Die AfD feiert ein Umfragehoch, stellt nun den ersten Landrat. Wo hat die CDU zuletzt Fehler gemacht, die der AfD in die Hände spielen?
Die Politik insgesamt hat Fehler gemacht. Das liegt auf der Hand. Menschen verlieren offensichtlich das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit dieses demokratischen Systems und auch die gesellschaftliche Mitte neigt zunehmend populistischen Gedanken zu. Das ist ein wirklich dramatisches Zeichen. Wo hat die CDU Fehler gemacht? Es besteht in Teilen der Bevölkerung das Bedürfnis, dass wir auf die letzten Jahre zurückblicken und selbstkritisch analysieren: Wo gibt es Versäumnisse?
Die wo liegen könnten?
... zum Beispiel in der mangelnden Modernisierung unseres Staates. Ich weiß, Sie würden jetzt eher Antworten erwarten wie: in der Flüchtlingspolitik, auch bei der mangelnden Durchsetzungsfähigkeit und Kooperation im Rechtsstaat. Ich glaube, es sind Themen wie die mangelnde Fähigkeit, dieses Land zu digitalisieren. Viele Menschen haben das Gefühl, dieser Staat funktioniert nicht mehr richtig. Das verunsichert. Zu Recht. Ich würde mir auch einen kritischen Blick auf unsere Außen- und Sicherheitspolitik wünschen. Das würde ich übrigens allen Parteien empfehlen, auch denen, die jetzt so tun, als seien sie schon immer die großen Unterstützer der Bundeswehr gewesen. Das halte ich wirklich für Geschichtsklitterung. Die Union muss sich fragen: War es richtig, gleichzeitig aus der Kernenergie auszusteigen, ohne konsequent in alternative Energien einzusteigen, und dann den Kohleausstieg zu beschließen? In welche Energieformen sind wir eigentlich in der Zeit eingestiegen? Wir haben in diesem Land ein Innovationsdefizit, das sich über viele Jahre aufgebaut hat. Wir drohen weiter abzurutschen. Unser Wissenschaftssystem ist offensichtlich nicht leistungsfähig genug, was den Transfer von Schlüsseltechnologien in Deutschland angeht.
Sie beschreiben auch, dass die CDU – und damit konservative Politik – sehr schnell in die rechte Ecke geschoben wird. Woher kommt diese Entwicklung?
Zunächst ist die CDU eine christdemokratische Partei und keine vornehmlich konservative Partei. Das ist ein strategischer Ansatz. Unsere Wettbewerber links der Mitte versuchen, alle Positionen, die jenseits eines bestimmten Meinungsspektrums sind, als rechts und damit als verwerflich zu framen. Das führt – verbunden mit einer starken Moralisierung von Politik – zu großem Unverständnis bei vielen Menschen.
Jetzt hat Ihr Parteichef gerade die AfD zu „Feinden“ und die Grünen zum „Hauptgegner“ erklärt. Gehen Sie da mit?
Es wäre nicht meine Wortwahl. Dass die AfD unsere Feinde sind: Ja! ... weil sie Feinde einer freiheitlichen, liberalen Gesellschaft sind. Da gehe ich mit. Die Grünen aber sind politische Wettbewerber – und zwar übrigens auch um die Mitte der Gesellschaft. Und sie sind unsere Partner, weil wir mit ihnen in vielen erfolgreichen Koalitionen regieren. Wenn wir die Grünen zum politischen Hauptgegner erklären, dann sind wir automatisch in einer Glaubwürdigkeitsfalle. Das ist aus meiner Sicht nicht zu Ende gedacht, und es ist auch kein Rezept gegen die AfD. Hier hilft nur, überzeugende Lösungen anzubieten und Menschen nicht umzuerziehen, sondern mitzunehmen – emotional und argumentativ.
Welcher strategische Ansatz leitet Ihren Parteichef?
