Analyse
Erscheinungsdatum: 26. Mai 2025

Der Kanzler, der Gaza-Krieg und Israel: Eine Kritik, wie es sie so noch nicht gegeben hat

Friedrich Merz bricht sein langes Schweigen und übt erstmals scharfe Kritik an Israels Offensive in Gaza – ein außenpolitischer Kurswechsel mit Signalwirkung.

Man kann davon ausgehen, dass Friedrich Merz mit diesem Schritt so lange gewartet hat wie nur irgend möglich. Am Montag aber war seine Geduld mit der Regierung von Benjamin Netanjahu offenbar ausgereizt. Nach Wochen des sorgenvollen Blicks und des heimlichen Kopfschüttelns hat sich der Kanzler entschieden, nun doch deutliche Kritik an der israelischen Kriegsführung in Gaza zu üben. Auf dem WDR-Europaforum in Berlin zeigte er sich so distanziert wie noch nie gegenüber Handlungen der israelischen Regierung. „Die Zivilbevölkerung derart in Mitleidenschaft zu nehmen, wie das in den letzten Tagen immer mehr der Fall gewesen ist, lässt sich nicht mehr mit einem Kampf gegen den Terrorismus der Hamas begründen“, sagte Merz.

Der Kanzler bemühte sich, an die besondere deutsche Rolle zu erinnern. Deutschland müsse sich mit öffentlichen Ratschlägen an Israel so weit zurückhalten wie kein zweites Land auf der Welt, so Merz. „Aber wenn Grenzen überschritten werden, wo einfach das humanitäre Völkerrecht jetzt wirklich verletzt wird, dann muss auch Deutschland, dann muss auch der deutsche Bundeskanzler dazu etwas sagen.“ Er hob die Partnerschaft zwischen Deutschland und Israel hervor, fügte zugleich aber hinzu, dass die israelische Regierung nichts tun dürfe, „was nun irgendwann ihre besten Freunde nicht mehr bereit sind, zu akzeptieren“.

Derartige Kritik eines deutschen Regierungschefs an der politischen Führung in Israel hat es so wahrscheinlich noch nie gegeben. Noch am Tag nach der Wahl hatte Merz zum Umgang mit Israels Premier erklärt, selbstverständlich wolle er ihn bald treffen. Er werde dabei auch Wege finden, ihn nicht in die Gefahr einer Verhaftung zu bringen, unabhängig von den Vorwürfen des Internationalen Strafgerichtshofs. Außer einem Telefonat hat es bislang aber keine Kontakte gegeben. Und von einer baldigen Begegnung ist aktuell keine Rede mehr. Merz hat offenbar erkannt, dass auch unter Israels wohlwollendsten Freunden das Entsetzen über Israels Vorgehen massiv gewachsen ist.

Berlin reagiert damit auch auf die Kritik zahlreicher Verbündeter am israelischen Vorgehen. Über Jahrzehnte waren deutsche Regierungen innerhalb der EU stets jene, die eine allzu israelisch-kritische Rhetorik und Politik verhindert haben. In den letzten Tagen und Wochen aber hat sich die internationale Kritik am Vorgehen der israelischen Armee, angetrieben von der Netanjahu-Regierung, auch unter engsten Verbündeten massiv verschärft. Zugleich sind auch in Berlin immer mehr Diplomaten und Politiker zu dem Ergebnis gekommen, dass sich die israelischen Angriffe in Gaza nicht mehr verteidigen lassen. Deutlicher denn je wird intern anerkannt, dass der Vorwurf, man messe bei schweren Angriffen auf die Zivilbevölkerung mit zweierlei Maß, inzwischen auch die Glaubwürdigkeit Berlins belaste. Man könne solche Angriffe nicht in der Ukraine völlig zu Recht kritisieren, aber in Gaza dazu weiter schweigen, heißt es unter Diplomaten.

Dabei wird im Kanzleramt wie im Auswärtigen Amt alles versucht, um auf keinen Fall in den Verdacht zu geraten, antisemitische Stimmungen durch Kritik noch zu befeuern. Als zuletzt aber auch israelische Diplomaten wie der frühere Botschafter Shimon Stein und die erfahrenen Koalitionspolitiker Rolf Mützenich und Armin Laschet Israels Politik in Gaza kritisierten, wuchs im Kanzleramt offenbar die Überzeugung, dass die Zeit für deutliche Worte gekommen sei. Daran ändert auch die feste Überzeugung vieler Verantwortlicher nichts, dass Israel selbstverständlich ein Recht auf Selbstverteidigung habe, gerade nach dem mörderischen Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023. Der Eindruck hat sich festgesetzt, dass Netanjahu zu weit geht.

Zwar wurden in der SPD-Fraktion schon Forderungen nach einer Beschränkung von Waffenlieferungen nach Israel laut. Doch Entscheidungen über Veränderungen bei der Rüstungskooperation sind noch nicht gefallen. Allerdings wird sich das Kabinett in seiner Sitzung am Mittwoch vom BMVg und wahrscheinlich auch vom AA über die Situation im Nahen Osten informieren lassen. Sehr wahrscheinlich wird das auch ein Thema für den Koalitionsausschuss am Mittwochnachmittag sein. Endgültige Entscheidungen trifft aber der Bundessicherheitsrat.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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