattdessen erkläre sie, alles zu tun, während sie in Wahrheit das Gegenteil mache. Seine Botschaft: „Unsere Solidarität darf keine Risse bekommen.“
In einer ersten Replik auf diese Kritik zeigte SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich, wie sehr ihn und vermutlich viele in der Regierung der Vorwurf traf. Mützenich sprach von einer Grenzüberschreitung und verteidigte zugleich seine Position, dass es die historische Pflicht einer deutschen Regierung sei, auch bei Waffenlieferungen an Israel das Kriegsvölkerrecht immer im Blick zu behalten. Ein Punkt, den vor allem in der SPD und bei den Grünen viele umtreibt, auch wenn sie die Solidarität für Israel nicht in Frage stellen. Es gibt den großen Zwiespalt zwischen der uneingeschränkten Hilfe für das Land bei gleichzeitig wachsender Sorge, dass die Dimension der israelischen Angriffe in Gaza und im Libanon, bei denen auch tausende Zivilisten sterben, jede Verhältnismäßigkeit verliert.
Als Merz seine Kritik danach noch unterfütterte, meldete sich der Kanzler als „Abgeordneter Olaf Scholz“ zu Wort. Merz warf der Regierung vor, die Bundesregierung habe die israelische Seite aufgefordert, keine Anträge zu stellen, weil diese sowieso abgelehnt würden. Das reichte Scholz; jetzt wollte er sich wehren. Nicht Mützenich sollte darauf nochmal reagieren; der Kanzler selbst musste das tun. Und seine Botschaft sollte alle Zweifel beseitigen, Israels Sicherheit könne bei Scholz nicht in den richtigen Händen liegen: „Wir haben nicht entschieden, keine Waffen zu liefern. Wir haben Waffen geliefert. Und wir werden Waffen liefern.“ Und deshalb werde sich der Vorhalt von Merz als haltlos erweisen. Danach verließen Scholz und Mützenich für ein Vier-Augen-Gespräch das Plenum. Man konnte die Einlassungen des Kanzlers auch als Klarstellung für die eigenen Reihen lesen, dass Deutschland weiter Waffen nach Israel liefert.
Selten sind Unsicherheiten und gegenseitige Kritik beim Thema Israel so aufeinandergestoßen wie an diesem Donnerstag. Alle wissen, wie wichtig Deutschlands Unterstützung und Israels Bereitschaft zu engen Beziehungen mit der Bundesrepublik gewesen sind, damit die Bundesrepublik in den Fünfziger- und Sechzigerjahren wieder anerkannter Teil der Weltgemeinschaft werden konnte. Umso härter treffen an diesem Tag die Vorwürfe des Oppositionsführers. Da hilft es auch wenig, dass andere EU-Staaten wie Großbritannien und zuletzt auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron Waffenlieferstopps offen kommuniziert haben. Das BMWK dagegen – förmlich für Waffenexporte zuständig – hat immer wieder der Behauptung widersprochen, auch Deutschland habe einen Lieferstopp verhängt.
Trotzdem blieben Zweifel. Ausgelöst unter anderem durch einen Artikel in der israelischen Tageszeitung Israel Hayom. Sie hatte Ende September von einem Treffen von Israels Ex-Verteidigungsminister Benny Gantz mit Jens Plötner, dem außenpolitischen Berater des Kanzlers, berichtet. Laut der Zeitung habe sich der ehemalige General und aktuelle israelische Oppositionsabgeordnete über Blockaden von Rüstungslieferungen aus Deutschland beklagt. Der Zeitung zufolge habe Plötner darauf verwiesen, dass von israelischer Seite noch Dokumente fehlten, die klarstellten, dass die Güter „nicht zur Durchführung von Völkermord“ verwendet würden.
Das klingt in der Tonlage ziemlich harsch für den Chefberater des deutschen Kanzlers, noch dazu im Umgang mit den israelischen Freunden. Zur ganzen Geschichte gehört allerdings auch, dass sich Deutschland zuletzt vor Gerichten in Berlin und Den Haag gegen den Vorwurf verteidigen musste, Beihilfe zum Völkermord zu leisten. Ein Faktum, das einer wie Plötner im Blick behalten muss. In vielen Ländern des Globalen Südens ist Deutschlands Ansehen als Mittlermacht in Nahost durch die Wahrnehmung ramponiert, es habe sich zu sehr auf die Seite Israels gestellt. Das unterstreicht vor allem eines: Dass es jetzt konkret wird. Lange Zeit konnten sich alle Parteien in Deutschland hinter dem Wort Staatsräson versammeln, weil die Bedeutung hinreichend ungenau blieb. Mit dem 7. Oktober 2023 und allen seinen Konsequenzen hat sich das erledigt.