Zahlen sind für gewöhnlich unbestechlich. Das spüren auch die Grünen in diesen Tagen. Erst mussten sie am jüngsten Wahlabend Verluste in Bayern und Hessen ertragen; jetzt zeigen aktuelle Umfragen, dass die lang anhaltende Stabilität auch bundesweit bröckelt. Noch nicht dramatisch und längst nicht so gefährlich wie für die FDP (Dauergast an der Fünf-Prozent-Hürde) oder die Sozialdemokraten (dauerhaft zehn Prozent plus hinter der Union). Aber die Tatsache, dass die Grünen zum ersten Mal seit Jahren ihre bislang sehr stabile Kernwählerschaft nicht mehr komplett hinter sich wissen können, macht die Sache brenzlig.
Immer deutlicher zeigen sich zwei Entwicklungen, die sich auf heikle Weise ergänzen: In der eigenen Truppe wachsen die Zweifel am Dasein als Regierungspartei, weil das Regieren wenige Erfolge und immer mehr Mühe mit sich bringt. Zugleich wachsen im Publikum die Zweifel, ob das vor Jahren von den damaligen Parteichefs Robert Habeck und Annalena Baerbock angestoßene Ausgreifen in größere, auch nicht-grüne Milieus noch ernst gemeint ist. Während die eigenen Leute unter der Aufgabe früherer Klarheit leiden, stellen immer mehr Wählerinnen und Wähler infrage, ob die Grünen noch die Kraft haben, zum Nutzen des Ganzen auch künftig große Kompromisse auszuhandeln und auszuhalten.
Viele Grüne, vor allem viele in der Führung, könnten diese gegenläufigen Erwartungen als ungerecht empfinden, weil sich diese beiden Anforderungen eigentlich ausschließen. Aber es spricht vieles dafür, dass genau das für die Grünen zum größten Problem geworden ist. Ein Teil der Partei, an der Basis wie in der Bundestagsfraktion, hat das Gefühl, dass Habecks demonstrative Gesprächsbereitschaft und Konzilianz in der Koalition den Grünen wenig eingebracht hat; und ein erheblicher Teil der Öffentlichkeit bekommt das Gefühl, dass Habecks große Stärke durch den wachsenden Druck, wieder mit mehr Kompromisslosigkeit für die Kerninhalte zu kämpfen, dahin schmilzt.
Nichts daran ist überraschend in schwierigen Zeiten. Es zeigt nur, vor welcher schweren Aufgabe die Grünen in der zweiten Hälfte der Legislatur stehen werden. Schmerzhafte Erfahrungen sind gemacht und die Belohnung dafür ist ausgeblieben. Schlimmer noch: Der Hass, durch Rechtsradikale besonders befeuert, hat immens zugenommen. Weiche Töne kommen kaum noch durch. Doch mit der menschlich verständlichen Reaktion aus Trotz und schärferen Forderungen läuft die Partei Gefahr, das Spaltende nur weiter zu befeuern. Habeck und andere wissen, dass das genau das ist, was die AfD als gefährlichste Gegnerin möchte. Doch seine Kraft droht zu schwinden, dagegenzuhalten und fürs Ganze einzutreten.
Voraussetzung dafür nämlich war zu Beginn der Koalition, dass sich in seiner Figur und der erweiterten Führung Autorität und Glaubwürdigkeit, Geschlossenheit und positive Lust aufs Regieren bündelten. Er stand nicht infrage, sein Kurs nicht und auch nicht seine Überzeugungskraft bei den Menschen. Baerbock hatte durch einen verunglückten Wahlkampf ein paar Schrammen abbekommen. Aber der frühere Minister aus Schleswig-Holstein galt in den Wochen nach der Bundestagswahl als unangefochtener Verhandlungsführer der Grünen. Auch aus dieser Stärke heraus zog er ins Bundeswirtschaftsministerium ein – nicht wissend, wie sehr dieses Ressort fortan im Zentrum aller Krisen stehen würde.
Zwei Jahre später haben drei Entwicklungen das durcheinander geschüttelt. Krieg und Energiekrise als Element der schweren Kompromisse; das Heizungsgesetz als Zweifel aufwerfendes Zeichen nicht-optimalen Regierens und dazu, nach der Sommerpause, der offene Widerstand der Familienministerin bei der Kindergrundsicherung, die nicht nur die schnelle Umsetzung des Wachstumschancengesetzes blockierte, sondern auch den eigenen Vizekanzler düpierte.
Die unmittelbarsten Konsequenzen bekamen die Wahlkämpfer zu spüren. Obwohl die Umfragen bröckelten und Markus Söder hart jede Kooperation ausschloss, hofften die Grünen in Bayern bis kurz vor der Wahl auf eine schwarz-grüne Koalition. In Hessen hielt sich noch im Juni der Glaube, Tarek Al-Wazir könnte vielleicht doch der zweite Ministerpräsident in der Geschichte der Grünen werden. Obwohl danach die Umfragen nach unten zeigten, erwogen Teile des grünen Spitzenpersonals noch vier Wochen vor der Wahl, die Kommunikation auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Boris Rhein zuzuspitzen. Wie viel das am Ende deutlich schlechtere Abschneiden mit eigenen Fehlern zu tun hat, mag man sich bis heute offen nicht so richtig eingestehen. Lieber verweisen die Grünen auf die FDP und die vielen Streitereien. Dabei wissen die meisten, die in Berlin mitentscheiden, dass kaum etwas so geschadet hat, wie das schlecht eingetütete Heizungsgesetz und der auch interne Konflikt um die Kindergrundsicherung.
