Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie Hamas-Sympathisanten auf Berliner Straßen feiern und randalieren sehen?
Das ist fürchterlich. Vielen Menschen in Deutschland und vielen jüdischen Menschen in Deutschland geht das Gefühl der Sicherheit verloren. Noch schlimmer: Es geht das Gefühl der Zukunftssicherheit verloren. So etwas hat weitreichende Konsequenzen für die Lebensplanung über mehrere Generationen hinweg. Ich kenne Jüdinnen und Juden, die sich inzwischen fragen, ob ihre Kinder und Enkelkinder noch in Europa aufwachsen sollten oder nicht doch besser im Ausland, etwa in den USA?
Antijüdische Übergriffe beobachten wir schon seit vielen Jahren. Hat der aktuelle Konflikt im Nahen Osten dieses Problem verstärkt?
Ja. Mich entsetzt die Massivität der Übergriffe. Und oft sind die Täter in Deutschland aufgewachsen, wurden an Schulen und Universitäten in Deutschland ausgebildet. Inzwischen geht es nicht mehr nur um Menschen, die bewusst Terrorangriffe gutheißen. Das ist strafrechtlich zu behandeln. Es gibt mittlerweile eine Stufe dazwischen. Viele Menschen empfinden ein Unbehagen mit dem jüdischen Staat, nur weil er jüdisch ist. Und sie stellen sich offen gegen die Position der deutschen Regierung, die Israel unterstützt, gegen unsere Schlussfolgerungen aus Deutschlands Geschichte. Das Problem löst man nicht dadurch, dass man diese Menschen aus Deutschland „abschiebt“. Wir dürfen nicht vergessen: Diese Menschen und ihre teils abscheulichen Ansichten sind mittlerweile Teil unserer Gesellschaft.
Wurde dieses Phänomen nicht ernst genug genommen?
Ganz klar: Wir haben das Problem Antisemitismus nachlässig behandelt. Wir müssen von migrantischem Antisemitismus sprechen. Das nur als muslimischen Antisemitismus zu bezeichnen, ist zu einfach. Außerdem beobachte ich ein fehlgeleitetes Verhältnis zu Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung, die Unfähigkeit, Konflikte ohne Aggressivität auszutragen, den Hang zu Feindbildern und emotionalen Reflexen in Schach zu halten. Das ist eine Erosion der Diskurskultur, die sehr gefährlich ist, egal gegen wen sie sich richtet. Zum Beispiel erzählen mir Armenierinnen und Armenier seit Jahren, dass sie insbesondere aus der türkischen Community angegriffen und angefeindet werden.
Marco Buschmann hat unlängst im Bundestag gesagt, es könne nicht sein, dass jüdische Gotteshäuser in Deutschland wieder brennen. Was heißt das in der Konsequenz, wenn die Straftäter hier aufgewachsen sind? Einige schlagen vor, dass Abschiebungen nötig sind.
Viele dieser Vorschläge sind von guten Motiven getragen. Aber es ist oft nur ein Ausdruck von Hilflosigkeit. Ich glaube, dass die Gruppe der abschiebefähigen Täter sehr klein ist. Viele Menschen sind deutsche Staatsbürger, andere staatenlos. Wohin soll man sie abschieben? Nach Libanon, wo sie nie gewesen sind? Antworten finden wir nur, wenn wir das Phänomen als unser eigenes Problem begreifen.
Und wie geht das?
Wir brauchen eine massive Bildungsoffensive. Wir müssen prüfen, inwiefern wir Religionsgemeinschaften stärker in die Mitverantwortung nehmen. Es kann nicht sein, dass etwa der Zentralrat der Muslime in Deutschland so lange gebraucht hat, um die terroristischen Anschläge der Hamas in Israel zu verurteilen. Wir müssen diese Institutionen fordern, aber nicht als ausländische, sondern als inländische Akteurinnen und Akteure betrachten. Wir müssen auch endlich hinterfragen, wo die Grenzen dieser Community-Identitäten sind. Ehrlich gesagt, müssen wir vielleicht auch die Rolle der Religion bei solchen Konflikten kritischer hinterfragen. Wir haben die religiöse Komponente der Vielfaltsgesellschaft unkritisch überbetont. Es gibt aber wichtige säkulare Traditionen in diesen Communities. Und diese Traditionen müssen gestärkt werden. Dann nehmen wir der unkritischen Solidarisierung hoffentlich ein wenig den Wind aus den Segeln. Schließlich haben viele der jetzt protestierenden Communities gar nichts mit Palästina zu tun, die Emotionalisierung läuft über die islamistische und pan-islamische Schiene.
