Stefan Graaf, Sprecher des Bundesnetzwerks Jobcenter und Geschäftsführer des Jobcenters StädteRegion Aachen
Für eine umfangreiche Beurteilung ist es in weiten Teilen noch zu früh, da wesentliche Inhalte der Reform erst zum 1. Juli 2023 in Kraft getreten sind. Feststellbar ist jedoch, dass die Jobcenter sie geräuschlos und professionell umgesetzt haben, obwohl die dafür erforderliche Zeit wieder einmal sehr knapp bemessen war. Für einen „Umgang auf Augenhöhe“ hätte es des Gesetzes nicht bedürft, da dies bereits seit Langem gelebte Praxis war. Für eine erfolgreiche Umsetzung benötigen die Jobcenter eine ausreichende und verlässliche Finanzausstattung.
Daran fehlt es aktuell leider, sodass zum Beispiel die Entfristung des sogenannten sozialen Arbeitsmarkts, der geförderte Beschäftigung etwa für Langzeitarbeitslose bietet, ins Leere läuft. Spürbar ist, dass neben dem unterstützenswerten „Fördern“ auch dem „Fordern“ mehr Bedeutung beigemessen werden muss, um die gesellschaftliche Akzeptanz zu bewahren. Zudem muss sich das Lohnabstandsgebot besser in unserem sozialen Sicherungssystem und den Löhnen auf dem Arbeitsmarkt abbilden.
Nach der abgewendeten Aufgabenverlagerung der Betreuung der Jugendlichen vom Jobcenter hin zur Agentur für Arbeit steht jetzt – aus Haushaltsgründen – die Zuständigkeitsverlagerung bei beruflicher Weiterbildung und Rehabilitation an. Das passt vom ganzheitlichen Ansatz her so gar nicht zum Grundgedanken der Reform. Zu hoffen bleibt außerdem, dass die Kindergrundsicherung nicht zu teuren Doppelstrukturen führt, die von den Betroffenen nicht mehr durchblickbar sind.
Dirk Heyden, Geschäftsführer des bundesweit größten Jobcenters Hamburg
Das Gesetz beinhaltet viele wichtige Impulse: Die Schonzeit bei der Vermögensanrechnung, die Bagatellgrenze für Rückforderungen und die erweiterten Fördermöglichkeiten sind aus unserer Sicht erfolgreiche Instrumente, die wir sehr begrüßen. Daher sehen wir es kritisch, dass für die Jobcenter 2024 voraussichtlich keine auskömmliche Finanzierung zur Verfügung stehen wird. Wünschen würden wir uns darüber hinaus mehr Anreize zur Arbeitsaufnahme. Die vom Bundesarbeitsministerium dazu in Auftrag gegebene Studie, deren Ergebnisse gerade veröffentlicht wurden, bestätigt die Notwendigkeit, gerade in Sachen Freibeträge nachzusteuern.
Wichtig wäre auch ein besserer Datenaustausch zwischen den Behörden, um etwa Vorrangigkeitsprüfungen bei Kindergeld, Renten, Wohngeld und anderen Leistungen zu prüfen. Denn die Daten sollen laufen, nicht die Kunden! Helfen würden zudem mehr Mitwirkungspflichten für Kundinnen und Kunden, die keine Bereitschaft zur Zusammenarbeit zeigen.
Auch wenn es insgesamt nur eine kleine Minderheit ist, wäre es hilfreich, wenn wir den Regelsatz komplett streichen könnten, wenn jemand zum Beispiel dreimal hintereinander ohne wichtigen Grund nicht zu vereinbarten Gesprächen erscheint. Die Übernahme der Kosten der Unterkunft wäre davon ausgenommen. Außerdem müssen unsere Integrationsfachkräfte von administrativen Anforderungen entlastet werden, damit sie sich stärker ihrer primären Aufgabe widmen können: die Menschen individuell zu unterstützen und auf ihrem Weg aus der Hilfebedürftigkeit zu begleiten.
Claudia Remark, Geschäftsführerin des Jobcenters Flensburg
Ich unterstütze die Idee, unsere Kundinnen und Kunden über mehr Coaching und mehr Weiterbildungsangebote zu fördern und nachhaltig in Beschäftigung zu bringen. Allerdings haben wir festgestellt, dass ihre Eigeninitiative im Hinblick auf Qualifizierung weiterhin eher gering ist und wir nach wie vor viel Überzeugungsarbeit leisten und Mut machen müssen.
Zudem haben wir festgestellt, dass der zurückhaltendere Umgang mit Sanktionen –Förderangebote werden zunächst ohne die Androhung von Konsequenzen unterbreitet – , bei einem Teil unserer Kundinnen und Kunden dazu führt, Angebote auszuschlagen und sich einer aktiven Kooperation zu entziehen. Spürbar war gerade in den ersten Monaten, dass mehr Anträge von Bürgerinnen und Bürgern eingegangen sind, die über ein auskömmliches Einkommen verfügen und keinen Anspruch auf Bürgergeld hatten. Dies war sicherlich auf die öffentliche Diskussion und die hohen Energie- und Lebenshaltungskosten zurückzuführen.
Diese Entwicklung hat sich aktuell wieder relativiert – unser Kundenbestand ist zurzeit sogar so niedrig wie nie zuvor. Dringenden Änderungsbedarf sehen wir dennoch bei der finanziellen Ausstattung der Jobcenter durch den Bund. Die aktuell geplanten Kürzungen führen dazu, dass wir viele erfolgreiche Angebote zur Stabilisierung und Qualifizierung nur noch eingeschränkt zur Verfügung stellen können. Dies konterkariert das Ziel des Bürgergeldes, mehr Langzeitarbeitslose nachhaltig in Arbeit zu bringen und darüber hinaus soziale Teilhabe zu ermöglichen.