Friedrich Merz weist richtigerweise darauf hin, dass es im Moment Themen gibt, die die Menschen besonders verunsichern, und dass diese politisch in grüner Ressortverantwortung liegen. Das ist zum einen die wirtschaftliche Lage in Deutschland, die schlechter ist als in fast allen OECD-Staaten. Und die Frage, wie gehen wir eigentlich mit so einer zentralen Frage wie der Wärmewende um? Es ist unstreitig, dass die Wärmewende notwendig ist. Aber wir müssen die Menschen in diesen großen Transformationsprozessen mitnehmen. Da war das Gebäudeenergiegesetz nun wahrlich keine Glanzleistung. Da hat die Ampel-Koalition ganz schön viel Schaden verursacht. Selbst Menschen, die gern bereit sind, ihren Beitrag zu leisten, sind so verunsichert und sauer, dass es für den Klimaschutz eher ein Rückschlag ist. Das andere große Thema ist die Migration. Die Grünen vertreten die Haltung, dass eine Begrenzung der Fluchtmigration gar nicht stattfinden sollte. Das tragen die Menschen in Deutschland auf Dauer nicht mit. Hier müssen wir in die politische Auseinandersetzung besonders mit den Grünen gehen, respektvoll und an der Sache orientiert. Aber ehrlich gesagt: Diese Politikfelder verantwortet die Ampel gemeinsam. Und Innenministerin in Deutschland ist Frau Faeser und nicht eine Grünen-Politikerin.
Beim kleinen Parteitag wollte sich Ihre Partei mit einem Leitantrag zur Familien- und Bildungspolitik neu positionieren. Und worüber wurde gesprochen und berichtet? Die Merz-Wüst-Kanzlerfrage, das Gendern und Claudia Pechstein. Hat Sie das geärgert?
Das hat mich schon geärgert. Ich hätte mir gewünscht, dass wir uns mit den Inhalten beschäftigen, die wir in einem intensiven Prozess über ein Jahr vorbereitet haben. Das ist jetzt eine Binse. Ich will aber sagen: Die CDU hat programmatisch wirklich etwas anzubieten, was diese Gesellschaft voranbringt. Das Familienzukunftspaket ist hinter Personalfragen und die wirklich schwierige Debatte um den Auftritt von Frau Pechstein zurückgetreten. Das ist einfach schade.
Haben Sie Herrn Wüst gesagt, dass es nicht optimal war, kurz vor dem Parteitag die Debatte um die Kanzlerkandidatur zu forcieren?
Ich habe mit Herrn Wüst gesprochen und ihm meine Meinung gesagt: Dass es gut gewesen wäre, wenn wir uns stärker auf die inhaltliche Befassung, die wir uns gemeinsam vorgenommen hatten, konzentriert hätten.
Die CDU hat kürzlich ein „Kinderzukunftspaket“ beschlossen. Schauen Christdemokraten anders auf die Bildungspolitik als ihre politischen Wettbewerber?
Wir haben zumindest in Nuancen ein anderes Menschen- und Gesellschaftsbild – weil wir sehr stark vom einzelnen Kind her denken und die Rolle der Eltern immer mitdenken. Wir sind überzeugt, dass Eltern zuvorderst für Bildung und Erziehung verantwortlich sind. In den letzten Jahrzehnten gab es bei den politischen Wettbewerbern auf der linken Seite eher die Vorstellung, dass der Staat alles machen muss. Ich halte das für eine völlige Überforderung von Kitas und Schulen. Wir müssen vielmehr Eltern „empowern“, also ermuntern und ertüchtigen, sich von Anfang an gut um ihre Kinder zu kümmern. Wir brauchen ein anderes gesellschaftliches Klima für Kinder und Familien.
Hendrik Wüst erklärte jüngst, dass das Bild von Familien als Garanten guter Bildung nicht mehr trägt. Vielmehr sei der Staat gefordert. Aber dieser Staat ist doch gerade völlig überfordert.
Es gibt diesen wunderbaren Spruch: „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen.“ Natürlich muss der Staat heute mehr tun, weil Kinder ganz unterschiedliche Ausgangsvoraussetzungen haben. Ein Teil der Eltern ist auch mit Bildungs- und Erziehungsarbeit überfordert. Dazu gehört auch, dass wir die Zusammenarbeit von Jugendhilfe, Schule und anderen Unterstützungssystemen verbessern und die vorhandenen Ressourcen besser nutzen.
Die Kitas spielen für die CDU eine zentrale Rolle. Sie wollen Kinder, mit drei oder vier Jahren testen, ihren Sprachstand, aber auch Motorik und Selbstregulation erfassen, ergänzt durch eine verpflichtende Förderung – ob die Eltern wollen oder nicht. Warum so radikal?
Da gilt es, im Föderalismus zu lernen. In Hamburg und Hessen gibt es seit vielen Jahren eine Untersuchung der Viereinhalbjährigen – mit Erfolg. Es gelingt, das Auseinanderdriften der Lernausgangslagen zu reduzieren. Nur ist Testen eben kein Selbstzweck. Nach der Diagnose muss eine verpflichtende Förderung folgen. Ich bin überzeugt, in den Kitas braucht es eine gute und integrierte Sprachförderung. Da ist das Sprachbad wichtig, woran es leider oft hapert. Wenn ich bis zu 95 Prozent Migrantenanteil in den Gruppen habe, dann ist das mit dem Spracherwerb schwierig, jedenfalls mit dem Deutschen. Daneben braucht es für Kinder mit besonderem Sprachförderbedarf zusätzliche verpflichtende Maßnahmen in Kita und Vorschule oder Vorläuferklassen wie in Hessen.
