„Es ist jetzt unsere Pflicht, die Wähler zu beschimpfen“, meinte eine lebenskluge Freundin und Kollegin, als ich ihr nach dem 1. September meinen Frust über die Wahlergebnisse in Thüringen schilderte und erklärte, ich dürfe ja leider nicht die Wähler beschimpfen.
Die Kultur des Schimpfens beschäftigt mich nun schon seit über 20 Jahren. Ich mag das Thema nach so langer Zeit nicht mehr wirklich, aber ich komme davon einfach nicht los. Es verfolgt mich. 2003 hatte ich mich entschieden, über den Unmut der Südbrandenburger eine Doktorarbeit im Fach Volkskunde / Empirische Kulturwissenschaft zu schreiben. Mit ethnografischen Methoden erforschte ich das Schimpfen als Verbalisierung des Unmuts. Es erzählt von den Enttäuschungen darüber, dass die Welt nicht so ist, wie sie nach Ansicht der Schimpfenden sein sollte. Unmut gibt Einblicke in die Erwartungen an ein gutes – ein ordentliches – Leben. Es ist also möglich, daraus Rückschlüsse auf Vorstellungen von einer den Unmutigen ideal erscheinenden Welt zu ziehen. Nach dieser Lesart sehnten sich die Schimpfenden im strukturschwachen Süden Brandenburgs nach der Gleichberechtigung der Regionen in einem Staat, der Sozial- und Wirtschaftspolitik verbindet und der als homogen und am Konsens orientierten Bevölkerung gleiche Chancen auf Arbeit bietet, die gestatten, sich zu entfalten und genügend Raum für die Befriedigung individueller und familiärer Bedürfnisse lässt.
Ich wusste, dass diese Idealvorstellungen vor allem hinsichtlich der Bilder vom „eigenen Volk“ nicht meinen entsprachen. Dennoch bemühte ich mich, das Leiden der Schimpfenden an der Welt zu verstehen, auch wenn ich nicht für alle ihre Äußerungen Verständnis aufbringen konnte. Ihre negative Sicht auf die Bundesrepublik, deren Institutionen, Repräsentantinnen und Vertreter war zu einer Art Alltagswissen geworden, mit dem sie sich in der überfordernden Welt orientierten. Das von mir dokumentierte Schimpfen war in vielen Fällen Ausdruck eines geschlossenen, Fremdes und Neues fürchtenden und ausgrenzenden Weltbildes. Einige Aussagen gaben erschreckende Hinweise auf die Gewalt in den Köpfen. Manche fantasierten vom großen Knall, der alles, was sie in den Jahren vor und nach der Wiedereinigung verletzt, gedemütigt, unglücklich gemacht, verunsichert und in Frage gestellt hatte, aus dem Weg räumen sollte. Wenn, so war meine damalige Angst, dieser allgegenwärtige, aber wenig beachtete Unmut eine Lobby und damit seine Sprecher fände, würde es für die offene, freiheitlich-demokratische Gesellschaft, in der ich gerne leben möchte, schwierig werden.
Dieser Unmut fand seine Lobby in rechten und populistischen Parteien, nicht nur in Brandenburg, sondern in ganz Deutschland, so auch in Thüringen, meinem Heimatbundesland. Ich wuchs in Eisenach auf und ging nach dem Studium in Leipzig und einigen Jahren in Brandenburg im Jahr 2007 wieder zurück. Dort begann ich mich im Verein der Freunde und Förderer des Landestheaters Eisenach e. V. zu engagieren. Wir haben in den letzten Jahren viel erreicht für die Anerkennung und Weiterentwicklung unseres Theaters. Darauf sind wir stolz, weil der Weg dahin steinig war. Wir setzten uns dafür ein, dass der Unmut über frühere Spartenschließungen und Mittelkürzungen nicht das letzte Wort hatte. Stattdessen sendeten wir positive Botschaften an die Bürgerschaft und die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker in den Kommunen und im Land aus: Es steigert euer Prestige, sich für das Landestheater Eisenach stark zu machen, denn es bietet nicht nur der darstellenden Kunst und der Musik eine Bühne, sondern auch der Stadtgesellschaft. Ich machte mit dem Theaterverein das, was man heute gerne auch „Selbstwirksamkeitserfahrungen“ nennt. Das motivierte mich dazu, im Jahr 2019 SPD-Kandidatin für den Eisenacher Stadtrat zu werden, um mich auch auf dieser Ebene für die Kultur in der Wartburgstadt einsetzen zu können. Ich wurde gewählt und kann auch nach der Kommunalwahl im Mai 2024 Stadträtin bleiben. Es gelang der Eisenacher SPD trotz schwerer Fahrwasser für die Sozialdemokratie mit 5 Sitzen sogar mit einem Abgeordneten mehr als 2019 im Stadtrat vertreten zu sein.
