Bäume und Flussadern rauschen an Benjamin Raschke vorbei, eine Kuhweide, ein Landhaus aus einem früheren Jahrhundert. Seit Wochen mutet der Wahlkampf-Alltag ähnlich an, im Endspurt intensivieren die Grünen nochmal, mit ihrem „72-Stunden-Wahlkampf“. „Wir wissen, wie viele Leute sich erst am Schluss entscheiden“, sagt Raschke, der mit Antje Töpfer zusammen Spitzenkandidat der Partei in Brandenburg ist.
Es ist ein Wahlkampf der besonders großen Unsicherheit. „Es gibt nicht das eine gemeinsame Interesse in diesem Land. Es fühlt sich sehr fragmentiert an. Keine Partei hat einen Wahlkampfschlager.“ Außer die AfD. „Ich habe noch keinen Wahlkampf geführt, der so komplex und mit so vielen möglichen Szenerien war“, sagt Raschke, der in Brandenburg geboren und aufgewachsen ist.
Grünen-Mitglied ist der 41-Jährige seit 2005, 2009 übernimmt er gemeinsam mit Annalena Baerbock den Landesvorsitz. 2019 fahren die Grünen mit Raschke als Co-Spitzenkandidaten ihr bisher bestes Ergebnis von 10,8 Prozent ein, stellen fortan 10 von 88 Abgeordneten und bilden zusammen mit SPD und CDU die erste Kenia-Koalition des Landes. Fünf Jahre später müssen sie um ihren Wiedereinzug bangen. Stehen sie in der ersten Jahreshälfte noch bei 7 bis 8 Prozent in den Umfragen, sind es zuletzt stets 4 bis 5.
Im Wahlkampf vor fünf Jahren sei die Sorge ums Klima so präsent gewesen, sagt Raschke, dass Menschen ihn zuweilen auf dem Marktplatz ansprachen, baten, mehr zu unternehmen. In diesem Wahlkampf spielt das Klima kaum eine Rolle; nur ein wenig, zuletzt, durch das Hochwasser an Oder, Elbe und Neiße. Vor allem um Migration sei es gegangen. Neben den für die Grünen Unerreichbaren, die möglichst viele Menschen loswerden wollen, gab es auch jene, die Entsetzen äußerten über das Kippen der Debatte.
Die Tage von Raschke beginnen gerade um 6 Uhr, zum Kinder-Wecken, und enden am späteren Abend. Der E-Sprinter der Grünen biegt auf die Autobahn ab, es geht von Erkner nach Zossen. „Benjamin, kannst du kurz eine Videobotschaft aufnehmen?“, fragt seine Wahlkampfhelferin vom Beifahrersitz nach hinten. Raschke erzählt für Instagram in die Selfie-Kamera von der 72-Stunden-Tour, wedelt mit dem „Halloween-Flyer“, der ein grünes Schreckensszenario aufzeigt: Nur noch vier Parteien im Landtag und somit eine AfD mit Sperrminorität durch mehr als ein Drittel der Sitze.
Der Gegenpol zur AfD zu sein, helfe den Grünen, sagt Raschke. „Die Fünf-Prozent-Hürde ist ein mobilisierender Faktor.“ Die Botschaft, dass es neben all den Abschottungs- und Abschiebungs-Forderungen eine Stimme für Asyl geben soll, habe merklich mobilisiert. Ehe die Grünen so nah an der Fünf-Prozent-Hürde kratzten und sich die Migrations-Debatte derart verschärfte, hätten sie kaum einen Fuß auf den Wahlkampf-Boden bekommen. Zwischen dem „Horse Race“ von SPD und AfD, ohne den Neuen-Bonus eines BSW oder den Rebellen-Bonus der Freien Wähler hätte sich für die Grünen kaum jemand interessiert.
Lieber wären den Grünen andere Themen im Wahlkampf gewesen. „Grüne brauchen die ländliche Perspektive. Wir haben so viele Kommunen, Gemeindevertretungen, Ortsverbände“, sagt Raschke. Eben aus den Bürgerbewegungen seien sie ja entstanden, als Partei. Raschke hätte gern dafür geworben, Geld an Kommunen nicht nur nach Einwohner-Anzahl, sondern auch nach Fläche zu verteilen. Dass in manch kleiner Gemeinde erst dann Radwege saniert würden, wenn Geflüchtete ankommen – weil die Kommunen dann aus anderen Töpfen schöpfen können – sei schwer vermittelbar. Und doch: Auch mit dem Thema kamen die Grünen kaum durch. „Der Bundeseindruck hat uns überdeckt.“ Dabei seien sie als Grüne in Brandenburg ungleich lebensnäher als im Bund, hätten die Menschen die Windräder dort doch direkt vor der Tür – und damit auch potenzielle Vorteile im Geldbeutel.
