Es steht außer Frage, dass Friedrich Merz unbedingt Kanzler werden wollte. Aber es spricht auch sehr viel dafür, dass spätestens seit dem Wahltag alles anders ist, als er es sich vorgestellt hat. Als erste Reaktion vollzog er binnen weniger Tage einen spektakulären Kurswechsel. Und er muss angesichts der dramatisch veränderten Mehrheiten mit der SPD Kompromisse schließen, die fast allem widersprechen, was er zuvor vertreten hat. Einen Politikwechsel hatte er versprochen; ein Weiterwurschteln steht zu befürchten. Die Folgen können niemanden überraschen. Immer mehr Anhänger schäumen, weil sie an sein Wort glaubten. Und die Gegner, vor allem in der AfD, wiederholen wieder und wieder den Vorwurf, er habe einen schweren Wahlbetrug begangen. Noch bevor er ins Kanzleramt einziehen kann, holt ihn eine Wirklichkeit ein, die der Wahlkämpfer Merz partout ignorieren wollte.
Wirklichkeit Nr 1: der Weg in den Wahlbetrug. Die Entscheidung, das Billionen-Euro-Paket zu beschließen, ist dabei weniger das Problem. Die Weltlage mit Donald Trump und Wladimir Putin lassen einen großen Aufschlag für Verteidigung, Sicherheit und Resilienz der Gesellschaft nahezu zwingend erscheinen. Das Problem begann vorher. Obwohl Merz schon im Sommer 2024 die Notwendigkeiten ahnte und ganz vorsichtig eine Reform der Schuldenbremse andeutete, stemmte er sich im weiteren Verlauf nicht genug gegen den Druck, sich doch mit einem Ja oder Nein zu positionieren. Der Grund: Die FDP wollte ihr Nein zu jeder Reform der Schuldenbremse zu ihrem Alleinstellungsmerkmal machen. Und Merz musste fürchten, dass das wirken würde. Aus Angst vor einer FDP also, die ihn bei einem Erfolg auch danach fesseln würde, verzichtete er darauf, offen über die Lage zu sprechen. Stattdessen versicherte er auch den eigenen Leuten, dass Änderungen wenn überhaupt nur am Ende eines Sparkurses stehen könnten.
Wirklichkeit Nr. 2: das Gewicht der Grünen. Merz spürte natürlich, dass die Grünen nach dreieinhalb Jahren Ampel schwer in der Kritik standen, vor allem in der Union. Deshalb gab er im Wahlkampf dem Trend nach, sich immer weiter von ihnen zu distanzieren. Zugleich wusste er genau, dass die SPD als einziger Koalitionspartner hochheikel werden würde. Und er wusste erst recht, dass Markus Söders Grünen-Bashing zu weit ging. Trotzdem ließ er sich von Söder treiben, statt ihm Paroli zu bieten. Und was kam dann? Ein Wahlergebnis, das ihm eine grüne Koalitionsalternative nahm und ihn fürs große Finanzpaket trotzdem mit den Grünen zusammenzwang. Aus Angst vor den Freien Wählern hatte Söders Rhetorik gesiegt – und lässt Merz jetzt auch gegenüber den eigenen Leuten besonders hilflos aussehen.
Wirklichkeit Nr. 3: die Belastung aus dem Sondierungspapier. In direktem Zusammenhang zum Finanzpaket hat sich Merz die Zustimmung vor allem der eigenen Leute mit Zusagen geholt, die ihm schwer auf die Füße fallen können. So hat die künftige Koalition quasi zu Beginn der Verhandlungen schon mal eine Mütterrente und eine höhere Pendlerpauschale versprochen, dazu die Rückvergütung beim Agrardiesel und die Senkung der Gastro-Steuer. Statt im Kernhaushalt demonstrativ zu sparen, wird der durchs Finanzpaket entstandene Spielraum für weitere Versprechen genutzt. Für Merz wird das bedrohlich; seine Glaubwürdigkeit als entschlossener Sparer steht auf dem Spiel. Will er seine Glaubwürdigkeit retten, droht ihm mit den Bauern, mit den Gastwirten und mit Markus Söder massiver Ärger. In dieses Dilemma hat er sich selbst gebracht. Hellhörig muss ihn machen, dass selbst jemand wie der ihm loyale Wolfgang Bosbach öffentlich Alarm schlägt.
Wirklichkeit Nr. 4: Merz braucht die SPD – und kann ihr kaum entgegenkommen. Nach gut vier Wochen Verhandlungen ist von Anfangsschwung wenig, von wachsendem Ärger aber viel zu spüren. Merz wollte dieses Mal alles schneller und unkomplizierter verhandeln. Mittlerweile hängt er in den üblichen Detailgesprächen fest, die er vermeiden wollte. Die Folge: Weder Merz noch Lars Klingbeil verhandeln noch aus einer Position der Stärke. Beide müssten eigentlich großzügig sein angesichts der Lage des anderen – und können genau das kaum mehr machen. Merz steht unter dem Druck immer schlechterer Umfragen und immer lauterer Kritik; Klingbeil muss angesichts des schlechten Wahlergebnisses um das Ja der Basis fürchten. Beide sind in einer prekären Lage; beide wissen, dass sie eine Regierung bilden müssen. Und beide sind gezwungen, unter diesem Druck Zugeständnisse zu machen, die weiter reichen als alles, was ihre Vorgänger in früheren Koalitionen beschließen mussten.
Wirklichkeit Nr. 5: Wann erkläre ich mich dem eigenen Vorstand? Dass Merz für diesen Montag die Vorstandssitzung seiner Partei abgesagt hat, bringt ihm großen Ärger ein. Gerade jetzt, da die AfD fast gleichauf ist mit der Union, sehnen sich Führungskräfte nach Ideen und Perspektiven, wie sie dem begegnen sollen. Im Augenblick wissen sie nur, was ihnen wehtut: das Finanzpaket ohne großes Narrativ und große Begründung, dazu zähe Verhandlungen, die bis jetzt außer Durchhalteparolen wenig Kraft geben. Bislang ist das Merz’ größte Schwachstelle. Er bietet weder Freund noch Feind eine Begründung oder gar größere Erzählung, mit der er andere von seinem Tun überzeugen könnte. Solange Merz keine Ergebnisse hat und auch keine Erzählung, ist deshalb eine solche Sitzung mehr Gefahr als Chance. Ja, Merz könnte seine Abwägungen schildern. Aber alle wissen, dass auch der CDU-Vorstand kein geschützter Raum mehr ist. Er gewinnt mit der Absage wenig; aber auch mit einem Auftritt wäre für ihn wenig zu holen gewesen. Eine No-Win-situation.