Berlin.Table: Herr Kellner, wie anders ist Ihr Leben im neuen Amt?
Kellner: Es ist gerade in diesen Zeiten eine hohe Verantwortung. Es sind noch viel, viel mehr Termine unter der Woche. Und es ist noch mal viel hektischer geworden. Entgrenzte Tage, kann man sagen. Aber ich bin sehr froh und dankbar, dass ich diese wichtige Aufgabe wahrnehmen darf. Weggefallen ist dagegen das, was in einer Partei normal ist: Das viele Arbeiten am Wochenende, oft kreuz und quer durch die Republik.
Sie entscheiden plötzlich über sehr konkrete Schicksale. Ist das schön, weil man Einfluss spürt? Oder schwer, weil Verantwortung auf einem lastet?
Freude oder Spaß wären die falschen Wörter. Es ist sinnstiftend, weil ich stärker als in meinem früheren Job real etwas verändern und mitgestalten darf. Ich streite mich nicht nur um eine Formulierung auf dem Parteitag – auch wenn ich das überhaupt nicht lächerlich machen möchte. Sondern ich kann die umstrittene Formulierung auch mit Leben füllen und umsetzen – das ist was Erfüllendes. Zugleich frage ich mich immer wieder: Machen wir das Richtige? Reichen die Entscheidungen aus?
Hauptziel des Ministeriums ist der ökologische Umbau. Wie schwer ist das in Kriegszeiten?
Im letzten Jahr waren wir in einer sehr ernsten Lage und es war nicht vorhersehbar, wie gut wir durch den Winter kommen. Wir waren zurückgeworfen auf ganz einfache existenzielle Fragen: Frieren die Leute nachts im Winter in ihren Wohnungen? Können Unternehmen produzieren? Das war und ist eine riesige Herausforderung. Zugleich haben wir an vielen Stellen begonnen, das Energiesystem umzubauen. Bei allen Schwierigkeiten – wir kommen voran.
Aber an manchen Stellen hat es schon sehr gehakt. Bei der Laufzeitverlängerung hatte man das Gefühl: Jetzt wird es für die Grünen gefährlich. Ebenso bei Lützerath.
Es gibt unterschiedliche Rollen und es wurde hart diskutiert innerhalb der Regierung und innerhalb der Partei. Es wäre auch überraschend, wenn es anders wäre. Aber insgesamt gibt es eine unglaublich hohe Geschlossenheit, vor allem, wenn man die Partei als Ganzes betrachtet.
Jetzt reden Sie sich das aber arg schön.
Nein, das tue ich nicht. Klar gibt es Debatten und Konfliktpunkte. Aber überwölbend ist der Wunsch da, zu regieren und zu gestalten – und alle wissen, dass wir jetzt die Chance dazu haben. Ich habe als Büroleiter von Claudia Roth die Endphase von Rot-Grün miterlebt. Wenn man das vergleicht, sieht man heute eine viel größere Geschlossenheit. Darüber bin ich sehr froh.
Nochmal: Bei Lützerath fragt man sich schon, wann die Beziehung kippt zwischen denen in Berlin mit ihrem Pragmatismus – und jenen in Lützerath und anderswo, die das als Provokation erleben.
Ich tue mich schwer damit, Lützerath als Beispiel zu nehmen. Aus folgendem Grund: Für mich ist das, was wir in Nordrhein-Westfalen geschafft haben, ein Muster dafür, wie es überall laufen sollte. Ein früheres Ende der Kohleverstromung und zugleich der Einstieg in ein neues Energiesystem. Ich bin Brandenburger Bundestagsabgeordneter, und wenn ich nach NRW schaue, dann würde ich mir dringend wünschen, uns gelänge das Gleiche in Ostdeutschland.
Sie müssen sich nichts wünschen, Sie können als Regierung handeln. Oder warten Sie einfach darauf, dass der steigende CO2-Preis die Kohle aus der Lausitz aus dem Markt drängt?
Einfach auf einen steigenden CO2-Preis zu setzen würde bedeuten, das dortige Unternehmen, die Leag, gegen die Wand fahren zu lassen. Und das halte ich überhaupt nicht für klug. Zum einen, weil dann der Staat auf den Folgekosten des Braunkohleabbaus sitzen bleiben würde. Und zum anderen, weil ich davon überzeugt bin, dass wir die Leag für den Einstieg in die neue Energiewelt brauchen. Auf die großen Braunkohlekraftwerke müssen moderne, wasserstofffähige Gaskraftwerke folgen – und dafür braucht es Investitionen. Deswegen ist ein geregeltes Verfahren besser – auch für die Beschäftigten und die Region.
Die Leag scheint nicht bereit zu sein, ohne Gegenleistung früher aus der Kohle auszusteigen.