„Der größte Konflikt mit der SPD ist die Frage, ob wir das Land aus der Staatskanzlei regieren oder aus den Kommunen“, sagt Raschke. „An der Stelle stimmen wir auch mit der CDU weitgehend überein.“ Generell sei es in der Koalition mit der CDU mitunter einfacher gewesen als mit der SPD. „Absprachen mit der CDU funktionieren wesentlich besser als mit der SPD, auch wenn uns inhaltlich Welten trennen.“ Die Wahlkampfstrategie von Dietmar Woidke, seinen Rückzug im Falle eines AfD-Triumphs anzukündigen, scheint Raschke zu verärgern. Überrascht sei er nicht. „Ich finde, dass Dietmar Woidke sich persönlich zu wichtig nimmt. Aber es scheint ja aufzugehen.“ Der Wahl-Bus kurvt um ein gigantisches Plakat von Woidke herum. „Suche den Inhalt“, kommentiert Raschke.
Bei allem Ärger über Woidke und den Rechtsrutsch, den Raschke ihm vorwirft, hat die Kenia-Koalition aber doch, trotz Corona und Krieg, das Gros ihrer Vorhaben umgesetzt. Anstrengender sei es geworden, als die CDU auf Bundesebene in die Opposition wechselte und gegen die Ampel Stimmung machte – und damit gegen die zwei Parteien, mit denen die CDU in Brandenburg koalierte. Eine Fortsetzung kann Raschke sich dennoch vorstellen. „Auch wenn es nicht mein persönliches Wunsch-Szenario ist, wäre es für dieses Land wahrscheinlich das Beste. Wir brauchen entschlossenen Demokratieaufbau.“
Ein Ass im grünen Ärmel ist Annalena Baerbock.Die Außenministerin hat ihren Wahlkreis in Brandenburg, sie reist dieser Tage quer durchs Land. Große Ankündigungen vermeidet Baerbocks Team bei den meisten Events, sonst kommen zu viele Störer mit Tröten. Ein paar haben am späten Donnerstagnachmittag doch mitbekommen, dass Baerbock in Hohen Neuendorf mit Menschen spricht. „Ich bin stolz, Deutsche und auch stolz, deutsche Außenministerin zu sein“, beendet Baerbock das Gespräch mit einer Passantin, die ihr selbiges absprechen wollte. Sie müsse sich mal die Zustände in Kreuzberg anschauen, pöbelt ein Grünen-Gegner in ihre Richtung. Baerbock ignoriert ihn, macht Selfies mit Kindern in Pokémon-Mützen.
Einige Basis-Grüne sagen der Außenministerin, wie oft sie mit der Frage nach Frieden konfrontiert würden. Viele werfen den Grünen vor, nicht mehr für Frieden zu sein, weil sie Waffenlieferungen an die Ukraine unterstützen. „Was ist denn die Alternative?“, fragt Baerbock. „Wenn wir keine Waffen mehr liefern würden, hört Putin dann auf?“ Die Basis nickt. Baerbock sagt, dass neben Diskussionen um Russland seit dem letzten Landtagswahlkampf 2019 vor allem die Fake-News-Maschinerie vieles verändert habe. „Das macht mir wie vielen Menschen richtig Sorgen“.
Ihre Träume von 2019 können sich die Grünen gerade nicht mehr erlauben. Der Landesverband stand einst stärker da, einige gute Kräfte sind aus der Partei- in die Ministerien-Arbeit gewechselt. Trotzdem konnten die Brandenburger ihre Mitgliederzahl seit der letzten Wahl auf 3.000 verdoppeln. CDU und SPD zählen jeweils rund 6.000, die AfD rund 2.000 Mitglieder. „Natürlich wäre es schöner, wenn wir bei 20 Prozent stünden“, sagt Baerbock. „Aber es ist wie in der Außenpolitik: Wenn es schwierig wird, ringe ich erst recht um jeden Millimeter Fortschritt.“
Der Kirchturm klingelt, zwölf Uhr mittags am Zossener Markt. Oben werben AfD und CDU mit Ständen nebeneinander, etwas abgeschlagen die Freien Wähler. Raschke wuselt mit einem Korb voller Äpfel an Ständen vorbei. Manche sagen ihm, sie hätten schon gewählt, manche lehnen dankend ab, manche mit kleineren Pöbeleien. Ein Mann bleibt stehen. „Ich hoffe auf jeden Fall, dass die Grünen in den Landtag kommen, weil’s mit den Koalitionsoptionen sonst dünn wird. Aber es wird eng werden, glaube ich.“
Am Wahltag gehe es darum, sagt Raschke, wie groß die Gruppe wirklich ist, die sich Sorgen um die Demokratie macht. Um den Effekt der AfD. Die bewegt sich in neuesten Umfragen zwischen 28 und 29 Prozent. Raschke wirft der Partei „gezielte Staatszersetzung“ vor – und Fraktionsmittel weniger für parlamentarische Arbeit genutzt zu haben als andere Parteien. Die AfD sei stattdessen omnipräsent mit Grillfesten im Land und auf Social Media gewesen. Das, räumt Raschke reumütig ein, hätten die anderen Parteien allesamt verschlafen. „Man fühlt sich ein bisschen wie vor einem demokratischen Scherbenhaufen, die AfD fährt Sieg für Sieg ein und wir kürzen Gelder für Demokratieprojekte.“ Das hätten die Grünen eingesehen, auf Landes- wie Bundesebene. Für die Landtagswahl bringe das nicht mehr viel, sagte Raschke. Aber für die Zukunft, vielleicht.