Es geht um die Schuldenbremse, die Ukraine, um den Bürokratieabbau, den er „Arbeit im Unterholz“ nennt, um den Verteidigungsetat, die Rente – und immer wieder um das Thema Arbeit und Arbeitsplätze. Olaf Scholz ist nach Wolfsburg gekommen, zur ersten „Highlight“-Wahlkampfveranstaltung der SPD. VW prägt die Stadt, im Guten wie im Schlechten. Derzeit ist der Konzern in der Krise, der kollektive Aggregatzustand ist also eher schlecht. Aber die 1.500 Sympathisanten und Neugierigen sind dem Kanzler wohlgesonnen, nur einige lautstarke Kritiker des Israel-Einmarsches in Gaza stören die gefällige Stimmung.
Der Kanzler spricht frei, anders als neulich beim Parteitag, wo ihm der Teleprompter den Text vorgab. Und man kann sagen, er macht einen durchaus gewinnenden Eindruck. Ähnlich wie ein paar Tage zuvor beim Bürgergespräch in Chemnitz und davor in Lünen, Münster oder anderswo. Und weil er in den kleinen Formaten überzeugender ist als in den großen, haben ihm seine Strategen bis zum 23. Februar noch Dutzende von Bürgergesprächen und Townhall-Veranstaltungen verordnet.
Der Kanzler ist auf Tour. Er will Kanzler bleiben.
Rund 15 Prozent beträgt der Abstand zur Union und Herausforderer Friedrich Merz. Ist das aufzuholen in den 35 Tagen bis zum Wahltag? Nein, sagen Meinungsforscher, ohne äußere Einflüsse oder gravierende Fehler der Herausforderer sei diese Differenz in der kurzen Zeit nicht mehr wettzumachen. Trotzdem werfen sich die Genossinnen und Genossen unverdrossen in den Wahlkampf, und auch der Kanzler hat sich in den Tunnel der Zuversicht begeben, den jeder Wahlkämpfer kennt, selbst wenn die Sache aussichtslos erscheint.
Woran es hapert, war am Freitag in Wolfsburg und neulich auch schon beim Parteitag zu besichtigen. Etwas abrupt kommt Scholz in Wolfsburg auf den Bundeshaushalt zu sprechen, der nicht zustande gekommen sei: „Deshalb habe ich die FDP aus der Regierung entfernt.“ Lauter, spontaner Beifall, so laut und spontan, wie an keiner anderen Stelle seiner Rede. So war es schon beim Parteitag sechs Tage zuvor. „Vielleicht hätte ich die Koalition früher beenden sollen“, hatte er da gesagt, „spätestens als sich letzten Sommer abzeichnete, dass die FDP nicht mehr konstruktiv sein will.“ Tosender Beifall. Es war der Moment, in dem der Kanzlerkandidat in vollem Umfang die Sehnsucht seiner Partei erfüllte. Endlich einmal, in Inhalt und Emotion. Das kam nicht oft vor in den vergangenen Monaten.
Die zwei Szenen sind aber auch Beleg für die Bedürfnisse der Partei, ja der ganzen Gesellschaft. Die Sehnsucht nach Handlung und Führung. Wahl- und Gesellschaftsforscher überall im Land können es bestätigen: In Zeiten erhöhter Verunsicherung und zunehmender Orientierungslosigkeit ist das Bedürfnis nach Führung und Autorität besonders ausgeprägt. Führung und Autorität, die der Kanzler kommunikativ und im Handeln über Monate hatte vermissen lassen, jedenfalls in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit.
Ja, es hatte gute Gründe gegeben, an der Koalition festzuhalten. Olaf Scholz wollte das Bündnis unbedingt retten, „aus Verantwortung für unser Land“, wie er auf dem Parteitag sagte. Ganz sicher aber auch, weil die eigenen Umfragewerte bleischwer im Keller hingen, er sie aufpolieren wollte bis zur Wahl und dafür Zeit benötigte. Und so geriet ihm aus dem Blick, dass das Bündnis längst – ehrlicherweise seit dem Spätsommer 2023 – nicht mehr zu retten war.
Andere Fehlannahmen inhaltlicher Art kommen hinzu. Mit ihnen hadert Scholz in stillen Stunden und kleinen Runden umso mehr. Er, der für sich in Anspruch nimmt, die Dinge früher als andere „sehr präzise“ zu bearbeiten, „sehr sorgfältig“ zu analysieren und auch mögliche Lösungen „sehr gründlich“ zu durchdenken, muss sich vorhalten lassen, dass er sich an entscheidenden Stellen geirrt hat. Dass er sich lange gegen die von seiner Fraktion und Partei geforderte Strompreisbremse für energieintensive Betriebe gewehrt hatte, gehört dabei zu den kleineren Versäumnissen.
Schwerwiegender wiegen andere Fehleinschätzungen: Er hatte, anders als sein Finanzminister, nicht mit dem Karlsruher Urteil zur Schuldenbremse gerechnet und auch die massiven Folgen nicht abgesehen. Der Sparzwang traf die Regierung umso überraschender. Er hatte die Probleme der deutschen Wirtschaft zu lange öffentlich kleingeredet, die gravierenden Strukturprobleme auch selbst zu spät erkannt. Vor allem aber hatte er sich in Koalitionspartner Christian Lindner getäuscht. Eineinhalb Jahre lang hatte er geglaubt, dem Chef-Liberalen noch Brücken bauen, die Regierung so bis zum Ende zusammenhalten zu können. Im letzten Moment, kurz bevor die FDP zum Abpfiff schreiten wollte, beendete er selbst das Spiel. Nur so lässt sich auch der für ihn eher ungewöhnliche Ausbruch am Abend des Koalitionsbruchs am 6. November und der zornige Auftritt später im Bundestag erklären.