Die Frage, wie lange Braunkohlekraftwerke noch profitabel sind, treibt auch die Leag um. Die Perspektive, an den bestehenden Standorten und mit bisherigen Beschäftigten künftig moderne Gaskraftwerke zu betreiben, dürfte für das Unternehmen durchaus attraktiv sein. Der Osten hat doch schon jetzt einen großen Standortvorteil: jede Menge grüne Energie, vor allem durch Wind. Es wäre absurd, wenn er sich jetzt den Ruf einhandeln wollte, doch wieder nur am Alten festzuhalten. Erneuerbare Energien sind längst zum Standortvorteil geworden, das zeigen gerade auch die jüngsten großen Ansiedlungen in Ostdeutschland.
Bislang gelingt das nicht so wie erhofft. Stattdessen zieht die AfD ihren Nutzen aus der Krise.
Es gibt einen Vertrauensverlust in die Politik. Und der trifft alle demokratischen Parteien. Egal, welche Partei Verantwortung trägt. Diesen Vertrauensverlust gibt es meines Erachtens in Gesamtdeutschland. Er ist nur in Ostdeutschland und in manchen Regionen stärker als in anderen.
Und wie wollen Sie das angehen?
Dadurch, dass die Menschen sehen, dass etwas konkret vor Ort passiert. Die Lausitz ist ein wunderbares Beispiel. Ich war letztes Jahr bei einer großen DGB-Konferenz in Cottbus. Und alle waren überrascht, weil die Stimmung gut war. Warum? Weil die Versprechen Wirklichkeit werden. Wenn Sie in Cottbus am Bahnhof aussteigen, dann sehen Sie: Da wird ein neues Bahnwerk gebaut. Auch in Schwarzheide bei BASF kann man diese riesigen neuen Anlagen sehen, mit denen Kathoden hergestellt werden. Die Menschen merken: Es bewegt sich was. So kann man Vertrauen zurückgewinnen.
Aber erst mal haben Sie stillgelegte Kohlekraftwerke wieder hochgefahren.
Das tat mir als Ökologe natürlich weh. Aber es war nötig, da Russland seine Gaslieferungen erst vertragswidrig reduziert und schließlich ab Anfang September ganz eingestellt hat. Wir haben deutlich vor Augen geführt bekommen, wie gefährlich einseitige Abhängigkeiten sind.
Inzwischen ist klar, dass es diesen Winter keine Gasmangellage gibt. Könnten die Kohlekraftwerke nicht wieder vom Netz gehen?
Wir haben durch konsequentes Handeln die Lage beherrschbar gemacht, und viele Menschen haben mitgeholfen, Energie zu sparen. Wir hatten einige kalte Wochen im Dezember, aber sonst war der Winter bislang eher mild. Aber der nächste Winter kommt, und daher dürfen wir in unseren Anstrengungen nicht nachlassen. Wir haben gesehen, wie abrupt sich Situationen ändern können. Darum ist es wichtig, auch für den nächsten Winter noch Reserven zu haben.
Braucht Deutschland so viele LNG-Terminals wie vorgesehen?
Wir tragen die Verantwortung für eine sichere Energieversorgung. Und dafür müssen wir zweierlei tun. Wir sind klug beraten, mit einem Sicherheitspuffer zu planen. Und wir haben auch eine Verantwortung für Länder wie Tschechien oder Ungarn, die keine eigenen Terminals bauen können und darum auf Lieferungen auch aus Deutschland setzen. Darum ist es richtig, dass wir jetzt die Infrastruktur für die schwimmenden Terminals aufbauen. Wie viele feste Terminals am Ende gebraucht werden, wird man sehen.
Großen Streit in der Koalition gibt es derzeit bei der Planungsbeschleunigung. Warum kommen Grüne und FDP da nicht zusammen?
Wir haben tatsächlich das Problem in Deutschland, dass Planung und Genehmigung oftmals viel zu lange dauern. Das liegt an mühsamen Genehmigungsverfahren, aber auch an fehlenden Personalressourcen. Wenn man da etwas ändern will, ist es wichtig, schnell klare Prioritäten zu setzen. In den Koalitionsverhandlungen waren wir uns einig, dass die Priorität auf dem Umbau des Energiesystems und bei der Modernisierung bestehender Infrastruktur liegen soll.
Die FDP will auch den Autobahnbau beschleunigen – und verweist dabei auf das Interesse der Wirtschaft.
Haben wir einen Mangel an Autobahnen in unserem Land? Ich habe nicht den Eindruck. Prioritäten zu setzen heißt eben, sich auf die wichtigen Dinge zu konzentrieren. Wenn wir sagen, alles ist gleich wichtig, bleiben wir beim Trödeltempo.
Und wie könnte der Konflikt gelöst werden?
Wir haben sehr gute Argumente. Und ich vertraue auf die gemeinsame Weisheit, dass es wie in den Koalitionsverhandlungen gelingt, Kompromisse zu finden.
Die erste Bilanz der Wirtschaft, also des BDA und des BDI, sind mit Blick auf das Wirtschaftsministerium gemischt ausgefallen. Wie würden Sie das Verhältnis beschreiben?
