Analyse
Erscheinungsdatum: 12. September 2024

Die Ukraine vor dem Winter: Warum in Berlin niemand drüber spricht, aber viele sich sorgen 

In Berlin wächst die Sorge, dass sich die Situation in der Ukraine im Winter weiter zuspitzt. Trotz der Sanktionen nimmt die russische Übermacht zu – was auch für den Rest Europas Konsequenzen hat.

Es ist die Woche der großen Debatten im Bundestag. Über den knappen Haushalt, die angeschlagene Wirtschaft, den islamistischen Terror, die illegale Migration. Nur ein Thema wird vom Kanzler an abwärts von allen Rednern oft nur gestreift, obwohl es schnell noch viel größer und bedrohlicher werden könnte als es ohnehin schon ist: der Krieg in der Ukraine. Immer deutlicher wird die Übermacht Russlands; immer gravierender werden die Folgen, die das fürs Land, für die EU und für Deutschland haben wird. Leise blieben die Redner im Parlament nicht, weil sie das anders sehen. Leise blieben sie, weil alle – in Regierung und Union – ahnen, dass der Winter zu einem riesigen Problem werden kann.

Der Grund: Inzwischen sind 80 Prozent der ukrainischen Wärme- und Strominfrastruktur zerstört. Und ob die unzähligen Generatoren, mit denen sich das Land mittlerweile versorgt hat, ausreichen werden, ist nicht klar. Hinzu kommt die kritische Lage an der Front, derzeit besonders bei Pokrowsk. Die russische Armee will die östliche Bergbaustadt einnehmen und damit die Versorgung der ukrainischen Armee in der Donezker Region erheblich schwächen. Zwar scheint die Ukraine den russischen Vormarsch auf Pokrowsk nur wenige Kilometer vor dem Ort vorerst aufgehalten zu haben. Aber bei einer angeblichen personellen Überlegenheit der Russen vor Ort von zehn zu eins ist fraglich, ob der Widerstand lange hält.

Es zeigt sich: Wladimir Putins Kriegsmaschinerie läuft trotz der 14 westlichen Sanktionspakete auf Hochtouren. Er hat sein Land längst auf eine Kriegswirtschaft umgestellt; Kosten spielen weder bei der Rekrutierung neuer „Freiwilliger“ eine Rolle noch beim Einkauf von Elektronik, Munition, Drohnen und Raketen im Ausland. Der Regierungsumbau im Frühling unterstützt das noch. Der neue Verteidigungsminister Andrej Beloussow ist ein hoch angesehener Wirtschaftsfachmann, der den Krieg effizienter machen soll. Schneller als westliche Partner der Ukraine modernisiert Russland seine Technik. Die teuren und schwer abzufangenden Raketen werden gezielt gegen zivile Infrastruktur eingesetzt. Und Putin hat erkannt, dass Flüchtlinge ein effektives Stresswerkzeug gegen den Westen sind. Deswegen muss damit gerechnet werden, dass Moskau eine neue Fluchtbewegung auszulösen versucht, um den Druck weiter zu erhöhen. Zumal er zwar militärisch Vorteile hat, aber noch eine Art Pattsituation herrscht.

Das UNHCR meldet inzwischen 3,5 Millionen Binnenflüchtlinge in der Ukraine. Und diese Zahl wird mit der jüngsten russischen Offensive auf Pokrowsk weiter steigen. Wie umfassend die Binnenflucht noch werden kann, sei seriös schwer zu schätzen, sag UNHCR-Sprecher Chris Melzer. Das Flüchtlingshilfswerk bereitet sich jedenfalls auf den dritten Kriegswinter vor. „Vor allem setzen wir mit lokalen Partnern Wohnraum wieder instand, damit die Menschen eine Bleibe haben“, so Melzer. Noch glaubt er nicht, dass viele Menschen ganz aus der Ukraine fliehen würden. Aber er macht auf ein Problem aufmerksam, das bedenklich klingt: „Es gilt hier wie in jeder Krisensituation: Wir sind völlig unterfinanziert.“ Die großen Fluchtbewegungen 2015 und 2016 aus Syrien und dem Irak hingen eng damit zusammen, dass die Menschen in den Flüchtlingslagern etwa in Jordanien nicht mehr versorgt werden konnten.

Kein Wunder, dass in Berlin die Alarmglocken läuten. Bis hinein ins Kanzleramt wird schon von zwei, drei, vier Millionen möglichen Flüchtlingen gesprochen, sollte die Front in der Ukraine tatsächlich zusammenbrechen. Es ist zu hören, dass Deutschland sich längst engagiert, um in Kooperation mit Baufirmen tausende Unterkünfte in der Westukraine zu errichten. Man will so auch verhindern, dass die ohnehin angespannte Lage in Deutschland durch mehr Schutzsuchende noch schwieriger werden könnte. Alle wissen: Tritt dieser Fall ein, sind viele aktuelle Haushaltsberechnungen Makulatur.

Keine echte Hoffnung bringt da eine UNHCR-Untersuchung vom Anfang dieses Jahres. Sie zeigt zwar, dass aktuell eine Mehrheit der nach Europa geflüchteten Ukrainer gerne zurückkehren würde. Doch die Sicherheitslage halte sie schon jetzt davon ab. Im August waren europaweit knapp 6,2 Millionen ukrainische Geflüchtete erfasst. In Deutschland sind es derzeit gut 960.000. Seit Februar 2022 sind rund 197.000 Personen wieder ausgereist, teil das Bundesinnenministerium auf Anfrage mit. Wohin, ist unklar.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
Teilen
Kopiert!