Dmytro ist 26, Zivilist, Elektriker, von großer Statur, still und sagt wenig; Ruslan, 28, ist Militärpolizist, kleiner als Dmytro, aber durchtrainiert, lächelt und antwortet ausführlich auf Fragen. So unterschiedlich die Männer wirken – sie haben ein gemeinsames Schicksal: Beide verloren das rechte Bein im Krieg Russlands gegen die Ukraine.
„Ich bin von einem Strommast geklettert und auf eine Mine getreten“, erzählt Dmytro.
„Am zehnten Tag des Kriegs ist 15 Meter von mir entfernt eine Fliegerbombe runtergekommen“, erzählt Ruslan.
Die beiden Ukrainer sind Patienten des Prothesen- und Rehabilitationszentrums Superhumans in der westukrainischen Stadt Lwiw. Wie viele Menschen in der Ukraine im Kriege ihre Arme, Hände, Füße oder Beine verloren haben, ist unbekannt. Kiew gibt zu Toten und Verletzten keine Zahlen heraus, auch wenn US-Quellen von etwa 70.000 Gefallenen und bis zu 120.000 Verletzten sprechen.
Der deutsche Prothesenhersteller Ottobock rechnet mit etwa 50.000 Männern, Frauen und Kindern mit Amputationen. Es gibt niedrigere Zahlen, die genannt werden – nämlich 20.000 – aber auch höhere. Selbst wenn man die vorsichtigste Schätzung nimmt, waren es seit Kriegsbeginn mindestens 33 Amputationen täglich. In jedem Fall reichen die Kapazitäten im Land für deren Versorgung nicht aus. „Vor der Vollinvasion hatten wir landesweit drei Prothesenhersteller für Hände und vielleicht 30 für Beine“, erzählt der Chirurg Wolodymyr Fedorow. Er leitet das Prothesen- und Rehabilitationszentrum Unbroken, wo neben der Behandlung auch neue Prothesentechniker ausgebildet werden. Auch dieses Zentrum befindet sich in Lwiw.
Sowohl Superhumans als auch Unbroken nahmen ihre Arbeit im April 2023 auf. Die Zentren sind unterschiedlich organisiert. Superhumans finanziert sich vor allem privat, während Unbroken Teil des öffentlichen Gesundheitssystems ist und zusätzlich Spenden annimmt. Das Geld kommt aus der ganzen Welt sowohl von Unternehmen, öffentlichen Förderern als auch von Privatpersonen.
Beide Kliniken ringen mit ähnlichen Problemen: viele Patientinnen und Patienten, zu wenige Prothesentechniker, Orthopäden, Ärzte, Ergotherapeuten sowie andere Spezialisten wie etwa Trauma-Therapeuten. Und beide Behandlungszentren setzen aus Mangel an heimischen Produkten auf westliche Technik: Össur aus Island; Open Bionics aus Großbritannien, Covvi aus Italien, Ottobock aus Deutschland. Eine vollelektrische Hand kann mehr als 50.000 Euro kosten, ein Bein mehr als 70.000 Euro.
In den meisten Fällen verlieren Betroffene nach Minenexplosionen oder Artilleriebeschuss untere Extremitäten: Füße, Unterschenkel, ganze Beine. Oft müssen mehrere Gliedmaßen amputiert werden.
Der 28-jährige Ruslan geht raschen Schrittes auf die Trainingstreppe zu, steigt hoch und wieder herab. Prothesentechniker Dmitri Konontschuk überwacht auf einem Laptop die Daten, die ihm Ruslans vollelektrisches Bein sendet. Es geht um Belastungen in bestimmten Winkeln, Widerstands- und unterstützende Kraft des künstlichen Beins. Konontschuk gibt in sein Laptop ein paar Werte ein, und Ruslan geht lockerer und gleichmäßiger durch den Raum. Der Zivilist Dmytro beobachtet die schnellen, sicheren Bewegungen des Militärpolizisten Ruslan. Dmytro selbst hat noch ein Provisorium. Seine Verletzung ist erst sechs Monate her, der Stumpf noch nicht bereit für eine dauerhafte Hilfe.
Nach einigen Treppenaufstiegen, kurzen Sprints und Korrekturen auf dem Laptop ist das Bein von Ruslan so eingestellt, wie er es braucht. Er kommt ohne fremde Hilfe und ohne einen Rollstuhl klar – ein großer Vorteil in einem Land, dessen sowjetisch geprägte öffentliche Infrastruktur keine Rücksicht auf Menschen mit Einschränkungen nimmt.
Hätte Ruslan eine lange Hose, würde sein Gang nicht verraten, dass er ein künstliches Bein des deutschen Herstellers Ottobock hat. Das niedersächsische Unternehmen arbeitet mit den Kliniken in Lwiw seit der Vollinvasion zusammen. Für die Ukraine gebe es ein spezielles Rabattprogramm und in Duderstadt würden technische Spezialisten aus der Ukraine ausgebildet, erläutert die Pressesprecherin des Unternehmens, Merle Florstedt. Auch in Russland ist Ottobock nach wie vor präsent – ein Punkt, den mehrere Gesprächspartner in Lwiw kritisieren. Das Unternehmen habe die Zahl der Standorte in Russland von sechs auf drei reduziert und „arbeite nicht mit dem russischen Militär zusammen“, betont die Sprecherin.
Im gesamten Krankenhaus von Superhumans begegnen Patienten mit erst kürzlich erlittenen Verletzungen Betroffenen, deren Genesung schon fortgeschritten ist. „Wir haben Kolleginnen und Kollegen, die selbst Amputationen haben und die sich um Neuankömmlinge kümmern. Diese Kommunikation von gleich zu gleich ist wichtig für die Psyche“, erläutert Pressesprecher Andrij Schick, während er durch die Klinik führt. Aktuell könne Superhumans 50 Patientinnen und Patienten pro Monat versorgen, 1020 weitere warten auf eine Behandlung.
Fünf neue Zentren will Superhumans landesweit errichten. Für das Zentrum in Lwiw waren 15 Millionen US-Dollar an Investitionen nötig, die neuen Standorte würden kleiner ausfallen und benötigten zumindest in der Startphase fünf bis sechs Millionen US-Dollar, erläutert die für Fundraising verantwortliche Kateryna Kovalchuk.
Auch Unbroken baut aus. Die Zahl der Betten in Lwiw soll von aktuell 150 auf dann 250 wachsen. Hinzu kommt die Ausbildung von Prothesentechnikern, in die Unbroken investiert. „Dieses Wissen können wir dann weiter geben, wenn es woanders neue Kriege gibt“, sagt der Chirurg Fedorow nüchtern. Gut wäre auch eine eigene, ukrainische Prothesenfabrik, ergänzt er. „Wir brauchen eigene Unternehmen, dann könnten wir günstiger herstellen. Der Bedarf wird lange bestehen bleiben.“