Analyse
Erscheinungsdatum: 22. Januar 2023

Das größte Dilemma des Olaf Scholz

Olaf Scholz trifft Wolodymyr Selenskyj in Kiew, Ukraine June 16, 2022 (Foto: IMAGO/UPI Photo)
Eine Abgeordnete, ein Parteichef, eine Ausschussvorsitzende im Bundestag – sie alle können sehr schnell und sehr laut Waffen fordern, mehr schnelle Entscheidungen und überhaupt einen größeren Einsatz für die Ukraine. Ein Kanzler aber muss all das, so er es tut, am Ende auch verantworten. Vielleicht erklärt das am besten, warum Olaf Scholz seiner Vorgängerin Angela Merkel gerade jetzt immer ähnlicher wird. Vorsichtig, abwägend, alles auslotend. Über die Lage eines Kanzlers, die komplizierter kaum sein könnte.

Olaf Scholz hat schon viele Krisen erlebt – und viel Kritik an seiner Arbeit über sich ergehen lassen müssen. Trotzdem ist das, was derzeit medial über ihn hereinbricht, außergewöhnlich. Zögerlichkeit, schlechtes Management, späte Entscheidungen – das sind noch die milderen Formen. Dazu kommen Vorwürfe der Illoyalität und der Blockade beim Streit um die Lieferung von Leopard-2-Panzern an die Ukraine. Im Raum steht historisches Versagen.

„Schaden vom deutschen Volk abwenden“, heißt es im Amtseid jedes Kanzlers. Gerade wenn die Kritik besonders laut wird, lohnt es, sich daran zu erinnern. Man kann Scholz manches vorhalten, sein schlechtes Erklären, die langen Zeitspannen bis zu einer Entscheidung, am meisten das Hin und Her bei den Leopard-Panzern, die laut Süddeutscher Zeitung zu einem massiven Streit mindestens mit dem amerikanischen Verteidigungsminister geführt hat.

Kommunikativ ist da nichts gut dran. Und doch kann man Scholz nicht vorwerfen, dass er sein Amt schludrig, wurschtig, nicht gewissenhaft ausüben würde. Um besser zu verstehen, was ihn antreibt oder bremst, lohnt ein Blick auf die Abwägungen, die der Kanzler – anders als Bundestagsabgeordnete, Ausschussvorsitzende oder Parteichefs – jeden Tag im Kopf haben muss.

Wie weit geht Putin? Wenn der Kreml-Chef eines bewiesen hat, dann ist es die eiskalte Berechenbarkeit, unberechenbar zu bleiben. Das ist kein Wortspiel, es ist fester Bestandteil seiner Strategie. Scholz geht mit diesem Rätsel ins Bett; er steht morgens damit auf. Von Berlin über Brüssel und Washington ist niemand in der Lage zu sagen, ob Putin vor dem Äußersten auf Dauer zurückschreckt – oder am Ende lieber in einem Krieg gegen die Nato untergeht.

Einmal hat er damit offenbar gedroht: 2008. Engste Vertraute von Angela Merkel berichten, dass Putin, als es auf dem Nato-Gipfel in Bukarest um eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine ging, erklärt habe, der Beitritt werde rein formal eine Weile dauern – und er werde so lange nicht warten. Drohung? Indirekte Drohung? Es war eine Botschaft, die niemand vergessen hat.

Was macht die Ukraine? Diese Frage scheint leicht zu beantworten sein. In Wahrheit ist sie es nicht. Viele, die heute für Scholz arbeiten, waren schon 2014 und 2015 bei den Verhandlungen mit Russland und der Ukraine diplomatisch an Bord. Und sie haben die innerukrainischen Auseinandersetzungen vor, während und nach den Verhandlungen von Minsk nicht vergessen. So leidenschaftlich der ukrainische Präsident Volodymyr Selenskyj heute kämpft und die Ukraine hinter sich hat, so hart hat er nach Minsk den damaligen Präsidenten Viktor Poroschenko für seine Kompromissbereitschaft kritisiert. Das ist kein Grund, von der Hilfe für das angegriffene Land abzulassen.