Hier muss ich die „Heldengeschichten“ beenden, um mich dann doch wieder dem Unmut zuzuwenden. Diesmal aber meinem eigenen. Die Freude über unseren kleinen Wahlerfolg wird getrübt durch die Zugewinne der AfD von 4 (2019) auf 7 Sitze und den weiteren Verbleib der NPD (jetzt „Heimat“) im Stadtrat mit 3 Sitzen von vormals 4. Wir müssen uns also mit 10 rechten bzw. rechtsextremen Kommunalpolitikern – das sind 27,8 % der gewählten Räte – auseinandersetzen, die in den vergangenen Jahren nur wenig bis gar nicht im Stadtrat und in den Gremien aktiv waren. Aber das scheint einem Teil der Wählerinnen und Wähler egal zu sein.
Seitdem die AfD am 1. September mit 32,8 % in den Landtag einzog, empfinde ich Unwohlsein, wenn ich über mein Heimatbundesland nachdenke. Es fühlt sich fremd an. Bei meiner Arbeit lerne viele bemerkenswerte Persönlichkeiten kennen, die sich, vor allem in den ländlichen Räumen, ehrenamtlich engagieren, mit viel Herzblut ihre Gemeinschaften gestalten und über deren Mut und Fleiß ich bisher immer gerne geredet und geschrieben habe. Unter ihnen müssen auch Wählerinnen und Wähler der AfD sein, denn irgendwo kommen diese Zahlen ja her. Offen bekennen sich wenige zu ihren Wahlentscheidungen. Und ich fange wieder an, wie es zu DDR-Zeiten üblich war, zwischen den Zeilen zu lesen, um die parteipolitische Orientierung meines Gegenübers zu erahnen. Hier ein paar Beispiele: Immer häufiger fließt die Klage über die vielen „Ausländer“ in alltägliche Gespräche ein. Die Corona-Pandemie wird als großes, von einer verschwörerischen Elite durchgeführtes Experiment am Volk dargestellt. Der Klimawandel sei vollkommen natürlich und alle Maßnahmen dagegen dienten der Vernichtung unseres hart erarbeiteten Wohlstands durch grüne Ökoterroristen, die eigentlichen Feinde unserer Nation. Wenn ich zweifelnd schaue, warnt man mich vor der Propaganda der „Staatsmedien“. Ich staune oft, wie gut viele Bescheid zu wissen glauben und nicht ein Fünkchen Selbstzweifel an ihrer Haltung erkennen lassen.
Angesichts solcher Aussagen und der Wahlergebnisse mache ich mir keine Illusionen mehr, bin ernüchtert und ärgerlich. Deshalb schimpfe ich über ein Drittel der Wählerinnen und Wähler, die mit rechtem Gedankengut einverstanden sind, einen autoritären Herrschaftsstil begrüßen und bereit sind, Minderheiten zu diskriminieren, um sich selbst stärker zu fühlen. Mit Blick auf die Geschichte wissen wir, wie leicht es mancher Bürgerin und manchem Bürger in Regimen fällt zur Täterin und zum Täter zu werden. Monatelang wurde bei großen Demonstrationen, mit Kampagnen und in den Medien vor der AfD gewarnt. Die Konsequenzen ihres starken Abschneidens waren spätestens am 1. September allen bekannt. Aber Niedertracht und Dummheit waren stärker als gute Argumente.
