Analyse
Erscheinungsdatum: 24. Juni 2024

2029 im Blick: Die AfD zwischen den Wahlen

Das Europawahl-Ergebnis hinterlässt bei der AfD in Berlin nicht nur Freude, sondern auch Frust, weil es ohne die vielen Skandale durchaus bei über 20 Prozent gelegen haben könnte. Umso mehr blickt die Partei in den Herbst – und auf das Jahr 2029.

Es ist der Tag nach der Europawahl, und Fotografen haben sich so engmaschig vor dem AfD-Pult postiert, dass sie sich zuweilen verheddern. Als Alice Weidel und Tino Chrupalla durch die Presse-Reihen schreiten, ist seit einigen Stunden klar, dass Spitzenkandidat Maximilian Krah kein Teil der AfD-Delegation im Europaparlament sein wird. Die beiden AfD-Vorsitzenden präsentieren den neuen Delegationsleiter René Aust, und Weidel sagt: „Freuen Sie sich doch mal.“ Sie klagt, bei der Presse herrsche immer „so eine Friedhofsstimmung“, wenn die AfD erfolgreich war. „Bei uns haben gestern die Korken geknallt.“

Angesichts der 15,9 Prozent für die AfD knallten tatsächlich die Korken – gerade nach einem Wahlkampf voller Katastrophen hätte die Partei aller Erfahrung nach weit mehr an Zustimmung verlieren können. Alle offiziellen Statements der Partei feiern den Erfolg. Doch hinter den Kulissen herrschen in Berliner Parteikreisen Unmut und Frust.

Dass die Partei in Umfragen zwischenzeitlich mal auf 23 Prozent gekommen ist, haben viele noch im Kopf. Zwar seien gewisse Schwankungen normal und ohnehin klar, dass sich ein Bestwert aus Umfragen nicht in das letztliche Ergebnis umsetzt. Aber das Potenzial der AfD schätzen Partei-Funktionäre auf allen Ebenen weit größer ein als 15,9 Prozent – teils rechtsradikalen Positionen zum Trotz.

Dass Anti-AfD-Proteste, Korruptions-Vorwürfe und Gerichts-Niederlagen der Partei nicht noch mehr schadeten, sondern sie immerhin auf 15,9 Prozent kam, könnte die Vorsitzenden gerade so gerettet haben; auch wenn sie dem Parteitag in Essen am Wochenende nicht allzu entspannt entgegenblicken können. Einerseits wegen mehrerer neu zu wählender Posten im Bundesvorstand, Vize-Sprecherin Mariana Harder-Kühnel, Beisitzer Carlo Clemens und andere ziehen sich zurück (wer alles geh und wer kommen könnte, lesen Sie hier); andererseits wegen eines Antrags von gut zwei Dutzend Landeschefs auf Bestellung eines Generalsekretärs ab 2025. Das hätte nach AfD-Satzung zur Folge, dass die Doppelspitze sich halbieren muss und die AfD, wie in der Vergangenheit schon oft gefordert, ihr Profil auf einen Chef oder eine Chefin zuschneidet.

Weidel und Chrupalla beteuern immer wieder, sie würden nur als Doppelspitze zur Verfügung stehen. Lange verkörperten die beiden ein Ideal-Duo für die Partei: aus West und Ost, männlich und weiblich, die eine elitärer Bankenhintergrund, der andere bodenständiges Handwerk; beide Opportunisten in der Partei, die keine allzu ideologischen Schmerzen gegenüber ihren Hardlinern empfinden, aber auch die Mobilisierung in CDU- und FDP-Kreise verfolgen. Der Stern des Duos sank immer wieder, manche in der Partei äzten vergangenes Jahr, nur die Erzählung über Angriffe gegen sie hätte Weidel und Chrupalla noch die Wiederwahl gerettet.

Chrupalla hat auf Bundesebene etwa mit Aussagen zu Russland verärgert, viele können sich nicht mit ihrem Vorsitzenden identifizieren, erzählen hinter vorgehaltener Hand, seine Reden seien ihnen peinlich, er vertausche Fakten, sei gänzlich ungeeignet, gerade, wenn es um Geopolitik geht. In Sachsen hat Chrupalla sich keine Freunde gemacht, als er sich von Krah abwandte. Für die Landtagswahlen aber ist gerade Chrupalla auch ein Zugpferd; er kommt aus Sachsen und verkörpert den einstigen Handwerker, der den Ton der Stammtische trifft.

