Analyse
Erscheinungsdatum: 08. November 2023

Der Kanzler, die Flüchtlinge und seine Hoffnung auf Migrationsabkommen

29.10.2023, Nigeria, Abuja: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nimmt neben Bola Tinubu, Präsident von Nigeria, an einer Pressekonferenz im State House teil. Scholz ist auf seiner dritten größeren Afrika-Reise in den knapp zwei Jahren seit seiner Vereidigung. Mit Nigeria besucht er nun das bevölkerungsreichste und wirtschaftsstärkste Land des Kontinents. Foto: Michael Kappeler/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Lange Zeit schien das Thema Migration für Olaf Scholz wenig Bedeutung zu haben. Es gab ja auch genügend anderes, den Ukraine-Krieg, die Energiekrise, überhaupt das Land. Das aber hat sich fundamental geändert; das zeigte sich auch in der Nacht von Montag auf Dienstag mit den Ministerpräsidenten. Ob der Kanzler die Lage in den Griff bekommt, ist aber vollkommen offen.

Schlechte Umfragewerte für die Ampel, heftige Berichte zur Lage aus den Kommunen, dazu deutliche Kritik aus den SPD-geführten Landesregierungen – es hat zwar eine Weile gedauert, aber inzwischen hat Bundeskanzler Olaf Scholz das Thema Migration und Flüchtlinge zu seinem gemacht. Das Wort Chefsache mag der Kanzler zwar nicht, aber richtig ist, dass der Chef in der Regierung die Zügel in die Hand nimmt. Das bekamen in der Nachtsitzung mit den Ministerpräsidenten auch Stephan Weil und Nancy Faeser zu spüren. Ob all das, was nun beschlossen und angekündigt ist, auch tatsächlich kommt, ist noch lange nicht sicher. Manches klingt zwar gut, dürfte aber schwer zu erreichen sein; anderes kann noch auf den politischen Protest der Fraktionen oder den Widerspruch der Gerichte stoßen.

Scholz hat in der Nacht mit den Ministerpräsidenten heikle Zusagen gemacht. Das gilt unter anderem für die Änderungen beim Asylbewerberleistungsgesetz. Bislang erhalten Asylbewerber maximal 18 Monate lang Geld aus diesem Topf; danach rutschen sie auf ein um 20 Prozent höheres Niveau. Diese Analogleistung entspricht dem klassischen Bürgergeld, und sie wird unabhängig davon bezahlt, ob das Verfahren schon beendet ist. Künftig werden die 18 Monate auf 36 verdoppelt. Es war eine Forderung der Union, um den Anreiz für die Flüchtlinge zu senken; Scholz erklärt, dass damit die Haushalte der Länder entlastet werden, weil sie das Geld für die Analogleistung aufbringen müssen. Am Ende steht trotzdem vor allem eines: dass die Asylbewerber weniger Geld erhalten. Zumal die Zahl 18 auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zurückgeht, das sich an der durchschnittlichen Verfahrensdauer orientierte. Es kann also passieren, dass die Gerichte diesen Weg schnell wieder blockieren.

Das könnte bei den Grünen noch zu heftigen Debatten führen. Die Sozialdemokraten haben sich, auch unter dem Druck ihrer Kommunalpolitiker, den Realitäten mehrheitlich bereits angenähert. Beleg war das Impulspapier von drei Mitgliedern der Parlamentarischen Linken, die vor wenigen Tagen mit dem Vorschlag überraschten, in sicheren Drittstaaten „Migrationszentren“ einzurichten, um dort langfristige Visa auszugeben, inklusive „anschließender Möglichkeiten der regulären und sicheren Einreise in die EU". Vor Monaten noch wäre ein solcher Vorschlag aus dem eher linken Parteispektrum kaum vorstellbar gewesen. Und doch wird es beim Parteitag Anfang Dezember natürlich Debatten geben – über die Guthabenkarte, Rückführungsabkommen oder die Zusammenarbeit mit autoritären Regimen.

Zumal entscheidende Fragen ungelöst bleiben. 80 Prozent der Migranten kommen derzeit aus Ländern wie Afghanistan, Syrien, Eritrea oder Somalia – Staaten, in die sich nicht abschieben lässt. Und sollte sich tatsächlich ein Land finden wie Ruanda, um dort Asylverfahren unter Aufsicht des UNHCR vorzunehmen: Würden denn deutsche Instanzen die Bescheide auch vorbehaltlos akzeptieren? Kaum vorstellbar in einem Land, das sich bisweilen selbst schwer tut, Urteile des Europäischen Gerichtshofes zu akzeptieren? Was aber, wenn die Klage laut wird, es würden zu viele Visa erteilt. Vor allem aber: Je höher die Zäune gezogen werden, desto gefragter sind wieder Schleuser. Deren Geschäfte man ja eigentlich austrocknen wollte.