Es gibt nicht die Wirtschaft. Was ich erlebe, ist eine große Bereitschaft, mit uns zusammenzuarbeiten. Viele Unternehmen wollen die Klimaziele von Paris erreichen, viele wollen sich modernisieren. Und viele sind weiter, als man denkt. Noch in den Neunziger-Jahren galten in Unternehmen Themen wie Nachhaltigkeit und Klimaschutz als Orchideenthemen, die man vernachlässigen konnte. Das ist vorbei. Aber es gibt einen zweiten Teil, der uns klar sagt: Wir müssen uns jetzt erst mal um die aktuellsten Krisen kümmern, wir müssen Transformation und Klimaschutz ein Stück zurückstellen. Diese Stimmen sind zuletzt lauter geworden.
Ist das nicht verständlich?
Doch, einerseits schon, weil für uns alle das letzte Jahr eine riesige Herausforderung war. Aber die Pointe bei all dem ist: Aus dieser kriegsbedingten Krise kommen wir nur raus, wenn wir den Umbau zu den Erneuerbaren und zum Klimaschutz beschleunigen. Da geht es um Investitionen in Zukunftsenergien und um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Hier gibt es unterschiedliche Auffassungen und Konflikte; hier ist noch mal eine Debatte entbrannt. Zwischen denen, die den Wandel schnell angehen wollen – und jenen, die sagen: Nein, es geht nicht so schnell, lasst uns Zeit, wir haben jetzt genügend andere Herausforderungen. Nach meinem Eindruck sind da noch mal Debatten aufgebrochen, die es vor dem Krieg so nicht mehr gab.
Hat der Clash mit Russland alles gebremst – oder beschleunigt er jetzt alles?
Ich will nicht zynisch klingen: Keiner von uns hat sich das gewünscht. Und dieser schreckliche Krieg lässt einen immer noch fassungslos zurück. Aber die Krise im letzten Jahr hat auch gezeigt, was möglich ist, wenn die Lage ernst ist. Zumal wir sehr harte Entscheidungen gegen den ökologischen Pfad treffen mussten, die mir weh tun. Zum Beispiel Kohlekraftwerke kurzfristig wieder ans Netz zu nehmen. Das war alles andere als eine schöne Entscheidung. Ich war zuletzt bei einem Unternehmen, das mir stolz vorgeführt hat, wie es seit Neuestem im großen Stil Photovoltaik und Biogas nutzt. Auch, weil die Politik es von Abgaben befreit hat, wenn es den Strom selbst erzeugt und verwendet. Wunderbar. Was ich sagen will: Es gibt einen Teil in der Wirtschaft, der sagt: Ja, aus dieser Krise hilft uns nur die Transformation.
Wie heikel ist bei all dem die neue, deutlich kritischere China-Strategie des Wirtschaftsministeriums?
Schon seit Jahren läuft in der deutschen Wirtschaft eine streitige Debatte über China. Das ist also nicht neu. Ich erinnere mich an ein Positionspapier des BDI, das unglaublich kritisch war. Entsprechend große Wellen hat es geschlagen. Gute Kaufleute wissen, dass es nicht schlau ist, sich einseitig zu abhängig zu machen. Quasi alles Geld auf ein einziges Pferd zu setzen. Dazu haben viele bei Corona gelernt, wie verwundbar vermeintlich stabile Beziehungen sind. Ich erlebe viele, die sagen: Ja, wir müssen diversifizieren. Und na klar: Wir brauchen dafür ein bisschen Zeit.
Fürs Diversifizieren braucht man andere Märkte: Afrika, Südamerika. Und dann stellt man fest: Auch da sind die Chinesen schon. Wie wollen Sie darauf antworten?
Es geht hier um zwei Dinge. Das eine sind die Vorprodukte. Wie kann ich Rohstoffe diversifizieren? Woher kriege ich Zulieferungen? Da erlebe ich einen großen Wunsch aus der Wirtschaft, dass man sich breiter aufstellt. Das gilt auch für Neuansiedlungen, beispielsweise von Batteriefabriken in Deutschland und Europa. Und dann ist die Frage: Wo erschließen wir uns neue Absatzmärkte? Da ist China ein wichtiger Markt, allein wegen seiner Größe. Andere Regionen haben wir bislang einfach vernachlässigt, was wir nicht länger tun sollten. Afrika, Südamerika, vor allem auch Indien. Und ja, das muss das Wirtschaftsministerium unterstützen.
Was heißt das angesichts der Tatsache, dass China auf diesen Märkten längst agiert?
Ich glaube, dass in Afrika die Begeisterung für China sehr stark nachlässt, weil die Menschen dort sehen, dass China die Investitionen wie ein neokoloniales Instrument nutzt. Aber ja, wir müssen gerade den afrikanischen Kontinent viel stärker in den Blick nehmen. Besonders für unsere mittelständische Wirtschaft ist Export am Anfang schnell ein Risiko. Also haben wir Exportversicherungen geschaffen auch für Umsätze unterhalb von zehn Millionen Euro. Für Daimler oder BASF ist das irrelevant. Aber nicht für viele kleine Weltmarktführer mit Spezialprodukten. Um die kümmern wir uns. Das löst nicht alle Probleme, aber es ist ein wichtiger Beitrag. Und genau so müssen wir vorgehen. Nicht „one fits all“, sondern verschiedene gute Instrumente, die wirken.