Das Kanzleramt wägt deswegen zwei Fragen ab: Wie kann Deutschland möglichst schnell helfen, so gut es geht? Und wie weit geht die Ukraine, wenn man ihr alles geben würde, was man könnte? Olaf Scholz möchte helfen, das wird im Kanzleramt immer und immer wieder beteuert. Er weiß um die Wichtigkeit eines Erfolgs der Ukraine. Aber er weiß nicht, wie weit Kiew zu gehen bereit wäre. Und er hat vermutlich nicht ganz vergessen, wie heftig er auch von ukrainischer Seite schon attackiert wurde. Entscheidungen über Lieferungen sind derzeit das einzige Mittel, um Einfluss zu nehmen.

Was machen die Verbündeten? Am Wochenende gab es dazu viele Meldungen. Wie die Süddeutsche Zeitung berichtet, ist in Washington der Ärger groß über Deutschland, übers Missmanagement des Kanzlers, über die angebliche Konditionierung der deutschen Regierung. Dass Deutschland nämlich nur liefere, wenn auch die US-Regierung bereit sei. Aus der Umgebung des Kanzlers ist anderes zu vernehmen. Dort heißt es, dass diese Berichte nicht die ganze Wahrheit wiedergeben würden. So laut US-Verteidigungsminister Lloyd Austin über Berlin und das Kanzleramt schimpfe, so zögerlich bleibe bis jetzt der US-Präsident. Anders als berichtet gebe es zur Frage möglicher Leopard-Lieferungen kein klares „Do it!“ des US-Präsidenten.

Außerdem gibt es an dieser Stelle immer wieder Verzerrungen in der Wahrnehmung. Während viele Scholz für seine Zögerlichkeit kritisieren, stellte der niederländische Regierungschef Mark Rutte zuletzt in Davos heraus, dass Deutschland neben Briten und Amerikanern einfach mal ziemlich viel Waffenhilfe leiste. Und als kürzlich die Entscheidung über die Lieferung deutscher Marder an die Ukraine bevorstand, schien Berlin vor allem deshalb hinterherzuhinken, weil Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gegen eine interne Absprache mit seinen Zusagen vorzeitig an die Öffentlichkeit ging. Tatsächlich hatten beide Seiten den Schritt gemeinsam beschlossen. Der Ärger im Kanzleramt war groß. Nur öffentlich herausheben mochte das in Berlin niemand.

Was kann Deutschland leisten? Diese Frage gehört zu den unangenehmsten, seit der Krieg Ende Februar 2022 begann. Der Kanzler weiß seit dem ersten Tag, dass die Bundeswehr schlechter dasteht, als die Öffentlichkeit über Jahrzehnte glaubte. Und er ahnt, dass der Kreml das auf dem Schirm hat. Schon im Jahr der Krim-Annexion gab es im Kanzleramt an zentraler Position Leute, die entsetzt waren über die mangelnde Einsatzfähigkeit. Getan wurde trotzdem wenig.

Warum gibt es bisher nicht mal Exportfreigaben für andere Länder? Unter anderem, weil das Kanzleramt mit Scholz im Zentrum ein Bild bis heute fürchtet: den direkten gegenseitigen Beschuss russischer und deutscher Panzer. Längst gelieferte Haubitzen schießen auf ein fernes Ziel in bis zu über 50 Kilometern Entfernung. Panzerkommandanten dagegen stehen sich auf einigen Hundert Metern gegenüber. Es ist das Schreckgespenst der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, insbesondere dann, wenn es am Ende allein deutsche Kampfpanzer dieser Größe und Wucht sein sollten.

Gehen die Menschen in Deutschland mit? Jein lautet die Antwort. Und das sagt schon fast alles. Eine aktuelle Forsa-Umfrage im Auftrag von RTL kommt zu dem Ergebnis, dass 54 Prozent grundsätzlich für eine Lieferung von Leopard-Panzern sind, aber 58 Prozent wollen nicht, dass die Ukraine damit die Krim zurückerobert. Konkreter kann das Dilemma des Kanzlers nicht offen gelegt werden.

Hat Scholz Einfluss auf das Kriegsende? Die trockene Antwort lautet: Nein. Und das ist sein wahrscheinlich größtes Problem von allen. Durch die zugesagte Unterstützung für das angegriffene Land („so lange uns die Ukraine braucht“, so der Kanzler mehrfach) bleibt Scholz wenig Spielraum, solange die Regierung in Moskau tut, was sie will – und Kiew dagegen hält. Den Sog, der darin fast zwangsläufig steckt, kann Scholz nur an einer Stelle bremsen: beim Ausmaß der Waffenlieferungen. Kann er dabei politisch gewinnen? Bislang nein.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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