Weidel steht parteiintern etwa für ihre häufige Abwesenheit und schnelle Gereiztheit in der Kritik, manche diagnostizieren ihr Abgehobenheit und Desinteresse. Einigen ist Weidel zu nah an China, wo sie einst ihre Dissertation verfasste und für die Bank of China arbeitete. Außerdem opponieren weiterhin Teile von Weidels Landesverband Baden-Württemberg gegen sie, darunter der Bundestagsabgeordnete Dirk Spaniel, der in einem Instagram-Video Weidel offen kritisierte. Und doch sagen über Weidel viele denkbar überzeugt, dass die AfD für ihr Image unbedingt auf Weidel angewiesen sei. Eine potenzielle Kanzlerkandidatin Weidel halten einige bei der AfD für wesentlich vermittelbarer als die meisten anderen in der Partei.

In Sachsen sehen einige AfD-Funktionäre in der Europawahl eine Verheißung: Allein zu regieren, trotz Brandmauern der anderen Parteien im Landtag. Sollte die AfD im Herbst auf mehr als 40 Prozent kommen, so die Hoffnung, sollten gleichzeitig Linke, SPD oder FDP an der 5-Prozent-Hürde scheitern, könnte die AfD vielleicht mehr als die Hälfte der Sitze erlangen. Verschiedene AfDler verkünden ganz offen, wer welche Ministerien besetzen könnte. Joachim Keiler (einst 30 Jahre CSU-Mitglied, seit 2019 im sächsischen Landtag) könne Justizminister werden. Der einstige Polizist aus Görlitz, Sebastian Wippel, könne Inneres übernehmen (mit 40,4 Prozent bei der Europawahl gehörte Görlitz zu den stärksten Wahlkreisen) – und Ministerpräsident werde natürlich der AfD-Sachsen-Vorsitzende Jörg Urban.

In Berlin schütteln einige AfDler angesichts der selbstbewussten Verkündungen aus Sachsen den Kopf. Nicht nur sei es unklug, vor Wahlen potenzielle Ämter zu verteilen. Das hinterlasse beim Wahlvolk den Eindruck, es gehe mehr um Posten denn Inhalte. Auch würden die sächsischen Kollegen den Kretschmer-Effekt unterschätzen. Bei der Europawahl landete die AfD mit 31,8 Prozent genau zehn Punkte vor der CDU. Bei der Landtagswahl dürften mehr Leute die Partei von Ministerpräsident Michael Kretschmer wählen. AfD-intern rechnet man in Berlin eher mit einem Kopf-an-Kopf-Rennen, denn mit einem Riesen-Vorsprung.

Dementsprechend kann Chrupalla die Frage, ob nicht er statt Urban AfD-Ministerpräsident von Sachsen werden sollte, auch regelmäßig gelassen beantworten. 2024 ist die Option weit weniger realistisch, als bei manchen Sachsen erhofft. Viel relevanter wird für die AfD das Superwahljahr 2029, wenn die drei Bundesländer, Europa und Deutschland parallel wählen. Bis dahin will die Partei sich anders aufstellen.

Den Wahlkampf für Europa sehen auch in der Partei viele als Katastrophe. Krah hat in Berlin auch höhere AfD-Kreise denkbar wütend gestimmt – nicht in seinem Kreisverband Dresden oder in Sachsen, dort kritisiert man die Parteispitze für den Bruch mit Krah; umso mehr dafür in Berlin. Nicht nur die Spionage- und Schuldenvorwürfe gegen Krah, so manches Tiktok-Video, das man als peinlich empfunden hat, sondern auch noch ein Interview mit einem italienischen Medium kurz vor der Wahl und sein Relativieren von SS-Mitgliedschaft, das die AfD aus der ID-Fraktion katapultierte.

Viele bei der AfD wünschen sich mehr Disziplin und Klarheit, peilen das Jahr 2029 tatsächlich als den Start ihrer Regierungsbeteiligung an; in Sachsen, möglicherweise in anderen Bundesländern und auf Bundesebene. Die vergangenen Monate haben der Partei einerseits gezeigt, wie groß ihr Wähler-Potenzial trotz aller umfangreich belegter Rechtsextremismus-Vorwürfe ist. Andererseits zeigt sich auch, wie problematisch immer wieder ihre Mitglieder sind. Ständige Querschießereien, gebrochene Absprachen, mindestens zweifelhafte, wenn nicht strafbare Machenschaften.

