Die Grünen stehen nicht im Verdacht, Donald Trump zu kopieren. Und doch haben sie auf ihrem Parteitag in Karlsruhe eine Botschaft entworfen, die an den ehemaligen und Vielleicht-wieder-US-Präsidenten erinnert. Will man in wenigen Worten zusammenfassen, hinter welcher Überzeugung, welchem Ziel, welcher Anstrengung sich alle in Karlsruhe vereint haben, dann lautet sie: Make Germany great again. Und weil das nicht als Abgrenzung gegen Europa, sondern als Kampfansage gegen chinesische und amerikanische Subventionsmilliarden gedacht ist, kann man einen zweiten Teil hinzufügen: Make Europe great again.
Natürlich haben die Grünen diesen Slogan so nicht verwendet. Zu schnell hätten das manche Beobachter falsch verstehen können. Aber die Rede von Robert Habeck und die Begleitmusik von Omid Nouripour und Ricarda Lang lassen sich ohne Zweifel verstehen wie ein: Deutschland wieder stark machen. Und das nicht, weil die Grünen plötzlich Nationalisten geworden wären. Ihr Kernargument, aufgereiht in vielen Reden: Das Verfassungsgericht habe „endlich“ (Habeck) mit aller Klarheit deutlich gemacht, wie die Schuldenbremse verstanden werden müsse – und warum diese Regel, vor zwölf Jahren entworfen, nicht mehr zeitgemäß sei.
Aus Sicht von Habeck, dem die allermeisten Spitzen-Grünen in Karlsruhe gefolgt sind, geht es mit dem Ruf nach einer Reform der Schuldenbremse nicht darum, wieder leichter Wohltaten verteilen zu können oder „mit Konsumausgaben zu aasen“, wie der Wirtschaftsminister es ausdrückte. Es gehe darum, sich neu auszustatten, ja finanziell zu bewaffnen angesichts einer geopolitischen und ökonomischen Wirklichkeit, in der fast nichts mehr so ist, wie es war. Genauer gesagt: Wie es 2012 war, als die Schuldenbremse kreiert und beschlossen wurde.
Habeck fasste in Karlsruhe zusammen, was bombensicher schien, aber heute nicht mehr gilt: Dass es keine Kriege mehr gebe in Europa; dass es einen Konsens gebe, die globale Erderwärmung einzudämmen; dass Juden in Israel sicher seien; dass Amerika immer für Deutschlands Sicherheit aufkomme; dass billiges russisches Gas Deutschland dauerhaft einen Wettbewerbsvorteil sichere; dass Leistung und Fleiß garantierte Anerkennung und Aufstieg verheißen würden. Und: „Dass wir das Land mit der besten Infrastruktur sind, der pünktlichsten Bahn, dem schnellsten Internet, dem besten Schulsystem.“ Das alles sei erschüttert und rufe nach neuen Antworten – und nach Ernsthaftigkeit von allen Parteien.
Habecks Analyse von der Welt und sein Ruf nach einer großen Reform kann als Versuch gewertet werden, drei Dinge zu vereinen: erstens aus der Defensive zu kommen nach dem Urteil; zweitens den Grünen als Anführer eine klare Richtung zu geben; und drittens allen anderen Parteien innerhalb und außerhalb der Ampel deutlich zu machen, dass die Grünen wieder einen klaren Plan haben. Um nicht zu sagen: Im Falle von Neuwahlen sofort handlungsfähig wären.
Bemerkenswert ist außerdem, wie sehr sich der Wirtschaftsminister, der lange die stoische Ruhe und intellektuelle Kraft der früheren Kanzlerin Angela Merkel bewunderte, sich in aller Deutlichkeit von der früheren Regierungschefin verabschiedet. Diese sei „realitätsblind“ gewesen – gegenüber Putin und China genauso wie gegenüber der Klimakrise. Die aus seiner Sicht folgerichtige Antwort darauf: Deutschland muss sich wieder stark machen. Oder, wie er es in seiner Karlsruhe Rede ausdrückte: Deutschland dürfe sich vor dem großen globalen Wettbewerb nicht länger die Hände auf den Rücken binden, während die anderen „Hufeisen in die Boxhandschuhe nähten“. Dieses Land müsse im Ringen um seine Zukunft, seine Wettbewerbsfähigkeit und die „Wiedererlangung von Souveränität“ wieder „gewinnen wollen“.