Ja, ich weiß, man sollte andere nicht als dumm bezeichnen, denn dann läuft man Gefahr, den Balken im eigenen Auge nicht zu sehen und damit selbst dumm zu sein. Dennoch ist der Begriff wichtig, um zu erkennen was zu diesen Wahlergebnissen geführt hat und was uns droht, wenn wir nicht massiv dagegenhalten. Dietrich Bonhoeffer schrieb in seinem Text „Nach zehn Jahren. Rechenschaft an der Wende zum Jahr 1943“, im Kapitel „Von der Dummheit“: „Dummheit ist ein gefährlicherer Feind des Guten als Bosheit. Gegen das Böse läßt sich protestieren, es läßt sich bloßstellen, es läßt sich notfalls mit Gewalt verhindern, das Böse trägt immer den Keim der Selbstzersetzung in sich, indem es mindestens ein Unbehagen im Menschen zurückläßt. Gegen die Dummheit sind wir wehrlos. Weder mit Protesten noch durch Gewalt läßt sich hier etwas ausrichten; Gründe verfangen nicht; Tatsachen, die dem eigenen Vorurteil widersprechen, brauchen einfach nicht geglaubt werden … Dabei ist der Dumme im Unterschied zum Bösen restlos mit sich selbst zufrieden; ja er wird sogar gefährlich, indem er leicht gereizt zum Angriff übergeht. Daher ist dem Dummen gegenüber mehr Vorsicht geboten als gegenüber dem Bösen.“
Dummheit ist für Bonhoeffer kein „intellektueller, sondern ein menschlicher Defekt“, der nicht angeboren ist, sondern durch bestimmte Umstände hervorgerufen wird. Menschen werden dumm gemacht bzw. lassen sich dumm machen. Was rät Bonhoeffer, nachdem er den Zusammenhang von Macht und Dummheit – „Die Macht der einen braucht die Dummheit der anderen.“ – analysiert hat? Nur ein „Akt der Befreiung“ kann Dummheit überwinden. 1943 sah Bonhoeffer die Voraussetzung für eine innere Befreiung nur in einer äußeren Befreiung vom NS-Regime. Solange seien jegliche Bemühungen zu verstehen, was „das Volk“ eigentlich denke, vergeblich. [1]
Nicht nur ich, sehr viele meiner Freunde, Verwandten und Bekannten blicken bedrückt und sorgenvoll auf Thüringen. Ich erledige weiterhin meine Aufgaben bei der Arbeit und in meinen Ehrenämtern. Ich gebe aber zu, dass ich müde bin. Um mich zu motivieren, den Menschen unvoreingenommen und unbeschwert zu begegnen, benötige ich viel mehr Energie. Ich spüre die Gefahr, dass auch ich angesichts der politischen Situation dauerhaft einem Unmut verfalle, der nicht selten in einer schwer zu überwindenden Verbitterung endet. Doch so will ich weder leben noch auf diese Welt blicken – eine Welt, die viel Anlass zu Angst und Traurigkeit gibt und doch voller Hoffnung und Schönheit ist. Wir müssen den Optimismus verteidigen, auch wenn es Anstrengungen kostet. Mancher Zauderer belächelt den Optimismus als Naivität. Aber lieber bin ich naiv, als dass ich das Gute dieser Welt aus dem Blick verliere, denn nur daraus schöpfe ich Kraft. Ich will nicht, dass ein vom Unmut gezeichnetes Weltbild die Deutungshoheit erlangt.
Am Ende seiner Ausführungen lässt Dietrich Bonhoeffer trotz der düsteren Befunde Hoffnung aufblitzen: „Übrigens haben diese Gedanken über die Dummheit doch dies Tröstliche für sich, daß sie ganz und garnicht zulassen, die Mehrzahl der Menschen unter allen Umständen für dumm zu halten. Es wird wirklich darauf ankommen, ob Machthaber sich mehr von der Dummheit oder von der inneren Selbstständigkeit und Klugheit der Menschen versprechen.“[2] Ich lasse mir von den Unmutigen, die in rechten und populistischen Parteien ihre Lobby gefunden haben, nicht meinen Optimismus nehmen, dass am Ende diejenigen, die eine offene, demokratische Gesellschaft wollen, ein Umfeld gestalten werden, das die Dummheit wieder in ihre Schranken verweist. Und da das in unserer Demokratie nicht die Aufgabe weniger Machthaber „da oben“ ist, liegt es in der Verantwortung jeder und jedes Einzelnen. Deshalb mache ich trotz meiner derzeitigen Müdigkeit an dem mir zugewiesenen Platz weiter, wie es viele meiner Mitstreiterinnen und Mitstreiter auch tun. Ich würde mich aufgeben und mir selbst so fremd werden, wie es mir Thüringen derzeit ist, wenn ich nicht zuversichtlich bleiben würde.
[1] Gremmels, Christian / Huber, Wolfgang (Hg.): Dietrich Bonhoeffer. Auswahl. Bd. 4, Konspiration 1039-1943, Gütersloh 2006, S. 218-220.
[2] Ebd. S. 220