Die AfD verwendet Israelhass derzeit erneut als Argument gegen Muslime. Was sagen Sie dazu?
Das wundert mich überhaupt nicht. Das hat die AfD schon immer gemacht. Es ist ein Treppenwitz, dass sich die Rechtsradikalen plötzlich als die größten rhetorischen Freunde von Israel, von Jüdinnen und Juden gerieren.
Wie geht man damit um?
Wie mit allen Verkürzungen und Instrumentalisierungen, die aus dieser Ecke kommen. Wir müssen sie entzaubern, ohne das Problem zu verniedlichen. Was hat denn die AfD je getan, um das Problem zu lösen? Sie hat es ständig nur instrumentalisiert, um jemanden aus dem Land zu schmeißen. Konkrete Pläne zum Umgang mit Antisemitismus habe ich von der AfD noch nie gesehen. Vorschläge für eine Bildungsoffensive oder zur Erinnerungspolitik? Komplette Fehlanzeige, da kommt nichts. Insofern dürfen wir die AfD auch an dieser Stelle nicht aus der Verantwortung nehmen, sondern selbstverständlich als ein Teil dieses Gesamtproblems in unserer Gesellschaft sehen. Sie bereiten für die Geschichtsrelativierung den gesamtgesellschaftlichen Boden.
Sie sind der einzige Jude unter den deutschen Europaabgeordneten. Im Bundestag gibt es keinen einzigen. Woran liegt das?
Ich will zunächst einmal mit einer unangenehmen Theorie von Verschwörungsideologen aufräumen. Sie zeichnen das Bild von einem Bundestag, der voller jüdischer Abgeordneten sei. Sie tun so, als lebten in Deutschland Millionen von Jüdinnen und Juden. Das ist falsch. Die jüdische Community in Deutschland ist sehr klein. Wir haben ungefähr 100.000 formelle Mitglieder. Die meisten sind aus der Ukraine und anderen Nachfolgestaaten der UdSSR. Und das ist vielleicht eine der Antworten auf die Frage: Menschen, die nach Deutschland kommen, sind erstmal nicht damit beschäftigt, sich politisch zu engagieren, sondern sich eine Existenz aufzubauen. Ich bin eine Ausnahme. Ich kenne aber auch andere Menschen, die aus der Community kommen und sich gerne politisch in Parteien engagieren würden. Aber unser Parteiensystem ist so beschaffen, dass gerade Migranten als Quereinsteiger nicht so leicht an Ämter und Positionen kommen.
Haben Gesellschaft und Sicherheitsbehörden Lehren aus den antisemitischen Übergriffen gezogen?
Man kann nie genügend Lehren aus diesen Übergriffen ziehen. Es ist nie genug. Wir müssen BND und Verfassungsschutz stärken. Denn vielen gewaltbereiten Antisemiten kommt man nicht mit normalen, gängigen Ermittlungsmethoden auf die Schliche. Das haben wir erst vor wenigen Tagen in Duisburg gesehen. Es soll sich jemand für jüdische Einrichtungen interessiert haben. Und vom wem soll der Tipp gekommen sein? Von ausländischen Geheimdiensten. Für mich heißt das klar: Die Sicherheitsbehörden müssen sich einen besseren Überblick verschaffen. Das wünschen sich die jüdischen Communities. Das bedeutet nicht, dass Deutschland zum Hochsicherheitstrakt werden soll. Aber ein entschlossenes Vorgehen wäre wichtig. Dazu gehört aber nicht, dass wir jedes Schwenken einer Palästinenser-Flagge verbieten. Hier muss man Abwägungen treffen.
Können wir als deutsche Gesellschaft von anderen EU-Ländern lernen, wie es besser geht?
Wenn ich mir anschaue, was auf den Straßen in anderen Staaten los ist, dann sehe ich nicht, von wem wir lernen könnten. Das ist eine gesamteuropäische Herausforderung. Aber wenn ich zumindest die politischen Bekenntnisse der relevanten Akteurinnen und Akteure in Deutschland höre und wenn ich sehe, wie die Polizei zurzeit vorgeht, dann bin ich optimistisch, dass die Dringlichkeit angekommen ist.