Ähnlich entschlossen positionieren Sie sich bei der Schulfinanzierung – und brechen mit Traditionen.
Wir haben wachsende Schülerzahlen, gerade in westdeutschen Großstädten, und weiter einen hohen Zuzug von Geflüchteten. Parallel erwartet uns eine dramatische Fachkräfteentwicklung. Bis 2035 verlieren wir rund sieben Millionen Menschen aus dem Pool der Erwerbstätigen. Wir müssen Ressourcen künftig effizienter einsetzen. Das heißt für die CDU, Ungleiches ungleich zu behandeln. Bislang haben wir Schulen in herausfordernden Lagen schlicht mehr Geld gegeben. Das ist einfach, solange es viel Geld gibt. Jetzt müssen wir noch stärker differenzieren. In Schleswig-Holstein haben wir über einen Sozialindex 60 Schulen identifiziert, die mehr Ressourcen erhalten. Dann haben wir aus diesem Pool nochmal 20 Schulen ausgesucht, die es am allerschwersten haben und am meisten Geld bekommen. Davon können wir übrigens beim Startchancen-Programm lernen: Es ist Unsinn, zu sagen: 4000 Schulen, egal mit welchem Sozialindex, bekommen das Gleiche.
Sie haben dem Bund zuletzt die Fähigkeit abgesprochen, Schule zu gestalten – und plädieren für eine Neuerfindung des Bildungsföderalismus. Trägt Ihre Partei das mit?
In der Tat kann der Bund die Bildung nicht neu gestalten, dafür fehlen im Bundesbildungsministerium schlicht die Kapazitäten und die Kompetenz. Andererseits brauchen wir eine Reform des Bildungsföderalismus hin zu mehr verbindlicher Kooperation zwischen den Ländern, damit Prozesse wie die Digitalisierung und die Implementierung neuer und wissenschaftlich anerkannter Methoden besser gelingen.
Die KMK unterzieht sich einer externen Evaluation. An welchen Reformen führt aus Ihrer Sicht kein Weg vorbei?
Es wäre von großem Wert, wenn wir weg kämen vom Einstimmigkeitsprinzip. Die Entscheidungsprozesse sind viel zu langwierig und schwerfällig und zu verwaltungslastig.
Was uns aufgefallen ist: Ende 2022 waren in Ihrem Bundesland 55 Prozent der Digitalpakt-Mittel gebunden. Binnen weniger Monate ist die Quote auf 94 Prozent gesprungen. Wie kann das sein?
Der Pakt war auf fünf Jahre angelegt. Die Richtlinie, die wir in Ausführung der Bund-Länder-Vereinbarung erarbeitet haben, sah jedoch einen sogenannten vorzeitigen Maßnahmenbeginn vor. Damit hatten die Schulträger die Möglichkeit, mit den Baumaßnahmen zu beginnen und erst hinterher abzurechnen. So sind die meisten Kommunen vorgegangen und haben ihre Anträge tatsächlich erst kurz vor Fristende eingereicht. Wir waren darauf vorbereitet und konnten innerhalb kürzester Zeit bewilligen.
Moment. Das bedeutet, dass die Zahlen, die Sie seit 2019 ans BMBF melden und über die wir Medien alle sechs Monate berichten, überhaupt nicht der Realität entsprechen – weil die Kommunen vor Ort viel weiter sind?
Ja, das habe ich immer wieder gesagt. Es wollte nur keiner hören. Da ist viel Porzellan zerschlagen worden – auch durch eine verzerrte Berichterstattung.
Der Bund will keinesfalls vor 2025 weiter investieren. Jetzt gibt es die Idee, die entstehende Förderlücke mit Restmitteln aus dem ersten Digitalpakt zu überbrücken. Ist dafür noch Geld da?
Nein, die fünf Milliarden Euro sind verplant. Nur in einigen wenigen Regionen können noch Mittel abgerufen werden, weil die Schulträger dort schlicht keine Handwerker finden.
Eine ausführlichere Version dieses Interviews mit noch mehr Antworten auf bildungspolitische Fragen finden Sie im Bildung.Table.