
Obwohl geeint in der Verurteilung des Krieges, schien eine Teilung Europas nach Russlands Invasion am 24. Februar 2022 in der Ukraine in der praktischen Politik beinahe unvermeidlich: auf der einen Seite der risikobewusste Westen, auf der anderen der prinzipienorientierte Osten.
Die Spaltung blieb aus. Ein Jahr später mag es Meinungsverschiedenheiten und Debatten in den Mitgliedstaaten geben. Aber Europa ist keineswegs geteilt, noch viel weniger gelähmt: Die allgemeine politische Marschrichtung bleibt im Wesentlichen die gleiche. Differenzen reduzieren die Geschwindigkeit des Marsches, aber nicht die Richtung.
Allerdings: Europas Einheit scheint derzeit führerlos. Nach der Annexion der Krim war es Deutschland, das Europas Position vorgab und konsolidierte. Im Kontrast dazu tut sich aktuell kein Land als zentrale Macht hervor: Während Deutschland, Frankreich und Polen eine gewichtige Stimme auf dieser Position haben, wirkt keines der Länder wie die dominante Macht. Stattdessen ist die Verantwortung auf verschiedene Schultern in der EU verteilt, wobei die einzelnen Länder bei der Gestaltung der gemeinsamen Politik unterschiedliche Rollen spielen.
Die Ambivalenz Deutschlands
Deutschland wird zwar weiterhin von sechs Mitgliedstaaten als führende Macht in der EU angesehen, seine Attraktivität liegt heute allerdings nicht in seiner Macht als Lenker: Es wird nicht als Land gesehen, das vorausschauend denkt oder politische Prozesse maßgeblich beeinflusst.
Innerpolitische Debatten und gelegentlich holprige politische Findungsprozesse sind für alle nach außen hin sichtbar. Und obwohl das Berlin in den Augen vieler als Europas Zauderer wirken lässt, weckt es in vielen Ländern mit ähnlichen Debatten und/oder gegensätzlichen Ansichten über das gesamte politische Spektrum hinweg ein Gefühl der Verbundenheit. Sie erkennen sich wieder in Deutschland und das gibt Deutschland in ihren Augen Gewicht – wenn auch manchmal auf wackeligen Füßen.
Polen und Baltikum in „moralischer Führungsrolle“
Polen und die baltischen Länder beanspruchen für sich die „moralische Führung“. Eine Reihe von Ländern sehen ihre kompromisslose und maximalistische Haltung als einen Leuchtturm der perfekten prinzipienorientierten Position. Das lässt sich in der Politik allerdings nicht in eine wahre Führungsrolle übersetzen. Zum einen sind diese Länder nicht sehr erfahren in der Lenkung von EU-politischen Prozessen.
Es ist, wie ein polnischer Experte einmal selbst einräumte: „Wir sind sehr gut darin, unsere moralische Position zu formulieren, aber nicht sehr gut darin, herauszufinden, was wir tun müssen und welche Koalitionen wir bilden müssen, um Taten folgen zu lassen.“
Zum anderen kann die polnisch-baltische, maximalistische Haltung auch beängstigend wirken. Vor allem kleinere und weiter südlich gelegene Länder sehen darin eine Fokussierung auf die Bestrafung Russlands bei völliger Ignoranz der Interessen anderer Mitgliedstaaten. Sie sind der Ansicht, dass sie mit der Möglichkeit, Russland könnte eskalieren und die Nato in einen Krieg hineinziehen, leichtfertig umgehen.
Für diese Länder vermittelt wiederum die deutsche Zurückhaltung ein Gefühl von Vertrauen und Sicherheit. Sie haben das Gefühl, dass, wenn Berlin sich bewegt und seine Haltung gegenüber Russland verstärkt, dann können auch sie sich bewegen.
Westen kann Russland nicht ändern
Frankreichs Position gegenüber Russland stand in gewisser Weise immer schon im Gegensatz zur deutschen und polnisch-baltischen. Für lange Zeit waren Deutschland, Polen und die baltischen Länder bestrebt, Russland zu ändern, zu demokratisieren, auch wenn sie dafür verschiedene Ansätze wählten. Wo Deutschland auf das Zuckerbrot des Handels und des Dialogs setzte, griffen Polen und die baltischen Länder zur Peitsche der Kritik.
Frankreich stattdessen akzeptierte Russland als das, was es ist: Der Westen kann Russland nicht ändern, sondern muss die Beziehung „managen“. Diese Position findet auch heute seine Anhänger, insbesondere im Süden Europas. „Die Betonung der Bedeutung des Multilateralismus und der Diplomatie bei gleichzeitiger Verurteilung Russlands für die Invasion“ – diese Position, wie sie ein Wissenschaftler des ECFR zusammenfasste – macht Frankreich für eine Reihe von Ländern attraktiv, auch über die direkte Nachbarschaft hinaus.
Die neuen Koalitionen in der EU
Und dann gibt es in der EU auch eine Reihe von Zusammenschlüssen. Einige sind interessenbasiert: Da die Kosten des Krieges die Länder unterschiedlich stark treffen, bilden sich (vorübergehende) Koalitionen aus Staaten mit ähnlichen Interessen bei bestimmten Fragen.
Einige sind traditionell: So sind die großen Länder daran gewöhnt, sich regelmäßig untereinander auszutauschen, auch die nordisch-baltischen Länder und die Mittelmeerländer gleichen sich jeweils miteinander ab und führen ihre eigenen Diskussionen (wenn auch die Visegrád-Gruppe etwas gehindert ist durch Ungarns Außenseiterposition).
Aber es gibt auch ungewöhnliche Netzwerke: Österreich, Irland und Malta zum Beispiel versuchen gemeinsam herauszufinden, was eine angemessene Position für die formal neutralen, aber EU-orientierten Länder sein könnte. Gleichzeitig finden sich Finnland und Schweden – immer schon Partner – in enger Abstimmung zu einem gemeinsamen Nato-Beitritt. Tschechien und die Slowakei werden von verschiedenen Seiten gelobt, ihre, wenn auch geringen, militärischen und diplomatischen Ressourcen erstaunlich gut eingesetzt zu haben: zur Unterstützung der Ukraine, aber auch zur Überbrückung der Ost-West-Differenzen innerhalb der EU.
Und die EU als Ganzes übt eine starke Anziehungskraft aus: viele Länder, vor allem die weiter entfernt von Russland liegenden, erkennen an, dass sie sich – unabhängig von ihrer Meinung – am Ende immer der Mehrheit in der EU anschließen werden.
USA und Russland als große Einflussfaktoren
Zu guter Letzt spielen auch zwei außenstehende Mächte eine große Rolle im Formungsprozess der EU. Die eine ist die USA: Bidens Führungsrolle verdient Applaus aus unterschiedlichen Richtungen innerhalb der EU. Dem Ansatz der USA, die Unterstützung für die Ukraine mit vorsichtigem Eskalations-Management zu kombinieren, ist einer, dem sich fast alle EU-Mitgliedstaaten komfortabel anschließen können.
Die andere ist Russland: Russlands brutales, militärisches Verhalten in der Ukraine und Präsident Putins offensichtlicher Unwille, seine hegemonialen Kriegsziele zu überdenken, haben vielen potenziell verhandlungsbereiten Ländern die Argumente entzogen. Und es hat dazu beigetragen, dass die Unterstützung der Ukraine zum wichtigsten, wenn nicht gar zum einzigen Schwerpunkt der aktuellen EU-Politik geworden ist.