So sehr die Rede in Karlsruhe auf den ersten Blick der eigenen Partei galt, so sehr war sie auf den zweiten Blick ans ganze Land gerichtet. Zum zweiten Mal nach seinem Israel-Video gab der Grünen-Politiker aus seiner Sicht einen Rahmen fürs große Ganze vor. Und nicht wenige in Karlsruhe haben das als direkte Herausforderung für die Ampelpartner und unmissverständlichen Angriff auf den Oppositionsführer Friedrich Merz empfunden. Zumal Habeck Merz exakt das vorwarf, was die Christdemokraten über Jahrzehnte den Grünen vorgehalten haben. Der CDU-Chef habe nach dem Urteil erklärt, Transformation finde ab jetzt nur noch durch Technologie statt. Doch das sei allenfalls „ein feines Leitprinzip in einer theoretischen Welt“, tatsächlich aber „blind für die Welt, wie sie ist, die Augen nur offen für das, was man gerne hätte.“ Ergo: realitätsuntauglich!
Doch auch für die eigenen Leute hat Habeck etwas vorgelebt und deutlich gemacht: Er ist unzweideutig in die Rolle des Anführers geschlüpft – und niemand hat ihm das in Karlsruhe streitig gemacht. Vizekanzler ist er schon seit zwei Jahren. Aber die unumstrittene Autorität hatte er zuletzt teilweise verloren. Zum einen, weil sein Ministerium im Umgang mit dem Heizungsgesetz selbst Fehler gemacht hatte; zum anderen, weil im Sommer im Kampf um Profilsuche unter anderem die Familienministerin Lisa Paus seinen Führungsanspruch durch einen spektakulären Alleingang untergraben hatte. Doch in Karlsruhe ist er ohne Beschluss oder auch nur inoffizielle Andeutung wieder zum Frontmann der Partei geworden. Mehr als jemals zuvor wirkt er wie Joschka Fischer in seiner einflussreichsten Zeit, wenn es darum geht, den Grünen Richtung und Kampfkraft zu geben. Noch dazu ohne Fischers Garstigkeiten, über die bis heute viele Grüne vieles erzählen können.
Und doch bleiben zwei Baustellen. Eine offensichtliche, aber lösbare – und eine heikle, die von großer Bedeutung ist. Die erste ist, dass sich die sogenannte Sechser-Runde, in der sich die beiden Parteivorsitzenden, die beiden Fraktionschefinnen sowie Habeck und Baerbock als die beiden wichtigsten Kabinettsmitglieder regelmäßig abstimmen, wieder zum unumstrittenen Machtzentrum entwickelt. Zuletzt war das ein bisschen brüchig geworden. In Karlsruhe aber war nun zu spüren, wie sehr die ganze Partei ob der globalen Situation in der Welt den Atem anhält und sich sehr pragmatisch hinter der eigenen Führung im Kabinett versammelt. Das gilt auch für die Spitzen in Partei und Fraktion – und auch Annalena Baerbock signalisierte öffentlich an keiner Stelle, dass eigentlich doch sie die Anführerin sein müsste. Ob Ukraine, Russland, China, USA; ob Wahlen in den Niederlanden oder Sorgen anderswo in Europa – oder eben die Haushaltskrise in Deutschland – an so vielen Stellen wirkt die Welt porös und zerbrechlich. Deswegen erscheint es fürs Erste eher unwahrscheinlich, dass die Grünen schon in den kommenden Wochen intern neue Konflikte um die Macht zulassen werden.
Habecks zweite Baustelle ist sein eigenes Ministerium. Immer häufiger begegnet man in der Wirtschaft, bei Verbänden, aber auch bei prominenten Grünen einer Kritik, die für Habeck heikel werden kann: dass sein Weltblick und seine Botschaften nicht zum Umgang von manchem seiner Staatssekretäre mit der Welt außerhalb des Ministeriums passen. Parteifreunde, Unternehmen und Wirtschaftsverbände berichten von Entscheidungen und Botschaften, die Habecks zugewandten Habitus untergraben. Das galt für den inzwischen gefeuerten Patrick Graichen. Aber inzwischen ist auch über Udo Philipp zu hören, dass er Habecks Entscheidungen in der Umsetzung korrigiere, unabgesprochen an die Öffentlichkeit gehe, manchmal sogar angestrebte Kompromisse untergrabe. „ Hier tut sich eine Bild-Text-Schere auf“, sagte in Karlsruhe ein prominentes Mitglied der Grünen. Das soll übersetzt wohl heißen: Was Habeck öffentlich sagt und was die Ebene drunter macht, passt nicht immer zusammen.
Will Habeck mit Auftritten wie dem in Karlsruhe größere Wirkung erzielen, dann muss er darüber mehr als nur ein bisschen nachdenken. Angesichts der Anspannung in der Berliner Koalition könnte sehr bald die Frage am wichtigsten werden, ob das Ministerium des Vizekanzlers für künftige politische Schlachten wirklich optimal aufgestellt ist. Insbesondere dann, wenn Habeck für seine Kampfes-Botschaft von Karlsruhe nicht nur die eigenen Leute, sondern auch zentrale Verbündete in der deutschen Wirtschaft gewinnen möchte.