Spätestens mit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine im Februar 2022 ist die Zeit der sicherheitspolitischen Sorglosigkeit in Deutschland zu Ende gegangen. An deren Ende steht ein verteidigungspolitischer Strategiewechsel – die Zeitenwende. Ich vertrete im Folgenden den Standpunkt: Neben der notwendigen Modernisierung und Aufrüstung der Streitkräfte sollten wir im öffentlichen und politischen Diskurs die Befähigung auf der zivilen Seite nicht aus den Augen verlieren – auch der Zivilschutz benötigt eine Zeitenwende.
Es ist deshalb begrüßenswert und an der Zeit, dass aktuell die erstmals 1989 veröffentlichte Rahmenrichtlinie Gesamtverteidigung unter gemeinsamer Federführung von BMI und BMVg neu gefasst wird. Jetzt muss die Chance genutzt werden, um planerische Vorgaben für die zivile und militärische Verteidigung Deutschlands an die hybriden Bedrohungen des fortgeschrittenen 21. Jahrhunderts als auch Deutschlands veränderte Rolle in der geopolitischen Lage in Europa anzupassen. Dazu zählen sowohl die Prüfung und Überarbeitung von Ausbildungskonzepten für Einsatzbehörden, als auch die Etablierung und Einübung der behördlichen Kommunikations- und Meldestrukturen, die im Falle der Gesamtverteidigung von entscheidender Bedeutung sind.
Neben den notwendigen Reformen auf bundesbehördlicher Seite plädiere ich zugleich dafür, bei der Frage „Was bedroht uns?“ nicht allein militärische Bedrohungen ins Auge zu fassen. Schon heute zeigt sich, dass die Gefahren für das öffentliche Leben und die Sicherheit in Deutschland vielfältiger geworden sind. Neben (mutmaßlichen) Sabotageakten auf Kritische Infrastrukturen, wie die Nord-Stream-2-Pipelines oder die LNG-Terminals in Brunsbüttel, häufen sich Hackerangriffe auf Kommunen und Desinformationskampagnen in sozialen Medien.
Zugleich warnen uns Expertinnen und Experten regelmäßig und in aller Deutlichkeit vor dem Anstieg an Extremwetterereignissen, die uns schon heute in Form von Waldbränden oder Hochwassern häufiger und intensiver bedrohen. Die zunehmende Entgrenzung und Allgegenwart von Gefahren deuten darauf hin, dass es entsprechend eine gesamtstaatliche Reaktionsfähigkeit benötigt. Kurz gesagt: Wir müssen auf allen gesellschaftlichen Ebenen resilient werden.
Was genau folgt aus einer solchen Forderung? Gesamtgesellschaftliche Resilienz zu stärken, heißt neben der Befähigung von Einsatzorganisationen oder dem Schutz von Kritischen Infrastrukturen auch, Zeit und Ressourcen zu verwenden, um zivilgesellschaftliche Akteure wieder stärker mit Inhalten des Selbstschutzes und der Eigenvorsorge zu schulen.
Diese Selbsthilfebildung, die derzeit durch das Zivilschutzgesetz (ZSKG) bei den Kommunen liegt, dort aber durch ihre Freiwilligkeit stark vom örtlichen Engagement einzelner abhängt, sollte zur kommunalen Pflichtaufgabe werden. Vor Ort kann am besten über die örtlichen Besonderheiten erwartbarer Gefahren aufgeklärt werden und mit den Ehrenamtlichen in den verschiedenen Einsatzorganisationen stehen viele Multiplikatoren zur Verfügung.
Eine klare und offene Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern über existierende Gefahren und Wege zum Selbstschutz kann für Risiken sensibilisieren und das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten stärken. Hier müssen Verantwortungstragende auf allen Ebenen lernen, eine Kommunikation zu finden, die die Bürgerinnen und Bürger bestärkt. Die Vorbereitung auf den Zivilschutzfall braucht zugleich intensive Austragungen.
Dazu sind regelmäßige und mit Zivilschutzszenarien bespielte Übungen notwendig, an denen Landräte und (Ober‑) Bürgermeister und -meisterinnen, die auch im Katastrophenfall als politisch Gesamtverantwortliche der unteren Katastrophenschutzbehörden agieren, verpflichtend teilnehmen. Nach einer Wahl muss die Zivilschutzbildung insbesondere für das Krisenmanagement ein zentraler Bestandteil für die gewählten obersten Kommunalbeamtinnen und -beamten sein.
Eine verpflichtende Ausbildung ist aus meiner Sicht die richtige Antwort auf die bestehende breite Fähigkeitslücke der gewählten Wahlbeamten und -beamtinnen in der Bundesrepublik. Schließlich braucht es eine Debatte, ob die bisherige Trennung von Zivil- und Katastrophenschutz den neuen Herausforderungen noch gerecht wird. Dies muss ergebnisoffen diskutiert werden, um auf dem Weg zu einer wirklichen Zeitenwende im Zivilschutz auch diejenigen zu erreichen, um die es geht: die Menschen vor Ort.
Leon Eckert ist Mitglied der Grünen und seit 2021 im Deutschen Bundestag. Er bearbeitet unter anderem die Themen Zivilschutz, Katastrophenschutz, Gefahrenabwehr und Ehrenamt und ist Vorsitzender des Deutschen Komitees Katastrophenvorsorge (DKKV).