Ana Paula Büsse, Geschäftsführerin des Jobcenters Region Hannover
Das Bürgergeld enthält einige gute Regelungen, bedeutet für uns aber keinen Kulturwechsel. Die nachhaltige Integration durch berufliche Qualifizierung hatte schon zuvor bei uns Vorrang vor der kurzfristigen Arbeitsaufnahme. Wir begrüßen, dass das Instrument „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ dauerhaft zur Verfügung steht. Es verbindet Lohnzuschüsse, Qualifizierung und ein begleitendes Coaching: In der Region haben wir damit bereits in den letzten Jahren gute Erfolge und Perspektiven für viele Langzeitarbeitslose erreichen können. Mit dem Gesetz haben wir die Möglichkeit, Arbeitssuchende noch stärker als bisher zu begleiten.
Das ist wichtig, weil sich die Struktur dieser Gruppe verändert hat: Wir haben deutlich mehr Fälle mit schwerwiegenden Problemlagen und psychischen Erkrankungen als früher. Das Bürgergeld bietet mehr Möglichkeiten, noch früher anzusetzen und länger zu begleiten – gerade auch bei Jugendlichen. Auf der anderen Seite stellen wir keine Entlastungen oder eine Erleichterung in der Bearbeitung der Geldleistungen fest. Und es irritiert sehr, dass die Politik viele Neuerungen wieder infrage stellt. Zum Beispiel wird gegenwärtig diskutiert, Bonuszahlungen für Weiterbildungen wieder abzuschaffen und härtere Sanktionen einzuführen.
Gleichzeitig wird überlegt, die Zuständigkeit für die berufliche Weiterbildung aus den Jobcentern in die Agenturen für Arbeit zu geben. Solche Ideen bringen für die Menschen keine Vorteile, sondern führen eher zu Verunsicherung und tragen so zu einem Vertrauensverlust in das System der Grundsicherung sowie die Arbeit der Jobcenter bei. Im Übrigen ist die Verunsicherung auch bei den Jobcenter-Mitarbeitenden hoch.
Annette Farrenkopf, Geschäftsführerin des Jobcenters München
Das Bürgergeld ist eine wichtige Reform, in die unsere Erfahrungen aus den letzten 17 Jahren eingeflossen sind. Bei den Fördermöglichkeiten wurde unser Instrumentenkasten größer: Wir haben unter anderem mehr Möglichkeiten bei Weiterbildungen und forcieren abschlussorientierte Maßnahmen bei langzeitarbeitslosen Menschen ohne Berufsabschluss – wenn eine erfolgreiche Qualifizierung sinnvoll und realistisch ist. Auch der Motivationsanreiz durch das Weiterbildungsgeld steht für einen klaren Fokus auf eine nachhaltige Integration.
Aber Unterstützung benötigt Geld! Wichtig ist, dass die nachverhandelten 750 Millionen Euro auch tatsächlich mit dem Haushalt 2024 zur Verfügung gestellt werden. Gut ist, dass mit dem Bürgergeld die Beratung in klarer, verständlicher Sprache in den Mittelpunkt gerückt wurde. Der neue „Kooperationsplan“ legt einen Schwerpunkt auf eine vertrauensvolle und partnerschaftliche Zusammenarbeit. Durch die Freibeträge haben die Menschen mit Arbeit außerdem mehr Geld zur Verfügung.
Ab dem 1. Juli 2023 kamen weitere Erwerbsanreize hinzu: Bei einer Beschäftigung mit einem Einkommen zwischen 520 und 1.000 Euro dürfen 30 statt bisher 20 Prozent davon behalten werden. Auch Jugendliche und Auszubildende können deutlich mehr behalten. Damit werden Ausbildung und Arbeit attraktiver – und die Jugendlichen lernen, dass sich Arbeit lohnt.
Enrico Vogel, Geschäftsführer des Jobcenters Gera
Die Reform war der richtige Schritt zum falschen Zeitpunkt. Richtig deshalb, weil viele Inhalte der Reform das praktizierte Verwaltungshandeln im Jobcenter legitimiert haben. Dazu gehört etwa der Verzicht auf schnelle Vermittlung in prekäre Beschäftigung, wenn es bessere Qualifizierungsalternativen gibt. Insgesamt war es ein Schritt hin zu einer bürgerfreundlicheren Verwaltung, die die Hilfe in komplizierten Lebenslagen und in Folge die Wiedereingliederung ins Erwerbsleben in den ganzheitlichen Fokus nimmt.
Doch die Reform kam zu spät. Die Einführung der wichtigen Änderungen im Vermittlungsbereich Mitte 2023 wurden überschattet von einer beginnenden finanzpolitischen Diskussion. In den Debatten über Einsparungen durch Verschiebung von Zuständigkeiten für die Betreuung Jugendlicher wurde Letzteres zwar verhindert, aber dafür fällt ein Kernelement der Reform – die Weiterbildung – zukünftig im Jobcenter weg und geht an die Agenturen.
Es wurde ein politischer Vermittlungsturbo für Geflüchtete gezündet, der die inhaltlichen Schwerpunkte verschiebt. Die Diskussionen über Sanktionen nehmen kein Ende und überschatten die positiven Reformseiten. Die zur Verfügung gestellten Geldmittel entsprechen nicht den an die Jobcenter gestellten Zielerwartungen. Man kann mit weniger Geld nicht genauso gute oder sogar bessere Ergebnisse erzielen.