Ein Schlüssel für die Schwäche der Grünen ist die Tatsache, dass es aktuell kein eindeutiges Machtzentrum in der Partei gibt. Parteispitze, Fraktionsführung und Kabinettsmitglieder bemühen sich um Abstimmung und gleichlautende Botschaften. Aber seit dem Frühling ist aus dem, was mal eine Stärke war, eine Schwäche geworden: dass sechs Leute mehr sehen, fühlen und denken können. Haben alle nur ein Ziel, ist das Team besonders schlagkräftig; sickern Zweifel an der Linie, an den Kompromissen, an den Beschwernissen in die Köpfe, dann laufen Dinge auseinander. Hinzu kommt, dass Habeck und Baerbock sich weiter belauern. Das schwebt in schweren Zeiten wie diesen wie ein schweres Gewicht über allem. Und dann ist da auch noch der Eindruck, dass die Fraktionsdoppelspitze aktuell keine starke und disziplinierende Kraft entfaltet. Nachdenklichkeit, Zweifel, das Hoffen auf neue Stärke durch die Kindergrundsicherung – auch in der Fraktionsführung war das Bedürfnis, sich endlich mal in einer Frage durchzusetzen, mindestens phasenweise größer als das Ziel, mit keiner Aktion Habecks Autorität anzutasten.
Wie widersprüchlich Stimmungen manchmal wirken und in ihrer Konsequenz sein können, zeigen die öffentlichen Reaktionen auf die Kindergrundsicherung. Eine große Mehrheit sagt in Umfragen, dass dieses Ziel prinzipiell gut und wichtig sei – und eine vergleichbar große Zahl fand es kontraproduktiv, ja ärgerlich, dass diese Forderung mit einer Blockade des Wachstumschancengesetzes verbunden wurde. Noch dazu in den ersten Tagen nach der Sommerpause, in der quasi alle aus der Ampel eine neue Zeit ohne Streit versprochen hatten. Kein Vorfall zeigt besser, wie bei den Grünen zwei gegenläufige Kräfte wirken.
Vor wenigen Tagen hat einer aus der Sechser-Führung in einem nachdenklichen Moment den Satz gesagt, draußen im Land und in den Umfragen sei man am stärksten gewesen, „als die Menschen das Gefühl hatten, dass wir für das ganze Land regieren“. Tatsächlich ist das erste Jahr mit Krieg, Energiekrise und Restlaufzeitverlängerung für die Atomkraftwerke zwar schmerzhaft gewesen. Aber es ist für die Partei auch zum wichtigsten Beleg geworden, dass sie die Kraft und das Verantwortungsgefühl fürs große Ganze mitbringt. Während Olaf Scholz und die SPD genauso wie Christian Lindner und die FDP in den Umfragen litten, erreichten die Grünen zwar keine Rekord-, aber doch Spitzenwerte. Anders ausgedrückt: Es war politisch die stärkste Phase der Grünen und die schwächste der Liberalen.
Ganz anders ist, gemessen an den Umfragen, das Streiten und Ringen um die Kindergrundsicherung ausgegangen. Es gilt zwar als Beleg für wiedergefundene grüne Entschlossenheit. Zugleich aber hat der Konflikt zum ersten Mal offengelegt, dass Habecks Autorität in der Partei abgenommen hat. Das dürfte einigen in der Partei gefallen haben, womöglich auch der Außenministerin, die rings um die KGS wenig unternommen hat, um entsprechenden Gerüchten entgegenzuwirken. Den Grünen insgesamt aber hat es keinen Auftrieb gegeben. Im Gegenteil. Dazu muss man nur den politisch gerupften Wahlkämpferinnen in Hessen und Bayern zuhören.
Wenig spricht dafür, dass den Grünen von außen Hilfe zuteilwerden könnte, ob durch eine Entspannung der weltpolitischen Lage oder durch eine Schwächung der AfD. Im Gegenteil: Die zweite Hälfte der Legislatur könnte zu einer noch schwierigeren Herausforderung werden. Der Scholz'sche Vorschlag eines Deutschland-Pakts deutet eine Richtung an, die den Grünen nicht gefallen wird. Ob sie wollen oder nicht – durch die neuen Gespräche der SPD mit der Union werden sie vermutlich schon sehr bald vor der Frage stehen, ob sie mitmachen oder sich in den heiklen Debatten querstellen. Debatten über Migration, Bürokratieabbau und Hilfen für die Wirtschaft. Sollten sie sich an der Stelle Annäherungen verweigern, könnte das sehr schnell als Abschied aus der Mitte verstanden werden. Nicht in einzelnen Sachfragen, sondern grundsätzlich.
Eingeklemmt zwischen schmerzhaftem Realismus und dem Kampf für langjährige Herzensthemen stehen den Grünen schwere Monate bevor. Setzt sich in der Partei das aktuelle Gefühlsleben durch, dann dürften viele mit einem Lasst-uns-uns-Sein liebäugeln. Will man dagegen die Chance erhalten, auch beim nächsten Mal ernsthaft als Kandidat fürs Kanzleramt zu gelten, wird der menschlich verständliche Reflex des Trotzes in die Irre führen. Ersteres würde die Spaltung eher verschärfen; letzteres beinhaltet die Chance, der AfD wehzutun, weil ihre Feindbilderzählung, die Grünen kümmerten sich nicht um die Menschen, widerlegt würde.