Analyse
Erscheinungsdatum: 19. November 2024

Femizide: Warum die Gefahr für Frauen wächst

Im Jahr 2023 wurde in Deutschland fast täglich eine Frau oder ein Mädchen getötet. Hunderttausende wurden vergewaltigt oder erlebten andere Formen von Gewalt. Die Regierung vermag der Realität bislang wenig entgegenzusetzen.

Frauen sind in Deutschland nicht sicher vor Femiziden. Sie waren es nie wirklich und sie sind es dem ersten Lagebild „Gewalt gegen Frauen“ zufolge jetzt noch weniger als vor einigen Jahren. Laut der Statistik, die Nancy Faeser, Lisa Paus und BKA-Vizechef Michael Kretschmer am Dienstag vorgestellt haben, starben 2023 beinahe täglich eine Frau oder ein Mädchen durch einen Femizid.

Die Polizei verzeichnete mehr als 180.000 frauenfeindliche Taten im vergangenen Jahr. 52.300 Frauen erlebten sexualisierte Gewalt – gegenüber dem Vorjahr ein Anstieg von gut zwei Dritteln. Mehr als die Hälfte der Betroffenen war minderjährig. Die meisten Täter sind Deutsche, 30 Jahre alt oder älter. Und sie kommen oft aus dem Umfeld der Opfer. Männer, denen die Betroffenen ausgeliefert sind – und denen sie vertraut haben.

Das Lagebild beleuchtet auch Menschenhandel „zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung“, hier registrierte die Polizei 519 weibliche Opfer. Ähnlich wie im häuslichen Umfeld und generell bei Sexualdelikten ist davon auszugehen, dass die reale Anzahl die registrierten Fälle um ein Vielfaches übersteigt. Wie viele Prostituierte Freiern hierzulande ausgeliefert sind, ist nicht bekannt. Offiziell waren im September 2023 gut 28.000 Frauen angemeldet.

Expertinnen und Experten schätzen, dass sich insgesamt etwa 400.000 bis zu einer Million Frauen prostituieren – ein erheblicher Teil unter Zwang, oft unter Androhung von Mord gegen die Betroffene selbst oder ihre Angehörigen. Menschenwürdig behandeln Freier und Zuhälter diese Frauen selten.

Die Dresdner Oberärztin der Psychotraumatologie Julia Schellong, die frühere Prostituierte behandelt, vergleicht deren Symptome immer wieder mit denen von Soldaten, die mit schweren Kriegstraumata aus Afghanistan zurückgekehrt sind: Depressionen, Angst- und Bindungsstörungen, Suizidgedanken und Albträume begleiten sie häufig. Straftaten im Kontext mit sexueller Ausbeutung sind „Kontrolldelikte“: Erst Kontrollen führen dazu, dass sie aufgedeckt werden. Und Spezialeinheiten haben bis heute bei Weitem nicht alle Bundesländer im Einsatz.

Die zwei Ministerinnen stellten bei ihrer Pressekonferenz Mittel vor, die Gewalt gegen Frauen eindämmen sollen. „Wir müssen ganz konkrete Schutzmaßnahmen umsetzen, dabei haben wir in den letzten Jahren schon viel erreicht“, sagte Faeser und nannte als Beispiele eine Kampagne zur Sensibilisierung der Jugend für häusliche Gewalt und die Tarn-App „Gewaltfrei in die Zukunft“. Sie soll Frauen ermöglichen, unbemerkt Verletzungen zu dokumentieren und ihnen Kontakte zu Hilfsstellen aufzeigt. „Wir schaffen 24/7-Anlaufstellen für Betroffene“, versprach Faeser.

Bisher eröffnet hat sie aber erst eine, am Berliner Ostbahnhof. Mit geschultem, weiblichen Personal von der Bundespolizei. „Wir gehen da mit gutem Beispiel voran, und ich würde mich freuen, wenn dem viele folgen werden“, sagte Faeser. Flächendeckend warnen Expertinnen in Schutzeinrichtungen immer wieder davor, dass Betroffene vor Anzeigen bei der Polizei zurückschrecken. Und zwar aus der regelmäßig bestätigten Furcht, Beamte könnten sie dort nicht ernst nehmen, Vergewaltigungsvorwürfe von Prostituierten etwa anzweifeln – schließlich sei Sex Teil ihres Jobs.

„Die Täter müssen sich ändern“, sagte Faeser. Es brauche außerdem bundesweite Fußfesseln, damit die Polizei schneller einschreiten könne. Und sie werde Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung in den Blick nehmen.

Eine „Bedarfsplanung“ zu Frauenhäusern sei „geplant“. Expertinnen aus dem Gewaltschutz benennen seit vielen Jahren sehr konkret, welchen Bedarf es gibt. Die Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen sieht vor, dass es pro 10.000 Einwohnerinnen und Einwohner einen Platz in einem Schutzhaus geben muss. Laut jüngsten Zahlen des Familienministeriums „stehen von Gewalt betroffenen Frauen und ihren Kindern rund 400 Frauenhäuser sowie über 40 Schutz- oder Zufluchtswohnungen mit mehr als 6.000 Plätzen zur Verfügung.“

Bei 84 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern in Deutschland müssten es nach Istanbul-Konvention 8.400 Plätze sein.

In Berlin etwa müssen Mitarbeiterinnen von Schutzhäusern Frauen und ihre Kinder immer wieder wegschicken, weil sie keine Plätze haben. Sie kritisieren, es fehle an öffentlichem Interesse, Prävention – und Geld, das im sozialen Bereich immer wieder gestrichen wird. „Wir diskutieren, ob wir Frauen Winterjacken oder Unterhosen kaufen können, weil wir kein Geld haben“, sagte die Mitarbeiterin eines Frauenhauses zu Table.Briefings.

Familienministerin Paus kündigte bei der Vorstellung des Lagebilds ein „Gewalthilfegesetz“ aus ihrem Haus an. Es solle einen einheitlichen Rechtsrahmen schaffen und das Hilfesystem bedarfsgerecht aufbauen. Auch wenn sie sich zuversichtlich zeigte, dass ihr Gesetz noch kommen wird: Weniger als 100 Tage vor der Bundestagswahl dürfte es diesem Gesetz eher so ergehen wie dem Versorgungsstärkungsgesetz aus dem Gesundheitsministerium, das den Mangel an Psychotherapieplätzen in Deutschland abmildern sollte.

„In der Tat hatte Karl Lauterbach ja eine ganze Reihe von Gesetzen noch in der Pipeline“, sagte Paus dazu am Dienstag auf Nachfrage. „Sie wissen ja, dass diese Gesetze es leider nicht mehr schaffen.“ Auch schwer traumatisierte Gewalt-Überlebende müssen in Deutschland damit weiterhin oft bis zu zwölf Monate auf einen Therapieplatz warten.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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