Es nagt an ihm, dass ihm, dem Profi, diese Fehler unterlaufen sind. Dem Profi, der immer glaubte, Prozesse besser einschätzen zu können und deshalb viele Ratschläge zur Seite gewischt hat. Nicht nur, dass er auf die koalitionären Verwerfungen, die in Form von Junktims und Blockaden ausgetragen wurden und auf Arbeitsebene in den Fraktionen längst Spuren hinterlassen hatten, viel früher hätte reagieren müssen. Dass er auch die Bemühungen seines Kanzleramtsministers, das Bündnis irgendwie zu retten, hätte ignorieren müssen.
Er weiß inzwischen, dass es ein Fehler war, beharrlich an die Kraft der Vernunft zu glauben und deshalb Fragen der Kommunikation und der gefälligen Übersetzung oft vernachlässigt zu haben. Und er ahnt schließlich, dass er auch der kollektiven Erwartung hätte Rechnung tragen müssen, die sich in dem Satz verbirgt, der ihn nie mehr losgelassen hat: „Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie auch.“ Die Formel stammt aus dem Jahr 2009, sie fiel damals in Hamburg, wiederholt hat er sie nur selten, sich gewehrt dagegen aber auch nicht. Nun fällt ihm der Satz erbarmungslos auf die Füße, denn gerecht wurde er dem Versprechen nur selten. Führung, Richtlinienkompetenz, Entscheidungsstärke – es sind Attribute, die nicht als Markenzeichen des Kanzlers Scholz in die Geschichtsbücher eingehen werden.
Nun kommt womöglich ein weiterer Irrtum hinzu. Ein Irrtum der Wahlstrategen. Der Glaube, man könnte mit den Themen Industriearbeitsplätze, Rente, Schuldenbremse, Wirtschaft und einem regierungsunerfahrenen Herausforderer die Wahl gewinnen. Ohne eine begleitende Erzählung, ohne jede emotionale Ansprache, ohne Übersetzung, wie sich dadurch der Alltag der Wählerinnen und Wähler verbessert, ohne Idee, wie das Land in zehn Jahren aussehen soll.
Womöglich spürt der Kanzler auch das bereits. Öffentlich würde er es nie sagen, aber im kleinen Kreis macht er aus seinem Hader keinen Hehl. Die Aufmerksamkeit des Publikums, die öffentlichen Prioritäten, die mediale Begleitung der politischen Prozesse – im Grunde hält er die längst begonnene Bewertung seiner Amtszeit nicht für angemessen. Er hält Deutschland aus dem russischen Angriffskrieg heraus, ohne der Ukraine den Beistand zu verweigern; er hat kalte Winter verhindert, obwohl die Gasspeicher zu seinem Amtsantritt ratzeputz geleert waren; er hat Bürokratie zurückgeschraubt und Planungsprozesse entrümpelt, vieles geht unterdessen schneller und unkomplizierter als davor; er bietet einem unberechenbaren Donald Trump die Stirn, wenn der gegen alle Völkerrechtsparagrafen Grönland und Panama annektieren will; er verfolgt eine klare politische Linie – nur danken will es ihm keiner. So sieht es der Kanzler, und die ausbleibende Anerkennung, medial und in der Öffentlichkeit, beschäftigt ihn.
Da gerät die außenpolitische Welt aus den Fugen, eine in Teilen rechtsextreme Partei klettert in Deutschland in allen Umfragen auf stabile 20 Prozent, in halb Europa sitzen autoritäre, rechtsnationale, teils rechtsextreme Staatenlenker in den Regierungszentralen – und was passiert in Deutschland? In den Medien erfährt ein AfD-Parteitag mit teilweise abstrusen Beschlüssen und rechtsnationalen Auftritten mehr Aufmerksamkeit als ein SPD-Konvent, der ein aus seiner Sicht durchgerechnetes Programm verabschiedet. Eine fatale Fehlpriorisierung aus Sicht des Bundeskanzlers.
So hat er sich fünf Wochen vor der Wahl in einen Zustand manövriert, den erfahrene Sozialdemokraten im Willy-Brandt-Haus aus den Wahlkämpfen von Peer Steinbrück oder Martin Schulz kennen: Nicht mehr viele Wochen bis zum Wahltag, der Rückstand groß, die Nervosität wachsend, das bange Warten auf jede neue Umfrage, das ermüdende Hoffen auf Fehler der anderen, die Enttäuschung nach dem Warten, das Grübeln, ob es nicht ein Thema gibt, das doch noch die Wende einleiten könnte. Dazwischen arbeitet der Kandidat im Tunnelmodus seine Wahlkampftermine ab. Kleinere wie in Chemnitz oder Lünen, größere wie demnächst in Wiesbaden und Leipzig.
Klar ist auch: An der Partei liegt es nicht, wenn das Kanzleramt verloren geht. Klaglos haben die Genossinnen und Genossen die Entscheidung für Scholz mitgetragen – auch wenn sich viele Boris Pistorius als Kandidaten gewünscht hätten. Tapfer kleben sie landesweit die Plakate für ihren Spitzenmann. Minutenlang haben sie ihren Kanzler beim Parteitag gefeiert – auch wenn er rhetorisch kein Feuerwerk abgebrannt hat. Brav lobten ihn alle Redner in der Aussprache – auch wenn sich viele mehr Inhalt und Empathie gewünscht hätten.
Knapp fünf Wochen noch bis zur Wahl. Nun muss der Kanzler liefern. Es geht um alles oder nichts. Gelingt es nicht, kennt er die Spielregeln nur zu gut: Dann wird die Solidarität der Partei schlagartig vorbei sein. Es wäre nicht nur sein politisches Ende. Er wäre auch der erste Kanzler, der seine erste Wahl nicht bestätigen kann.