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20 Jahre Rumsfelds „altes Europa“

Jacob Ross ist Research Fellow bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.

Drei Wochen vor der Rede de Villepins 2003 hatte Bundespräsident Johannes Rau anlässlich des 40. Jubiläums des Élysée-Vertrags den französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac in Berlin empfangen. Rau unterstrich dabei den Wert der deutsch-französischen Versöhnung für die europäische Integration: „Unsere Partner wissen, wie wichtig es ist, dass Deutschland und Frankreich gemeinsam vorangehen, damit das europäische Einigungswerk gelingt.“  

Noch einen Tag zuvor hatte sich US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld auf der anderen Seite des Atlantiks ganz anders geäußert. Auf den Widerstand mancher Europäer gegen US-Pläne zur Invasion des Iraks angesprochen, antwortete Rumsfeld vor Journalisten: „Wenn Sie an Europa denken, denken Sie an Deutschland und Frankreich. Ich nicht. Ich denke, das ist das alte Europa. Betrachtet man heute aber Nato-Europa, so verlagert sich das Gleichgewicht nach Osten.“ Die Nato hatte gerade ihre erste Osterweiterung hinter sich, die EU-Ost-Erweiterung stand bevor. Ein neues „Nato-Europa“ war in der Entstehung begriffen, dass sich mit den Beitritten der baltischen und osteuropäischen Mitgliedstaaten seitdem konsolidiert hat.

Frankreichs Verhältnis zur Nato bleibt ambivalent

In Paris sah man die Dinge 2003, wie zuvor und auch danach, naturgemäß anders. Die Staatsraison der Fünften Republik beruht seit 1958 auf dem Anspruch, dass Frankreich eine souveräne Macht bleibt, allem Einflussverlust seit 1945 zum Trotz. Sie speist sich aus dem Selbstverständnis als Sieger zweier Weltkriege, dem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat und seit den 1960er Jahren aus der nuklearen Bewaffnung. Letztere machte für den Übervater der Fünften Republik, Charles de Gaulle, die Nato-Mitgliedschaft zweitrangig. 1966 verließ Frankreich die integrierte Kommandostruktur der Allianz und trat erst 2009 wieder bei. Frankreichs Verhältnis zur Nato bleibt eines, das auf Eigenständigkeit pocht und bis heute Teile ausklammert, etwa die Teilnahme an der Nuclear Planning Group.

Diese Vorgeschichte stand im Raum, als de Villepin am 14. Februar 2003 im UN-Sicherheitsrat seine versammelten Kollegen beschwor, die militärische Option nicht zu überstürzen, der UN-Resolution 1441 vom 8. November 2002 Zeit zu geben und Chefinspektor Hans Blix sowie dem Leiter der Internationalen Atomenergiebehörde, Mohammed al-Baradei, zu vertrauen. Er verteidigte die Resolution gegen Stimmen, die eine Verzögerungstaktik Saddam Husseins hinter der Mission vermuteten, allen voran George W. Bush. Dessen Außenminister, Colin Powell, hatte Anfang Februar Verbindungen zwischen al Qaida und dem irakischen Regime angedeutet.

De Villepin wies das scharf zurück und warnte vor den Konsequenzen einer Invasion: „Vergessen wir nicht, dass nach dem Krieg der Frieden gewonnen werden muss.“ Ein Krieg drohe nicht nur fatale Folgen für die Stabilität der Region zu haben, sondern auch für die internationalen Beziehungen. Schließlich beruhten Autorität und Legitimität des UN-Sicherheitsrates auf der Einigkeit der Mitglieder. Seine Rede „im Tempel der Vereinten Nationen“ schloss de Villepin mit einer Replik auf Rumsfelds Äußerungen zum alten, deutsch-französischen Europa: „Lassen Sie sich das sagen, von einem alten Land, Frankreich, von einem alten Kontinent wie dem meinen, Europa“.

Die vergangenen zwei Jahrzehnte haben de Villepin Recht gegeben

Rund einen Monat später, am 19. März 2003, begann die Irak-Invasion. Die Bush-Regierung ignorierte die Warnungen und handelte ohne UN-Mandat – als Supermacht mit einer Koalition der Willigen.

Für die irakische Bevölkerung, die Stabilität in der Region und die internationalen Beziehungen hatte der Krieg fatale Folgen. Die vergangenen zwei Jahrzehnte haben de Villepin Recht gegeben. Einer der Zuhörer des französischen Außenministers war 2003 Sergej Lawrow, heute russischer Außenminister, damals ständiger Vertreter im Sicherheitsrat. Dass de Villepins Warnungen ungehört verhallten, zeigte Lawrow und den Vertretern vieler anderer Staaten, dass internationales Recht eben doch nicht für alle gleich ist. Diese Lehre wird nun zitiert, wenn westliche Staaten die Verurteilung des russischen Angriffs auf die Ukraine fordern.

Für Frankreich waren die Folgen der Rede und des deutsch-französischen Widerstands gegen die Invasion des Iraks zwiespältig. Das Verhältnis zu den USA nahm massiven Schaden: Gastronomen an der Ostküste boykottierten französische Weine und in den Kantinen auf dem Capitol Hill wurden die „French Fries“ in „Freedom Fries“ umbenannt. Gleichzeitig war Frankreichs Ruf in der arabischen Welt wohl nie so gut wie im Sommer 2003. Für die französische Diplomatie bleibt die Rede de Villepins ein Artefakt der Souveränität, dessen Entstehung in einem preisgekrönten Comic und einem erfolgreichen Kinofilm verewigt wurde.

Und Europa? Bei der europäischen Zusammenarbeit in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik hat sich seit 2003 kaum etwas getan. Die Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags vor kurzem konnten nicht verdecken, dass vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine das „Nato-Europa“ Rumsfelds heute wesentlich klarere Konturen hat als das „souveräne Europa“ Emmanuel Macrons.

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