Von Thomas de Maizière stammt die Erkenntnis, dass es nach einer verlorenen Wahl Wochen dauert, bis man das Ergebnis nicht mehr für total ungerecht hält und die wahren Gründe für die Niederlage ausfindig machen kann. So gesehen ahnt man, wie sich die Grünen mit Robert Habeck gerade fühlen. Und man kann zu dem Ergebnis kommen, dass sie gar nicht so falsch liegen, wenn sie sich für die Analyse ihrer Pleite noch ein paar Wochen Zeit geben. Zumal sie dabei ein besonderes Rätsel lösen müssen: wie es passieren konnte, dass sie zum Start in den Wahlkampf gleichzeitig als zu pragmatisch und zu dogmatisch empfunden wurden. Die Antwort wird auf sich warten lassen.
Denn die Hoffnung aufs Regieren – und sei es in einer Kenia-Koalition – war so stark, dass es dauern wird, bis die Grünen das Scheitern verdaut haben. Die Realität ist nicht besonders attraktiv; zwischen Linken und AfD müssen sie ihre Oppositionsrolle erst noch finden. Die einen verlangen eine Korrektur des pragmatischen Kurses, den sie für die Verluste an die Linkspartei verantwortlich machen. Die anderen wollen die Habeck’sche Idee einer gesellschaftlichen Bündnispolitik in eine konstruktiv-kritische Oppositionsarbeit überführen.
Doch was harmlos klingt, birgt aus Sicht der Parteispitze eine große Gefahr: dass die alten Flügelkämpfe wieder aufbrechen. Im ungünstigsten Fall hieße es, dass die Linken und die Realos einfach mal aufschreiben, was sie immer schon für richtig gehalten haben, um dann die entsprechenden Belege im Verlauf des Wahlkampfs zu suchen. Die Sorge vor einer solchen Zerreißprobe ist groß; der Wille, das zu verhindern, ist es auch. Viel hängt an der Aufarbeitung des Wahlergebnisses. Für sie hat sich die Parteiführung bis Anfang/Mitte April Zeit gegeben. Dann soll ein erweiterter Länderrat final einordnen und bewerten. 2021 war das weitgehend ausgeblieben; dieses Mal darf das nach Überzeugung vieler nicht passieren. Im kommenden Jahr stehen heikle Landtagswahlen an, unter anderem im grünen Herzland Baden-Württemberg.
Absolute Einigkeit herrscht flügelübergreifend derzeit nur an einer Stelle: Klima- und Umweltschutz müssen Schwerpunkte bleiben. Absehbar ist für die Grünen, dass die Union (und sehr wahrscheinlich auch die SPD) bei diesen Themen ambitionslos bleiben. Das auf kurze Sicht größte Problem ist ein anderes. Es gibt nicht mehr viele wichtige Posten zu vergeben. Um vorerst für Ruhe zu sorgen, hat die Bundestagsfraktion ihren geschäftsführenden Fraktionsvorstand erstmal bestätigt. Doch Britta Haßelmann und Katharina Dröge sind nur bis zur Bildung einer neuen Regierung gewählt. Danach steht eine weitere Abstimmung an. Wer dann was werden soll – darüber reden die Grünen dieser Tage intern viel. Und auch hier gibt es mehrere Denkschulen. Für die einen sollen es jene werden, die am meisten strahlen. Denn die Aufmerksamkeit, die die Grünen noch bekommen, werde gering sein. Die anderen blicken eher nach innen und plädieren dafür, die zu versorgen, die sich in harter Regierungszeit verdient gemacht haben.
Das Problem daran: Auch hier droht die alte Flügellogik wieder alle Entscheidungen zu überlagern. Als wahrscheinlich gilt, dass Annalena Baerbock nach dem Fraktionsvorsitz greifen wird. Einige Grüne sind sogar verwundert, dass sie das noch nicht sofort getan hat. Aber wie hätte sie? Noch ist sie in ihrer Funktion als Außenministerin gebunden. Dröge hat gute Chancen, den linken Teil der Doppelspitze zu bilden. Offen ist die Zukunft von Haßelmann, sollte Baerbock tatsächlich antreten. Nicht gänzlich unwahrscheinlich ist in diesem Fall, dass die Bielefelderin als Bundestagsvizepräsidentin kandidiert – und in einen offenen Wettbewerb mit Katrin Göring-Eckardt gerät, der sie einst als PGF treu gedient hat. KGE hat prompt in der Thüringer Allgemeinen unter Verweis auf ihre ostdeutsche Herkunft schon mal ihren erneuten Anspruch untermauert. Denkbar ist auch, dass Haßelmann in ihre frühere Rolle als Erste PGF zurückkehrt, dann aber bräuchte man einen adäquaten Job für die Amtsinhaberin Irene Mihalic.
Ein anderes Rätsel hat sich fürs Erste gelöst: Habeck erklärte am Nachmittag via Instagram, dass er sein Bundestagsmandat annehmen wird. Er bleibt den Grünen also im Parlament erhalten – und bedankte sich bei mehr den Unterstützern einer Unterschriftenkampagne, in der er zum Bleiben aufgefordert wird – mehr als 350.000 waren es bis Redaktionsschluss von Table.Briefings. Einen wird das erstmal besonders freuen: Cem Özdemir. Der Noch-Bundeslandwirtschaftsminister, der 2026 in Stuttgart MP werden will, möchte Habeck unbedingt in seinem eigenen Wahlkampf in Baden-Württemberg einsetzen. „Er ist ein toller Typ. Ich mag ihn als Mensch“, sagte Özdemir Table.Briefings. Als Bundesvorsitzender habe Habeck „eine ganz wichtige Rolle dabei gespielt, die Grünen zu öffnen. Davon haben wir einen Teil verloren.“ Daran müsse die Partei nun wieder anknüpfen. Özdemirs Forderung im Table.Today Podcast: „Wir sind gut beraten, dass Habeck eine wichtige Rolle spielt.“ Angesichts der vielen Neueintritte sei dies enorm wichtig. „Er ist ein Sympathieträger. Viele der neuen Mitglieder sind wegen ihm eingetreten.“ Zur Kritik an Habecks Wahlkampf sagte der Bald-Wahlkämpfer: „Es ist sehr gut, dass Robert Habeck bei all dem Druck auf einen Kurs der Vernunft gesetzt hat.“