Der Generalsekretärs-Antrag für den Parteitag bedroht nicht nur die Doppelspitze aus Weidel und Chrupalla, sondern würde die ganze Parteistruktur ändern. Längst spaltet sich die AfD nicht mehr nur in völkisch und vergleichbar gemäßigt. Der Einfluss von Björn Höcke, der seit Montag erneut vor Gericht in Halle steht, ist gesunken. Götz Kubitschek stützt sich nicht mehr so konzentriert auf ihn, sondern hat sich eine neue Einflussgruppe jüngerer AfDler zwischen 30 und 40 Jahren im Bundestag erschlossen, darunter federführend Fraktions-Vize Sebastian Mützenmaier aus Darmstadt.

Wer in Deutschland Verbündete und Feinde sind, beantwortet die AfD relativ homogen. Selbst vergleichsweise Gemäßigte poltern gegen Correctiv wegen deren Recherche über das Treffen bei Potsdam und verbreiten Verschwörungserzählungen von einer Anti-Oppositions-Operation à la Stasi. Andere Medien nicht viel beliebter. Auch dem Verfassungsschutz und Gerichten bringen viele in Gesprächen größeres Misstrauen entgegen als Mitglieder von anderen Parteien.

Großes Spaltpotenzial innerhalb der AfD liefern dafür außenpolitische Fragen. Während Abgeordnete wie Matthias Moosdorf aus Sachsen Russland bejubeln, kämpfen Jürgen Braun, Norbert Kleinwächter und weitere schon lange für eine AfD-Position pro Nato. Sie gelten den anderen, oft abfällig verwendet, als Transatlantiker der Partei. Wie sich die AfD zu den Autokratien dieser Welt verhalten soll, beantworten ihre Abgeordneten denkbar unterschiedlich, seien es Russland, China oder auch Iran und andere islamische Staaten, an die sich gerade einige Völkische zuletzt auffallend annäherten. Innenpolitische Fragen wie den Umgang mit Arbeitslosen, Geflüchteten oder Minderheiten, sie bergen auf dem Weg zum Superwahljahr 2029 weniger Streitpotenzial als Außenpolitik.

Sollte Weidel und Chrupalla gelingen, noch eine Weile an der Parteispitze zu bleiben, die sie seit 2022 bilden, müssen sie mehr Ruhe und Disziplin in die eigenen Reihen bringen. Rechtsextreme Ausschweifungen mögen viele Wählerinnen und Wähler in Deutschland überraschend wenig abschrecken; ständige Querschlägereien wie von Krah, Politik im Interesse von Autokratien wie China oder Russland oder Streit und Rückzugsgefechte tun das schon eher. Mit der als gesichert rechtsextrem eingestuften JA hat die Partei noch viel Arbeit vor sich, eine verpflichtende Parteimitgliedschaft für JA-Mitglieder könnte der AfD aufgrund ihrer Unvereinbarkeitsliste zumindest helfen, die heftigsten Neonazis von sich zu stoßen.

Außerdem will die Parteiführung dem Vernehmen nach vor der nächsten Bundestagswahl mehr Einfluss auf die Aufstellung von Direktkandidaten durch die Kreisverbände nehmen, um in der Legislatur ab 2025 weniger Überraschungen auf den Abgeordnetenbänken begrüßen zu müssen. In Sachsen etwa zog die Liste der Partei nicht, weil sie so viele Direktmandate errang. Über die Gesichter, die folglich in den Bundestag zogen, waren nicht alle in Berlin glücklich. Mehr Kontrolle, das erhofft man sich bei der AfD nun auch durch René Aust als Delegationsleiter in Brüssel. Die Parteispitze soll im Hintergrund darauf gedrängt haben, dass Krah kein Mitglied wird und Aust dafür neuer Leiter.

Dem Spiegel zufolge will die AfD nun eine eigene Fraktion, die Souveränisten, gründen. In parteiinternen Chats kursieren nach Table.Briefings-Informationen drei Ansichten zu diesem Schritt: Dass etwa der Chef der polnischen Partei Konfederacja in Reden schon von einem „judenfreien“ Polen träumte, ist für die völkische Gruppe nicht so furchtbar problematisch, ihre Kontrahenten stören sich am Antisemitismus und eine opportunistische Gruppe dazwischen erkennt zwar, dass etwas daran problematisch sein könnte; gleichzeitig will sie aber nicht den Millionen-Verzicht in Kauf nehmen, den Fraktionslosigkeit bedeuten würde.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
Teilen
Kopiert!