Viele ungeklärte Fragen. Weshalb in der Nachtsitzung im Kanzleramt auch prominente SPD-Politiker wie Stephan Weil und Nancy Faeser Bedenken erhoben. Auch wenn Fachleute wie der Migrationsexperte Gerald Knaus die Idee promoten, Asylverfahren in Drittstaaten durchzuführen. Weil und Faeser hielten solche Verfahren bislang allenfalls in Transitstaaten wie der Türkei für möglich und vertretbar. Scholz ist in der Nacht mit den Ländern trotzdem über sie hinweggegangen und hat versprochen, die Idee zu prüfen. Der Kanzler könnte die Prüfung zwar ins Leere laufen lassen, aber das würden ihm die Unionsländer schnell als Bruch der Absprachen vorhalten. Will er diesen Vorwurf ob seiner Wirkung auf überlastete Kommunen vermeiden, muss er Faesers Innenministerium den Vorschlag also ernsthaft auf Machbarkeit untersuchen lassen.

Und an der Stelle wird es für Scholz kompliziert. Spätestens auf seiner jüngsten Afrikareise hat er lernen müssen, wie schwer Vereinbarungen mit Staaten wie Nigeria oder Ghana geworden sind, insbesondere dann, wenn man ihnen etwas abverlangt, ohne ihnen zugleich Attraktives anbieten zu können. Das galt bislang vor allem für Versuche, mit Staaten wie Tunesien und Marokko Rückführungsabkommen zu schließen. Außer Geld gab es nicht viel, was Berlin oder Brüssel ihnen hätte anbieten können. Die Folge: Bis heute ist daraus nicht wirklich viel geworden.

Und der Schluss liegt nahe, dass das noch schwieriger wird, wenn Staaten wie Ghana oder Ruanda dafür gewonnen werden sollen, in ihren Ländern Asylverfahren für die EU oder für Deutschland zuzulassen. Durchgeführt vom UNHCR, organisiert in ausländischen Einrichtungen, vor denen sich möglicherweise lange Schlangen oder sogar ganze Zeltlager bilden. Ein Grund, warum auch der Kanzler dieses Unterfangen für wenig aussichtsreich hielt.

Inzwischen aber hat er sich entschieden, auf sogenannte Migrationspartnerschaften zu setzen. Sie zielen im Kern darauf ab, dass Staaten einerseits abgelehnte Asylbewerber zurücknehmen und Deutschland oder die EU Menschen aus diesen Ländern über die Fachkräftezuwanderung zugleich einen legalen Weg nach Europa eröffnen. Scholz identifiziert sich mittlerweile fest mit dieser Idee, ob es nun um Verhandlungen mit Marokko und Tunesien oder Gespräche mit Nigeria oder Ghana geht. Deshalb spricht alles dafür, dass man den Prüfauftrag aus der Nacht mit dieser Idee verbindet. Einen Eingang für Fachkräftezuwanderung hier, einen Eingang für Asylverfahren dort.

Scholz kann sich an der Stelle viel vorstellen, vermutlich auch, um eine kleine Brücke zur CDU und ihrem Vorsitzenden Friedrich Merz zu schlagen. Zum „Schutz des gesellschaftlichen Friedens“, wie es im Kanzleramt heißt. Zugleich ist Scholz aber froh, dass er den Unionsfraktionschef für die geplanten Änderungen im Bundestag gar nicht braucht. Wäre es anders, liefe Scholz Gefahr, dass Merz mit zu harschen Forderungen oder verbalen Attacken das labile Gleichgewicht zwischen den Ampelfraktionen aus dem Lot bringt.

Scholz und Merz – das ist seit Beginn dieser Legislaturperiode ohnehin ein hochkomplexes, selten komplett giftfreies Verhältnis. Und daran wird sich wohl auch jetzt nichts ändern, da beide den anderen am liebsten ein bisschen, aber auf keinen Fall richtig dabei hätten. Bestes Beispiel dieses fast schon absurden Hin und Her war der Auftritt des CDU-Chefs am Dienstag und die Replik von Scholz am Mittwoch. Merz hatte es binnen weniger Minuten geschafft, den Deutschlandpakt Migration zu beerdigen, um kurz darauf zu betonen, dass seine Hand natürlich ausgestreckt bleibe. Prompt ließ Scholz am Mittwoch seine stellvertretende Regierungssprecherin ausrichten, dass der Kanzler das „sehr schade“ finde. Klar sei aber auch, dass niemand „zu konstruktiver Mitarbeit gezwungen“ werden könne. Seine Hand jedenfalls bleibe ausgestreckt.

Das Ergebnis: zwei ausgestreckte Hände, die sich partout nicht berühren.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
Teilen
Kopiert!